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Welchen Einfluss hat "1968" auf Literatur und Medien - und umgekehrt? Hat sich seither das Institutionengefüge der Wissensvermittlung nachhaltig verändert, und ist die Parole des Pariser Mai "Die Phantasie an die Macht" vielleicht anders erfüllt worden, als ihre Urheber es wollten? Diesen und weiteren Fragen geht eine Gruppe von Literaturwissenschaftlern am Berliner Zentrum für Literaturforschung mit Beiträgen von Vertretern mehrerer geisteswissenschaftlicher Disziplinen nach. Sie unterbreitet selbst einen Vorschlag zur historischen Verortung der nach wie vor umstrittenen Geschichtszahl.…mehr

Produktbeschreibung
Welchen Einfluss hat "1968" auf Literatur und Medien - und umgekehrt? Hat sich seither das Institutionengefüge der Wissensvermittlung nachhaltig verändert, und ist die Parole des Pariser Mai "Die Phantasie an die Macht" vielleicht anders erfüllt worden, als ihre Urheber es wollten? Diesen und weiteren Fragen geht eine Gruppe von Literaturwissenschaftlern am Berliner Zentrum für Literaturforschung mit Beiträgen von Vertretern mehrerer geisteswissenschaftlicher Disziplinen nach. Sie unterbreitet selbst einen Vorschlag zur historischen Verortung der nach wie vor umstrittenen Geschichtszahl.

Die Herausgeber stellen mit diesem Band die Frage, ob '1968' - einer Jahreszahl, die allgemein mit politisch und soziokulturell folgenreichen Ereignissen assoziiert wird - der Wert einer wissenschaftsgeschichtlichen Zäsur zukommt. Sie arbeiten dabei mit einem Literatur- und Wissenschaftsbegriff, der drei Zugangswege eröffnet: einen theoriegeschichtlichen, einen institutions- und einen medienhistorischen. Die vergleichende Perspektive wird erweitert durch Beiträge zur Mentalitäts- und Kulturgeschichte sowie zum literarischen Leben und zur Generationssoziologie der Achtundsechziger. Diese Ansätze zusammengenommen, kommen die Autoren zu einer Bewertung von '1968' als Geschichtszeichen, das weniger ereignis- als strukturgeschichtlich zu bewerten ist. Auch die Vorgänge im Osten können so in den Blick genommen werden, ohne in die Gefahr bloßer Analogisierung zu geraten.
Autorenporträt
Petra Boden, geboren 1954, erforscht am Deutschen Literaturarchiv Marbach im Rahmen eines DFG-Projekts die Geschichte der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2001

Im Reich der Misanthropen
Leiden in Literatur und Leben: Der Roman „Unruhe” des Norwegers Finn Skårderud
Wenn sich das Subjektivste des Menschen in den Künsten, auf der Couch, manchmal auch vor Gericht oder im Bordell artikuliert, so erfährt der Psychotherapeut von Grenzproblemen, die Menschen umtreiben, welche aus den Rastern der Statistik in der Regel herausfallen. Der Trip des norwegischen Arztes Finn Skårderud in das Selbst des Zeitgenossen führt geografisch unter anderem über Wien, Lissabon, Los Angeles, Prag und Hongkong. In seinem Buch lässt der Autor Fallgeschichten auf Reiseimpressionen folgen, die von Literaturstudien abgelöst werden – und vice versa. Was die „symptomatische Lektüre literarischer Texte” betrifft, so ergänzt Skårderud diese meist durch eine Reise zwecks Studiums des genius loci, gleich anderen Literatur-Touristen. Schon der Titel seiner Reflexionen ist inspiriert von Fernando Pessoa, dessen Buch der Unruhe.
Rastlosigkeit, Unzufriedenheit als Signal der Epoche? „Der einzig stabile Zustand ist der Zustand der Instabilität”, heißt es apodiktisch. Wir wissen das seit Heraklit, aber der Autor fügt hinzu: „Unruhe ist die verrückte Rede der Liebe. ” Wenn Skårderud die Strategien schildert – seien es die seiner Klientel, seien es jene bestimmter Künstler –, das innere Territorium der Psyche unter Kontrolle zu halten, steckt er das Ziel seiner Phänomenologie ab: Sie möchte ganz allgemein die „Schwierigkeiten, sich zu verhalten”, beschreiben und deuten. Der auf Ess-Störungen spezialisierte Analytiker vertritt die Ansicht, dass sich die Symptome seiner Patienten – Selbstverletzungen, Anorexie, Bulimie, Drogenmissbrauch – als Folgen eines korrodierten, fragilen Selbstwertgefühls übersetzen lassen. Antithetisch zu Christopher Laschs zwanzig Jahre alter Polemik („Das Zeitalter des Narzissmus”) strengt der Autor eine Neudefinition des Narzissmus an. Selbstgenügsamkeit, diese „neue Dementia” (Julia Kristeva), sei lediglich eine Maske, hinter der sich Liebeshunger verberge: „Die narzisstische Person versucht mit aller Macht, geliebt zu werden, aber es gelingt ihr nicht, denn sie ist nicht in der Lage, sich selbst wie einen anderen Menschen zu lieben. ”
Wenn Skårderuds eigentliches Thema das Problem der Scham zu sein scheint, so nur als eine Facette des Narzissmus. „Scham ist ein lebensfeindliches Gefühl, und sie ist schwer zu teilen. Das Leiden wird depressiv bestätigt, indem derjenige, der zeigt, dass er niemanden braucht, sich so verhält, dass die anderen gehen. ”
Am Beispiel von Strindberg, Stig Dagermann (der Suizid beging) und Finn Alnæs werden Schaffenskrisen von Schriftstellern exploriert. Es leuchtet ein, dass grandiose Ansprüche an sich selbst letztendlich lähmen können – weniger nachvollziehbar ist, dass Größe zwangsläufig mit der „Wut” einhergehen soll, „seine Selbstverachtung und sein unerfülltes Begehren kompensieren zu müssen”. Um seine Argumentation zu untermauern, pickt sich der Autor Franz Kafka („es gibt eine Kunst, die aus Kränkung entspringt”), Thomas Bernhard, Fernando Pessoa und Alberto Giacometti heraus: In bester psycho-pathografischer Tradition wird Bernhard „narzisstische Wut” nebst „manischer Misanthropie” attestiert. Bernhards „literarische Methode ist Überlebenskunst, um der Melancholie zu entkommen”.
Ausflug in die Piercing-Szene
Da der Mediziner, wie er selbst eingesteht, von der Vita des Österreichers so gut wie nichts weiß, greift die Exegese zu kurz. Literarisches Schreiben reduzierte sich andernfalls auf einen Allmachtsrausch, wäre in dieser Perspektive Symptom und Selbstheilungsversuch in einem. Nach Skårderud verdankt sich auch Pessoas Buch der Unruhe”, das er immerhin als eines der subjektivsten Werke der modernen Literatur qualifiziert, einer „depressiven narzisstischen Kränkung”. Die exzessive „Selbstbezogenheit” seiner Notate schließe den Leser aus. Nomen est omen: Die Übersetzung des Eigennamens Pessoa lautet Person, das lateinische persona verweist auf die Maske des Schauspielers, kein Wunder also, wenn der Dichter, der es auf 30 Heteronyme brachte, auf Fotos wie der exemplarische „Mann ohne Eigenschaften” wirkt! Folglich sei der „geistige Ursprung” von Pessoas Heteronymie in einer „angeborenen, beständigen Neigung zur Entpersönlichung und Verstellung” zu suchen.
Dass derartige Reduktionen etwas zur Kreativitätstheorie beitragen, wage ich stark zu bezweifeln. Vor allem werden sie dem Spezifischen des jeweiligen Werkes in keiner Weise gerecht. Kunst ist mehr als ein „Antidepressivum”. Es mag ja zutreffen, dass dem scheuen Pessoa, der sich bis zum Eigennamen durchstrich, keine Objektbeziehung glückte – allein die Lektüre seiner „Liebesbriefe” kostet Überwindung –, diese Einsicht aber stellt keinen Universalschlüssel zum Verständnis des Œuvres dar. Steht Kafkas Hungerkünstler für die Auslotung des modernen Menschen in seiner unsicheren Identität, so materialisiert sich in Giacomettis Plastiken die „moderne Melancholie”, Verlust erleben.
Es fällt auf, dass der Autor ausnahmslos Kreative zitiert, die ein problematisches Verhältnis zur Frau hatten (die Liste ließe sich um Beckett, Artaud und andere erweitern), so als sei ihre Aufgabe, das Werk, unvereinbar gewesen mit dem, was Beziehung genannt wird. Doch der glückliche Asketismus Giacomettis, der keineswegs Enthaltsamkeit implizierte, hat metaphysische Gründe.
Anlässlich einer Kongressreise betreibt Skårderud Feldforschung in der New Yorker Piercing- und Tattoo-Szene. Er fragt sich, was diese ,modernen Primitiven‘ mit seinen Klientinnen gemeinsam haben, die sich zwanghaft Verletzungen zufügen und um Hilfe in seiner Praxis nachsuchen. „Das Blut ist wie eine Decke”, zitiert er eine Patientin, „dann brauche ich niemanden. ” Parallel zu diesen mit Scham besetzten kathartischen Praktiken gibt es die Faszination der Angstlust, jene „Übungen im Grenzbereich”, zum Beispiel in den Extremsportarten. Haben nicht Huizinga, Caillois, Bataille stringente Interpretationen für unser Hier und Jetzt vorgelegt? Gefährlich leben, das Leben aufs Spiel setzen: Zu Parolen verkürzt, könnte man das Gemeinte mit dem bemühten Hedonismus riskanten Freizeitverhaltens verwechseln. Heute ist das Versprechen intensiver Erfahrungen zur PR-Strategie der Urlaubsindustrie geworden.
Sympathisch macht das durchaus lesbare Buch die Empathie, die in den Fallgeschichten durchschimmert. Seine rhapsodische Komposition erinnert insbesondere an Kristevas Geschichten von der Liebe”. Und um Joyce McDougall zu zitieren, würde ich auch dieses Buch ein vielschichtiges „Plädoyer für eine gewisse Anormalität” nennen.
BERND MATTHEUS
FINN SKÅRDERUD: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt 2000. 437 Seiten, 39 Mark.
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