Ein Roman aus dem Nachlass des großen Roberto Bolaño!
Dieser frühe Roman, in dem man die Figuren aus Bolaños gefeiertem Werk »Die wilden Detektive« wiedererkennen mag, zeigt die Meisterschaft des jungen Autors: seine ungestüme Originalität und den eleganten Bruch mit Erzählkonventionen.
Mexiko-Stadt in den Siebzigern: Die jungen Chilenen Remo Morán und Jan Schrella wohnen in einer schäbigen Mansarde und träumen vom Schreiben. Den bürgerlichen Werten entsagen sie, ihre Zeit ist der magische Moment zwischen Nacht und Tag. Während Remo sich rauschhaft treiben lässt, schreibt Jan unentwegt Briefe an seine Lieblings-Science-Fiction-Autoren, darunter Ursula K. Le Guin, Robert Silverberg und James Tiptree jr., mit der Bitte um Hilfe für sein von FBI und CIA unterdrücktes Lateinamerika.
Bolaños unbekümmertes Übertreten aller Genregrenzen, seine literarische Spielfreude: In »Der Geist der Science-Fiction« ist schon alles angelegt, was aus Bolaño diesen Ausnahmeschriftsteller gemacht hat.
Dieser frühe Roman, in dem man die Figuren aus Bolaños gefeiertem Werk »Die wilden Detektive« wiedererkennen mag, zeigt die Meisterschaft des jungen Autors: seine ungestüme Originalität und den eleganten Bruch mit Erzählkonventionen.
Mexiko-Stadt in den Siebzigern: Die jungen Chilenen Remo Morán und Jan Schrella wohnen in einer schäbigen Mansarde und träumen vom Schreiben. Den bürgerlichen Werten entsagen sie, ihre Zeit ist der magische Moment zwischen Nacht und Tag. Während Remo sich rauschhaft treiben lässt, schreibt Jan unentwegt Briefe an seine Lieblings-Science-Fiction-Autoren, darunter Ursula K. Le Guin, Robert Silverberg und James Tiptree jr., mit der Bitte um Hilfe für sein von FBI und CIA unterdrücktes Lateinamerika.
Bolaños unbekümmertes Übertreten aller Genregrenzen, seine literarische Spielfreude: In »Der Geist der Science-Fiction« ist schon alles angelegt, was aus Bolaño diesen Ausnahmeschriftsteller gemacht hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2018Was treibt Peter Schlemihl in Mexiko?
Wir, die Eiche und von irgendwo ein Lied: Roberto Bolaños herausfordernder Nachlass-Roman "Der Geist der Science-Fiction" ist eine Feier des romantischen Lebens und Schreibens.
Spätestens seit dem 2004 postum veröffentlichten Monumentalroman "2666", der von einer geradezu ergriffenen Kritik als buchgewordene Schwelle zum 21. Jahrhundert beschrieben wurde, ist Roberto Bolaño ein Autor von repräsentativer Geltung. Aber damit nicht genug, die Fans dieses Autors schildern die Lektüre seiner Werke oft in spirituellen Kategorien: Immer wieder fühle sie sich durch diesen "Meister der Sprache" dazu "inspiriert", so berichtet etwa die Sängerin Patti Smith, "neue Landschaften, neue Erfahrungen" zu erkunden. Ein hoher Ton? Das wäre noch untertrieben.
Es ist nicht zuletzt der riesenhafte Nachlass des im Jahr 2003 früh verstorbenen Autors, der für seinen internationalen Ruhm verantwortlich ist. Aus seinen postumen Papieren sind in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Reihe von teils vollendeten, teils fragmentarischen Texten publiziert worden. Das nun von Christian Hansen ins Deutsche gebrachte Buch führt an den Beginn von Bolaños Prosa-Werk; unterschrieben ist "Der Geist der Science-Fiction" mit der Angabe "Blanes 1984". Entscheidend ist dabei weniger der Ort (der Autor lebte in der katalanischen Touristenstadt seit Anfang der achtziger Jahre) als vielmehr die Jahreszahl: Als Prosaautor trat Bolaño, der sich zunächst als reiner Lyriker verstand, erst in den neunziger Jahren hervor. Was es hier zu entdecken gilt, ist also ein frühes Roman-Experiment.
Entsprechend scheint dem Buch eine Art Versuchsanordnung zugrunde zu liegen. Es gibt drei Erzählebenen, von denen zumindest zwei eng aufeinander bezogen sind: Bestimmend für das Gesamte ist die Erzählung zweier junger Dichter namens Remo Morán und Jan Schrella, die in den siebziger Jahren nach Mexiko-Stadt ziehen, um dort ein Leben rauschhafter Lektüren und schäbiger Mansardenwohnungen, scheppernder Motorräder und wilder Liebe zu führen. Im Kontext dieser Erzählung stehen die zahlreichen Briefe, die Jan an nordamerikanische Größen der Science-Fiction-Literatur schreibt. Jeder diese Briefe unterscheidet sich in Ton und Form, ja sie sind ihrerseits literarische Experimente, die jedoch von einem Motiv locker verbunden werden, nämlich der wiederholten Bitte um Unterstützung für das verarmte Lateinamerika.
Auf einer dritten, zeitlich nachgelagerten Ebene ist ein Interview angesiedelt, das ein Schriftsteller (Remo? Jan? Bolaño?) einer Journalistin gibt. Anstatt jedoch über sein "preisgekröntes Werk" zu sprechen, wächst sich das Gespräch aus zu einer surrealen, düsteren Erzählung über die sogenannte "Kartoffelakademie", die kryptisch als "eine der vielen über die Welt verstreuten Fakultäten der Unbekannten Universität" beschrieben wird. In komplexer Überblendung verschiedenster Gegenden und Szenarien (unter anderem: die chilenische Provinz, die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs) entwirft der Befragte eine gänzlich dystopische Welt von imperialer Gewalt, defekter technischer Apparaturen und menschlicher Einsamkeit. Wie das Ganze mit den Erzählebenen eins (die jungen Männer in Mexico City) und zwei (Jans Briefe an die Sci-Fi-Legenden) verkoppelt ist, erschließt sich aber erst bei genauerer Betrachtung.
Die drei Erzählstränge des Romans werden zusammengehalten von der Bestrebung, die prosaische Gegenwart, mit Novalis gesprochen, zu "romantisieren". Dies artikuliert sich zunächst in einem steten Schwanken des Romans zwischen Alltagsrealität und Phantastik. Nehmen wir nur die ersten eineinhalb Seiten des Buches, auf denen sich die ersten Sätze des Interviews finden: Zum einen bleibt in ihnen völlig offen, wo sich der Befragte und die namenlose Journalistin gerade befinden (auf einer Anhöhe, meint sie, von der aus "man die abgelegensten Dörfer und fernsten Sterne" betrachten könne, während er paradoxerweise behauptet, man sei "mitten im Wald", schließlich ließen sich nur "Äste und Zweige sehen"). Darüber hinaus finden sich gleich zu Beginn eine ganze Reihe dunkler Motive, die, so scheint es, auf eine umfassende Transzendierung der Realwelt hinauswollen: Die Rede ist von Frauen, deren "authentisches, unendliches Trinken" ein "Geheimnis" sei, und man beschwört gemeinsam den "phosphoreszierenden Sand".
Aber auch die mexikanische Wohngemeinschaft von Jan und Remo ist durchdrungen von romantischem Geist, genauer, vom Geist romantischer "Geselligkeit". Dabei werden nicht nur die Literatur und das Leben in mal enthusiastischem, mal destruktivem Überschwang gefeiert. Insbesondere spielen hierbei auch Träume, das Reden über sie und ihre Annäherung an die Lebenswirklichkeit, eine wichtige Rolle. Es ist ein ganz und gar entgrenztes Dasein, das die beiden Männer führen und ihnen mitunter die Erfahrung einer Alleinheit von Ich und Welt ermöglicht: "Wir, die Straße . . . das Motorrad, ich selbst, bildeten . . . eine seltsame Einheit; unsere allzu dunklen Schatten verlängerten sich bis zu einer fast unbelaubten, knorrigen Eiche; aus der Ferne tönte zuweilen ein Lied herüber." Wir, die Einheit, die Eiche und das Lied: Der frühe Bolaño klingt in diesen Zeilen fast wie der späte Eichendorff.
Es mag daher vielleicht kein Zufall sein, dass Remo und Jan an einer Stelle explizit auf eine "deutsche Novelle" der Romantik zu sprechen kommen (wie überhaupt häufig Elemente der deutschen Kultur und vor allem Unkultur in diesem Roman auftauchen). Die beiden können sich nur grob an sie erinnern, irgendwie gehe es in ihr um "einen, der seinen Schatten verliert". Was aber lässt sich aus diesem überraschenden Bezug auf Adelbert von Chamissos bekannte Erzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" von 1814 schließen, auf die Bolaño in "2666" übrigens zurückkommen wird?
Mit Peter Schlemihl teilen Remo und Jan zunächst die Einsicht, dass sich ein selbstbestimmtes, wahrhaftiges Leben nur außerhalb der bürgerlichen Lebenswelt verwirklichen lässt. Aber vielleicht lässt sich der Hinweis auf jene "deutsche Novelle" sogar noch weitertreiben. Denn so, wie der Leser des "Peter Schlemihl" am Ende erahnen muss, dass dessen berührende Selbstbefreiungsgeschichte bloß ein Märchen ist (Peter kauft sich von seinem letzten Geld ein Paar Siebenmeilenstiefel), so wird in "Der Geist der Science-Fiction" nahegelegt, dass Jans und Remos emphatisches Leben auf einer weitgehend fiktionalen Welt- und Selbstwahrnehmung beruhen könnte. Dies zeichnet sich nicht nur in ihrem Denken, Sprechen und Träumen ab, die collagenartige Konstrukte aus Zitaten und Anspielungen, Werk- und Autornamen sind. Es zeigt sich auch an der wiederholten Brechung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, so etwa in Bezug auf die (vermeintliche) Großexpansion von Literaturzeitschriften in Mexiko-Stadt, von der sich die jungen Dichter bestärkt und beflügelt fühlen. Bei ihren Nachforschungen wird allerdings rasch ersichtlich, dass die irgendwo gelesene Zahl von 661 Magazinen (naja, zum Teil sind es nur einige zusammengetackerte DIN-A4-Kopien) wohl eher unrealistisch ist. Vielleicht sind es doch nur 32?
Der Roman gerät durch Passagen wie diese in einen merkwürdigen Zustand des Schwebens zwischen rauschhafter Begeisterung und nüchternem Realitätssinn. Gerade darin aber erweist er sich im romantischen Sinne als ironisch; in ihm wird, so lässt sich mit dem Philosophen Manfred Frank formulieren, "alles Positive . . . zugleich gesetzt und von einer nachfolgenden Position auch wieder dementiert bzw. vernichtet". Ein intellektuelles und auch literaturgeschichtliches Vergnügen bietet "Der Geist der Science-Fiction" insofern allemal. Ob das sehr durchdachte, sehr herausfordernde Buch allerdings auch jene enthusiastische Lektüreerfahrung ermöglicht, von der Bolaño-Fans wie Patti Smith berichten, muss allerdings bezweifelt werden: Der Bleistift in der Hand, für die Lektüre dieses Buches unerlässlich, ist ein zuverlässiger Blitzableiter.
KAI SINA
Roberto Bolaño: "Der
Geist der Science-Fiction". Roman.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir, die Eiche und von irgendwo ein Lied: Roberto Bolaños herausfordernder Nachlass-Roman "Der Geist der Science-Fiction" ist eine Feier des romantischen Lebens und Schreibens.
Spätestens seit dem 2004 postum veröffentlichten Monumentalroman "2666", der von einer geradezu ergriffenen Kritik als buchgewordene Schwelle zum 21. Jahrhundert beschrieben wurde, ist Roberto Bolaño ein Autor von repräsentativer Geltung. Aber damit nicht genug, die Fans dieses Autors schildern die Lektüre seiner Werke oft in spirituellen Kategorien: Immer wieder fühle sie sich durch diesen "Meister der Sprache" dazu "inspiriert", so berichtet etwa die Sängerin Patti Smith, "neue Landschaften, neue Erfahrungen" zu erkunden. Ein hoher Ton? Das wäre noch untertrieben.
Es ist nicht zuletzt der riesenhafte Nachlass des im Jahr 2003 früh verstorbenen Autors, der für seinen internationalen Ruhm verantwortlich ist. Aus seinen postumen Papieren sind in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Reihe von teils vollendeten, teils fragmentarischen Texten publiziert worden. Das nun von Christian Hansen ins Deutsche gebrachte Buch führt an den Beginn von Bolaños Prosa-Werk; unterschrieben ist "Der Geist der Science-Fiction" mit der Angabe "Blanes 1984". Entscheidend ist dabei weniger der Ort (der Autor lebte in der katalanischen Touristenstadt seit Anfang der achtziger Jahre) als vielmehr die Jahreszahl: Als Prosaautor trat Bolaño, der sich zunächst als reiner Lyriker verstand, erst in den neunziger Jahren hervor. Was es hier zu entdecken gilt, ist also ein frühes Roman-Experiment.
Entsprechend scheint dem Buch eine Art Versuchsanordnung zugrunde zu liegen. Es gibt drei Erzählebenen, von denen zumindest zwei eng aufeinander bezogen sind: Bestimmend für das Gesamte ist die Erzählung zweier junger Dichter namens Remo Morán und Jan Schrella, die in den siebziger Jahren nach Mexiko-Stadt ziehen, um dort ein Leben rauschhafter Lektüren und schäbiger Mansardenwohnungen, scheppernder Motorräder und wilder Liebe zu führen. Im Kontext dieser Erzählung stehen die zahlreichen Briefe, die Jan an nordamerikanische Größen der Science-Fiction-Literatur schreibt. Jeder diese Briefe unterscheidet sich in Ton und Form, ja sie sind ihrerseits literarische Experimente, die jedoch von einem Motiv locker verbunden werden, nämlich der wiederholten Bitte um Unterstützung für das verarmte Lateinamerika.
Auf einer dritten, zeitlich nachgelagerten Ebene ist ein Interview angesiedelt, das ein Schriftsteller (Remo? Jan? Bolaño?) einer Journalistin gibt. Anstatt jedoch über sein "preisgekröntes Werk" zu sprechen, wächst sich das Gespräch aus zu einer surrealen, düsteren Erzählung über die sogenannte "Kartoffelakademie", die kryptisch als "eine der vielen über die Welt verstreuten Fakultäten der Unbekannten Universität" beschrieben wird. In komplexer Überblendung verschiedenster Gegenden und Szenarien (unter anderem: die chilenische Provinz, die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs) entwirft der Befragte eine gänzlich dystopische Welt von imperialer Gewalt, defekter technischer Apparaturen und menschlicher Einsamkeit. Wie das Ganze mit den Erzählebenen eins (die jungen Männer in Mexico City) und zwei (Jans Briefe an die Sci-Fi-Legenden) verkoppelt ist, erschließt sich aber erst bei genauerer Betrachtung.
Die drei Erzählstränge des Romans werden zusammengehalten von der Bestrebung, die prosaische Gegenwart, mit Novalis gesprochen, zu "romantisieren". Dies artikuliert sich zunächst in einem steten Schwanken des Romans zwischen Alltagsrealität und Phantastik. Nehmen wir nur die ersten eineinhalb Seiten des Buches, auf denen sich die ersten Sätze des Interviews finden: Zum einen bleibt in ihnen völlig offen, wo sich der Befragte und die namenlose Journalistin gerade befinden (auf einer Anhöhe, meint sie, von der aus "man die abgelegensten Dörfer und fernsten Sterne" betrachten könne, während er paradoxerweise behauptet, man sei "mitten im Wald", schließlich ließen sich nur "Äste und Zweige sehen"). Darüber hinaus finden sich gleich zu Beginn eine ganze Reihe dunkler Motive, die, so scheint es, auf eine umfassende Transzendierung der Realwelt hinauswollen: Die Rede ist von Frauen, deren "authentisches, unendliches Trinken" ein "Geheimnis" sei, und man beschwört gemeinsam den "phosphoreszierenden Sand".
Aber auch die mexikanische Wohngemeinschaft von Jan und Remo ist durchdrungen von romantischem Geist, genauer, vom Geist romantischer "Geselligkeit". Dabei werden nicht nur die Literatur und das Leben in mal enthusiastischem, mal destruktivem Überschwang gefeiert. Insbesondere spielen hierbei auch Träume, das Reden über sie und ihre Annäherung an die Lebenswirklichkeit, eine wichtige Rolle. Es ist ein ganz und gar entgrenztes Dasein, das die beiden Männer führen und ihnen mitunter die Erfahrung einer Alleinheit von Ich und Welt ermöglicht: "Wir, die Straße . . . das Motorrad, ich selbst, bildeten . . . eine seltsame Einheit; unsere allzu dunklen Schatten verlängerten sich bis zu einer fast unbelaubten, knorrigen Eiche; aus der Ferne tönte zuweilen ein Lied herüber." Wir, die Einheit, die Eiche und das Lied: Der frühe Bolaño klingt in diesen Zeilen fast wie der späte Eichendorff.
Es mag daher vielleicht kein Zufall sein, dass Remo und Jan an einer Stelle explizit auf eine "deutsche Novelle" der Romantik zu sprechen kommen (wie überhaupt häufig Elemente der deutschen Kultur und vor allem Unkultur in diesem Roman auftauchen). Die beiden können sich nur grob an sie erinnern, irgendwie gehe es in ihr um "einen, der seinen Schatten verliert". Was aber lässt sich aus diesem überraschenden Bezug auf Adelbert von Chamissos bekannte Erzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" von 1814 schließen, auf die Bolaño in "2666" übrigens zurückkommen wird?
Mit Peter Schlemihl teilen Remo und Jan zunächst die Einsicht, dass sich ein selbstbestimmtes, wahrhaftiges Leben nur außerhalb der bürgerlichen Lebenswelt verwirklichen lässt. Aber vielleicht lässt sich der Hinweis auf jene "deutsche Novelle" sogar noch weitertreiben. Denn so, wie der Leser des "Peter Schlemihl" am Ende erahnen muss, dass dessen berührende Selbstbefreiungsgeschichte bloß ein Märchen ist (Peter kauft sich von seinem letzten Geld ein Paar Siebenmeilenstiefel), so wird in "Der Geist der Science-Fiction" nahegelegt, dass Jans und Remos emphatisches Leben auf einer weitgehend fiktionalen Welt- und Selbstwahrnehmung beruhen könnte. Dies zeichnet sich nicht nur in ihrem Denken, Sprechen und Träumen ab, die collagenartige Konstrukte aus Zitaten und Anspielungen, Werk- und Autornamen sind. Es zeigt sich auch an der wiederholten Brechung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, so etwa in Bezug auf die (vermeintliche) Großexpansion von Literaturzeitschriften in Mexiko-Stadt, von der sich die jungen Dichter bestärkt und beflügelt fühlen. Bei ihren Nachforschungen wird allerdings rasch ersichtlich, dass die irgendwo gelesene Zahl von 661 Magazinen (naja, zum Teil sind es nur einige zusammengetackerte DIN-A4-Kopien) wohl eher unrealistisch ist. Vielleicht sind es doch nur 32?
Der Roman gerät durch Passagen wie diese in einen merkwürdigen Zustand des Schwebens zwischen rauschhafter Begeisterung und nüchternem Realitätssinn. Gerade darin aber erweist er sich im romantischen Sinne als ironisch; in ihm wird, so lässt sich mit dem Philosophen Manfred Frank formulieren, "alles Positive . . . zugleich gesetzt und von einer nachfolgenden Position auch wieder dementiert bzw. vernichtet". Ein intellektuelles und auch literaturgeschichtliches Vergnügen bietet "Der Geist der Science-Fiction" insofern allemal. Ob das sehr durchdachte, sehr herausfordernde Buch allerdings auch jene enthusiastische Lektüreerfahrung ermöglicht, von der Bolaño-Fans wie Patti Smith berichten, muss allerdings bezweifelt werden: Der Bleistift in der Hand, für die Lektüre dieses Buches unerlässlich, ist ein zuverlässiger Blitzableiter.
KAI SINA
Roberto Bolaño: "Der
Geist der Science-Fiction". Roman.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Bücher
aufessen
Neuer Fund im Nachlass
von Roberto Bolaño:
„Der Geist der Science-Fiction“
VON NICOLAS FREUND
Eine der vielen Geschichten um seine Person, die Roberto Bolaño in den Jahren vor seinem Tod in Umlauf brachte, handelt von den endlosen Diskussionen, die er mit dem argentinischen Schriftsteller und Übersetzer Rodrigo Fresán „in den Bars und Restaurants von Barcelona“ über den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick führte. In diesen Sitzungen kamen die beiden zu verschiedenen Schlüssen über den von ihnen sehr geschätzten amerikanischen Schriftsteller. Etwa Dick sei „so etwas wie ein mit Lysergsäure und Wut versetzter Kafka“ und manche seiner Erzählexperimente seien brillanter als Vergleichbares „aus der Feder Pynchons oder DeLillos“. Dass einer seiner Romane erst 26 Jahre nach dem Entstehen veröffentlicht wurde, mache deutlich, „was die nordamerikanische Verlagsindustrie von ihm hielt“.
Unklar ist, ob sich dahinter auch eine Spitze gegen Bolaños eigene Verleger verbarg, denn sein unveröffentlichtes Werk war zu Lebzeiten beträchtlich. Mehr als 15 Jahre nach seinem Tod erscheinen fast im Jahrestakt Bücher aus dem Nachlass, die zuvor keinen Verlag gefunden hatten. Das Neueste aus Bolaños Zettelkasten ist der Roman „Der Geist der Science-Fiction“, der nicht nur ein Schlaglicht auf das weitgehend unerforschte Verhältnis des Autors zu Philip K. Dick wirft, sondern, obwohl schon 1984 entstanden, bereits vieles im Keim enthält und probiert, was Bolaño erst Jahre später ausformulierte.
So tauchen einzelne der durchgeknallten Schriftsteller aus „Die Naziliteratur in Amerika“, dem ersten Buch von Bolaño, das auf Deutsch erschien, hier schon auf. Das Kriegsbrettspiel aus dem Roman „Das dritte Reich“, der einige Jahre später entstand, wird schon ausführlich beschrieben. Wie die in der spanischen Ausgabe abgebildeten Notizen zu „2666“ verraten, plante Bolaño später auch für sein Hauptwerk eine abschließende oder die einzelnen Teile verbindende Science-Fiction-Geschichte. Als Untertitel war, auf Englisch, „A non science fiction novel“ vorgesehen und in einer der Skizzen hält eine sternförmige Zeichnung die sieben, damals geplanten Teile zusammen. Und auch der Autor Robert Silverberg kommt in „Der Geist der Science-Fiction“ vor, aus dessen Roman „Bruderschaft der Unsterblichen“ Bolaño das Motiv einer Gruppe von Studenten entnahm, die in wechselnder Erzählperspektive von ihren Abenteuern im amerikanisch-mexikanischen Grenzland erzählen. Wie das Verhältnis zu Philip K. Dick ist Bolaños Verhältnis zur Science Fiction noch weitgehend unerforscht.
„Der Geist der Science-Fiction“ spielt, wie „Die wilden Detektive“, mit dem Bolaño 1998 der späte Durchbruch als Schriftsteller gelang, in den siebziger Jahren in Mexiko Stadt, nur Mexiko DF genannt. „Jan Schrella alias Roberto Bolaño“ ist Anfang zwanzig und teilt sich eine heruntergekommene Dachgeschoßwohnung mit seinem Kumpel Remo Morán, sowie einer ständig wechselnden Besetzung anderer Freunde und flüchtiger Bekanntschaften.
Fast alle Texte Bolaños greifen als Varianten ihrer selbst auf vielfältige Weise ineinander und ihr gemeinsamer Kern ist immer die Biografie des Autors, der als junger Dichter und Herausforderer des etablierten lateinamerikanischen Literaturbetriebs in Mexiko DF lebte, dort die Bewegung des Infrarealismus gründete, diesen dann aber mit nur einer Handvoll Texten nicht wirklich ausarbeitete und stattdessen enge und manchmal abenteuerliche Freundschaften zu vielen Frauen und anderen Dichtern pflegte. Bekannt ist über diese Zeit fast nur das, was Bolaño selbst in seinen Romanen beschrieben hat.
Sein Jan Schrella verbringt jedenfalls die Tage damit, Bücher zu klauen und stapelweise Science-Fiction-Romane zu lesen, planlos durch die Stadt und über die Avenida de los Insurgentes, den großen Boulevard in Mexiko DF, zu stromern und bei jeder Gelegenheit mit Gleichgesinnten den Ernst der Literatur zu diskutieren. „Während er in der Küche nach Gin und einer Anderthalbliterflasche Coca-Cola suchte, ermahnte er uns polternd, wir sollten gefälligst unsere Gedichte herausholen.“
Lesen und Schreiben sind bei Bolaño immer ganz selbstverständlich die einzig sinnvollen Lebensinhalte. Undenkbar, dass seine Figuren etwas anderes tun, als sich in das obskurste literarische Wissen einzuarbeiten, solches selbst zu erschaffen oder einem von ihnen verehrten Schriftsteller hinterherzujagen. Einmal baut Jan Schrella aus seinen Science-Fiction-Bücher eine Art Sofa, traut sich aber nicht, es zu benutzen. Die Romankonstruktion erscheint ihm dann doch zu gewagt.
„Der Geist der Science-Fiction“ besteht aus Fragmenten, die von den Herausgebern aus Notizen Bolaños zusammengesucht wurden und von denen einige im Anhang des Buches abgebildet sind. Die erzählerischen Kapitel um Jan Schrella, die in der deutschen Ausgabe im Inhaltsverzeichnis „Detektive“ genannt wurden, stehen neben einem erfundenen Autoreninterview und einer Reihe von Fanbriefen Jans an real existierende nordamerikanische Science-Fiction-Autoren wie Ursula K. Le Guin, in denen er sie auffordert, lateinamerikanische Schriftsteller zu unterstützen, ihnen seine Wohnung beschreibt oder mitteilt, dass er übrigens keine Jungfrau mehr sei: „Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Der 1982 verstorbene Philip K. Dick ist in diesem Buch eine interessante Leerstelle, der Geist der Science-Fiction, wenn man so will. „Könnte ich doch nur mit den Toten kommunizieren, ich würde Philip K. Dick schreiben“.
„Der Geist der Science-Fiction“ stellt aber auch die Frage nach den Grenzen zwischen Wirklichkeit und literarischer Fiktion, die zu verwischen sich Bolaño gerade zur Lebensaufgabe gemacht hat. Jan baut später das Büchersofa zu einem Tisch um. Seine Freundin Angélica hält von solchem Unfug gar nichts: „‚Bücher gehören in ein Regal, hübsch geordnet, um jederzeit gelesen oder zu Rate gezogen zu werden. So kannst du Bücher nicht behandeln, wie Bauklötze oder Backsteine!‘ Jan hatte eingewandt, dass das Kauen von Buchseiten vielen Bewohnern belagerter Städte über den Hunger hinweggeholfen habe: In Sebastopol habe ein junger, angehender Schriftsteller 1942 einen beträchtlichen Teil von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der französischen Originalfassung verschlungen. Die Science-Fiction-Literatur, glaubte Jan, eigne sich wie keine andere für aleatorische Regalbauten wie zum Beispiel den Regaltisch, ohne dass dadurch der Inhalt der Seiten, die Handlung, herabgemindert würden. Angélica zufolge war das eine Dummheit und obendrein unpraktisch, sehr unpraktisch. Tische waren dazu da, um darauf zu essen, sie zu bekleckern, bei Wutanfällen Messer in die Oberfläche zu rammen.“
Literatur ist immer selbstreflexiv, zur Welt steht sie oft so schief, wie Jans Bücherbauten. Die Bezugspunkte, das Koordinatensystem des Schreibens, sind meist andere Texte. Der Schrank oder das Regal verleiht nicht die Ordnung, der Text selbst ordnet. Das gilt in ganz besonderem Maß für Roberto Bolaños Bücher und „Der Geist der Science-Fiction“ ist ein besonderes Buch in der Reihe, weil sich in ihm dieses Bezugssystem zu vergangenen und zukünftigen, fremden und eigenen Texten offener zeigt, als in seinen anderen Werken. Roberto Bolaño zu lesen, ist wie eine Welt zu entdecken, die sich wirklicher als die Wirklichkeit durch die Literatur zeigt und die selbst den randständigsten Sci-Fi-Autoren eine geheimnisvolle Bedeutsamkeit zuweist, die es zu entschlüsseln gilt.
Roberto Bolaño: Der Geist der Science-Fiction. Roman. A. d. Spanischen v. Christian Hansen. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018. 256 Seiten, 22 Euro.
Jan baut aus seinen
Science-Fiction-Büchern
ein Sofa und traut sich
nicht, darauf zu sitzen. Also
baut er es zum Tisch um
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aufessen
Neuer Fund im Nachlass
von Roberto Bolaño:
„Der Geist der Science-Fiction“
VON NICOLAS FREUND
Eine der vielen Geschichten um seine Person, die Roberto Bolaño in den Jahren vor seinem Tod in Umlauf brachte, handelt von den endlosen Diskussionen, die er mit dem argentinischen Schriftsteller und Übersetzer Rodrigo Fresán „in den Bars und Restaurants von Barcelona“ über den Science-Fiction-Autor Philip K. Dick führte. In diesen Sitzungen kamen die beiden zu verschiedenen Schlüssen über den von ihnen sehr geschätzten amerikanischen Schriftsteller. Etwa Dick sei „so etwas wie ein mit Lysergsäure und Wut versetzter Kafka“ und manche seiner Erzählexperimente seien brillanter als Vergleichbares „aus der Feder Pynchons oder DeLillos“. Dass einer seiner Romane erst 26 Jahre nach dem Entstehen veröffentlicht wurde, mache deutlich, „was die nordamerikanische Verlagsindustrie von ihm hielt“.
Unklar ist, ob sich dahinter auch eine Spitze gegen Bolaños eigene Verleger verbarg, denn sein unveröffentlichtes Werk war zu Lebzeiten beträchtlich. Mehr als 15 Jahre nach seinem Tod erscheinen fast im Jahrestakt Bücher aus dem Nachlass, die zuvor keinen Verlag gefunden hatten. Das Neueste aus Bolaños Zettelkasten ist der Roman „Der Geist der Science-Fiction“, der nicht nur ein Schlaglicht auf das weitgehend unerforschte Verhältnis des Autors zu Philip K. Dick wirft, sondern, obwohl schon 1984 entstanden, bereits vieles im Keim enthält und probiert, was Bolaño erst Jahre später ausformulierte.
So tauchen einzelne der durchgeknallten Schriftsteller aus „Die Naziliteratur in Amerika“, dem ersten Buch von Bolaño, das auf Deutsch erschien, hier schon auf. Das Kriegsbrettspiel aus dem Roman „Das dritte Reich“, der einige Jahre später entstand, wird schon ausführlich beschrieben. Wie die in der spanischen Ausgabe abgebildeten Notizen zu „2666“ verraten, plante Bolaño später auch für sein Hauptwerk eine abschließende oder die einzelnen Teile verbindende Science-Fiction-Geschichte. Als Untertitel war, auf Englisch, „A non science fiction novel“ vorgesehen und in einer der Skizzen hält eine sternförmige Zeichnung die sieben, damals geplanten Teile zusammen. Und auch der Autor Robert Silverberg kommt in „Der Geist der Science-Fiction“ vor, aus dessen Roman „Bruderschaft der Unsterblichen“ Bolaño das Motiv einer Gruppe von Studenten entnahm, die in wechselnder Erzählperspektive von ihren Abenteuern im amerikanisch-mexikanischen Grenzland erzählen. Wie das Verhältnis zu Philip K. Dick ist Bolaños Verhältnis zur Science Fiction noch weitgehend unerforscht.
„Der Geist der Science-Fiction“ spielt, wie „Die wilden Detektive“, mit dem Bolaño 1998 der späte Durchbruch als Schriftsteller gelang, in den siebziger Jahren in Mexiko Stadt, nur Mexiko DF genannt. „Jan Schrella alias Roberto Bolaño“ ist Anfang zwanzig und teilt sich eine heruntergekommene Dachgeschoßwohnung mit seinem Kumpel Remo Morán, sowie einer ständig wechselnden Besetzung anderer Freunde und flüchtiger Bekanntschaften.
Fast alle Texte Bolaños greifen als Varianten ihrer selbst auf vielfältige Weise ineinander und ihr gemeinsamer Kern ist immer die Biografie des Autors, der als junger Dichter und Herausforderer des etablierten lateinamerikanischen Literaturbetriebs in Mexiko DF lebte, dort die Bewegung des Infrarealismus gründete, diesen dann aber mit nur einer Handvoll Texten nicht wirklich ausarbeitete und stattdessen enge und manchmal abenteuerliche Freundschaften zu vielen Frauen und anderen Dichtern pflegte. Bekannt ist über diese Zeit fast nur das, was Bolaño selbst in seinen Romanen beschrieben hat.
Sein Jan Schrella verbringt jedenfalls die Tage damit, Bücher zu klauen und stapelweise Science-Fiction-Romane zu lesen, planlos durch die Stadt und über die Avenida de los Insurgentes, den großen Boulevard in Mexiko DF, zu stromern und bei jeder Gelegenheit mit Gleichgesinnten den Ernst der Literatur zu diskutieren. „Während er in der Küche nach Gin und einer Anderthalbliterflasche Coca-Cola suchte, ermahnte er uns polternd, wir sollten gefälligst unsere Gedichte herausholen.“
Lesen und Schreiben sind bei Bolaño immer ganz selbstverständlich die einzig sinnvollen Lebensinhalte. Undenkbar, dass seine Figuren etwas anderes tun, als sich in das obskurste literarische Wissen einzuarbeiten, solches selbst zu erschaffen oder einem von ihnen verehrten Schriftsteller hinterherzujagen. Einmal baut Jan Schrella aus seinen Science-Fiction-Bücher eine Art Sofa, traut sich aber nicht, es zu benutzen. Die Romankonstruktion erscheint ihm dann doch zu gewagt.
„Der Geist der Science-Fiction“ besteht aus Fragmenten, die von den Herausgebern aus Notizen Bolaños zusammengesucht wurden und von denen einige im Anhang des Buches abgebildet sind. Die erzählerischen Kapitel um Jan Schrella, die in der deutschen Ausgabe im Inhaltsverzeichnis „Detektive“ genannt wurden, stehen neben einem erfundenen Autoreninterview und einer Reihe von Fanbriefen Jans an real existierende nordamerikanische Science-Fiction-Autoren wie Ursula K. Le Guin, in denen er sie auffordert, lateinamerikanische Schriftsteller zu unterstützen, ihnen seine Wohnung beschreibt oder mitteilt, dass er übrigens keine Jungfrau mehr sei: „Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Der 1982 verstorbene Philip K. Dick ist in diesem Buch eine interessante Leerstelle, der Geist der Science-Fiction, wenn man so will. „Könnte ich doch nur mit den Toten kommunizieren, ich würde Philip K. Dick schreiben“.
„Der Geist der Science-Fiction“ stellt aber auch die Frage nach den Grenzen zwischen Wirklichkeit und literarischer Fiktion, die zu verwischen sich Bolaño gerade zur Lebensaufgabe gemacht hat. Jan baut später das Büchersofa zu einem Tisch um. Seine Freundin Angélica hält von solchem Unfug gar nichts: „‚Bücher gehören in ein Regal, hübsch geordnet, um jederzeit gelesen oder zu Rate gezogen zu werden. So kannst du Bücher nicht behandeln, wie Bauklötze oder Backsteine!‘ Jan hatte eingewandt, dass das Kauen von Buchseiten vielen Bewohnern belagerter Städte über den Hunger hinweggeholfen habe: In Sebastopol habe ein junger, angehender Schriftsteller 1942 einen beträchtlichen Teil von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in der französischen Originalfassung verschlungen. Die Science-Fiction-Literatur, glaubte Jan, eigne sich wie keine andere für aleatorische Regalbauten wie zum Beispiel den Regaltisch, ohne dass dadurch der Inhalt der Seiten, die Handlung, herabgemindert würden. Angélica zufolge war das eine Dummheit und obendrein unpraktisch, sehr unpraktisch. Tische waren dazu da, um darauf zu essen, sie zu bekleckern, bei Wutanfällen Messer in die Oberfläche zu rammen.“
Literatur ist immer selbstreflexiv, zur Welt steht sie oft so schief, wie Jans Bücherbauten. Die Bezugspunkte, das Koordinatensystem des Schreibens, sind meist andere Texte. Der Schrank oder das Regal verleiht nicht die Ordnung, der Text selbst ordnet. Das gilt in ganz besonderem Maß für Roberto Bolaños Bücher und „Der Geist der Science-Fiction“ ist ein besonderes Buch in der Reihe, weil sich in ihm dieses Bezugssystem zu vergangenen und zukünftigen, fremden und eigenen Texten offener zeigt, als in seinen anderen Werken. Roberto Bolaño zu lesen, ist wie eine Welt zu entdecken, die sich wirklicher als die Wirklichkeit durch die Literatur zeigt und die selbst den randständigsten Sci-Fi-Autoren eine geheimnisvolle Bedeutsamkeit zuweist, die es zu entschlüsseln gilt.
Roberto Bolaño: Der Geist der Science-Fiction. Roman. A. d. Spanischen v. Christian Hansen. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018. 256 Seiten, 22 Euro.
Jan baut aus seinen
Science-Fiction-Büchern
ein Sofa und traut sich
nicht, darauf zu sitzen. Also
baut er es zum Tisch um
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Interessanterweise schreibt er auch hier über die schweren Themen, aber er wirkt dabei noch nicht existentiell betroffen, eher übermütig, mit viel jugendlichem Schwung und Ironie. Sabine Neubert Neues Deutschland 20190117