Eine der heute wenig beachteten und sogar in Vergessenheit geratenen Quellen zum Nachdenken über die nationalsozialistische Diktatur von 1933 bis 1945 und den Widerstand sind die Reden, die seit 1952 in der Bundesrepublik in Erinnerung an das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 gehalten worden sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2014Nachdenken zum Gedenken
38 Reden zum 20. Juli 1944
Als der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker am dreißigsten Jahrestag des Stauffenberg-Attentats über "Das Phänomen Hitler und der Widerstand" sprach, mahnte er im Ehrenhof des Berliner Bendlerblocks: "Das Wort ,Gedenken' ist oft ein Ausdruck der Verlegenheit, wo wir nicht denken." Vom Gegenteil will jetzt der rührige Rüdiger von Voss überzeugen, indem er das Nachdenken über die Zeit und die Gegner des Nationalsozialismus in 38 Reden dokumentiert, die Schriftsteller und Wissenschaftler seit 1954 hielten: Sie beschwören demnach Geist und Vermächtnis des deutschen und europäischen Widerstandes und geben "Auskunft über den geistigen wie politischen Zustand unserer Zeit".
Die höchst lesenswerte Auswahl aus über 500 Ansprachen des Archivs der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand" besticht durch originelle, hin und wieder von persönlicher Betroffenheit zeugende Sichtweisen, wenn auch die mangelnde Vertrautheit einiger Redner mit den Fakten überrascht. So war beispielsweise der emigrierte Agrarwissenschaftler Karl Brandt in seiner Rede in San Francisco 1954 bei der Schilderung des personellen Zuschnitts der September-Verschwörung von 1938 der Schönfärberei aus Nachkriegsprozessen aufgesessen. Und bei der Aufzählung der Anläufe zur Beseitigung Hitlers geriet er ins Fabulieren: "Im Dezember 1943 gelang es Graf Stauffenberg, eine Bombe durch die Wachen in Hitlers Hauptquartier zu befördern, als Hitler zu einer Konferenz erwartet wurde. Aber Hitler sagte diese Konferenz ab." Hier hätten sich korrigierende Anmerkungen des Herausgebers angeboten; auch fehlen die Personen- und Sachregister.
Karl Brandt übte übrigens 1954 Kritik an der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten, die "noch immer" davon ausgehe, "dass alle Deutschen bei der Machtergreifung Hitlers hundertprozentige Nazis wurden" und dass das "scheußliche System" des Nationalismus "die Widerspiegelung des Volkswillens war". Elf Jahre später, im Ehrenhof des Bendlerblocks, prangerte er dann die "Schandmauer" an: 17 Millionen Deutsche seien "ihrer Mindest-Bürgerrechte beraubt" und dürften die "Ostzone nicht verlassen". Dies war seit 1961 zu einem Leitmotiv vieler Gedenkreden geworden, zumal vorher schon der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 verstärkt einbezogen worden war.
Der Dramatiker Carl Zuckmayer würdigte 1969 diejenigen, die sich "weder durch Verführung noch durch Bedrohung" von ihrem "harten Weg" abbringen ließen: "Die Erfolglosen und Gescheiterten stehen heute reiner und größer da, als sie nach einem geglückten Umsturz hätten erscheinen können: nicht nur rein von der Blutschuld eines möglichen Bürgerkriegs, sondern rein von der Nötigung zu demütigenden Kompromissen und Halbheiten, die sich im Fall des Gelingens nach innen und außen aufgedrängt hätten." Ohne das "Schreckensende" von 1945 "hätte der Sturz des Regimes keine volle Glaubwürdigkeit bei der wahllosen Menge besessen, die ihm damals noch hörig war, und ein ermordeter Hitler wäre ein schwerer Ballast, eine fast untilgbare Hypothek auf dem Gebäude eines neuen Deutschlands gewesen". 1983 warnte der Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher in Bonn davor, dass der Widerstandsbegriff zum "wohlfeilen Allerweltswort" werde, "mit dem man gegen die parlamentarische Demokratie selbst und ihre Grundregeln, zumal das Mehrheitsprinzip, zu Felde zieht". Der Theologe Richard Schröder stellte 1993 heraus, dass in der DDR erst in den achtziger Jahren Bücher zum Widerstand des 20. Juli erscheinen konnten; bis dahin sei nur der kommunistische Widerstand gewürdigt worden, weil sich der "antifaschistische" SED-Staat doch stets "auf der Seite der Sieger der Geschichte" gefühlt habe.
Im Zusammenhang mit dem Fall Martin Sandberger ging der Politologe Joachim Perels 1997 der Frage nach, wie es zur Intervention führender Repräsentanten der frühen Bundesrepublik zugunsten der Begnadigung des Einsatzgruppen-Kommandeurs kam. Eine wichtige Rolle spielte die Schichten-Zugehörigkeit: mit dem promovierten Juristen aus dem wohlhabenden württembergischen Bürgertum habe man sich identifiziert, von Akademiker zu Akademiker. Überhaupt habe der "Privilegierung von Tätern durch ihre Verwandlung in Gehilfen" in der Bundesrepublik "die vielfache rechtliche Entwertung des Widerstands durch die Justiz" gegenübergestanden. Im Juli 2013 erinnerte der Publizist Karl Heinz Bohrer in Plötzensee daran, dass das Denken der Verschwörer "am wenigsten der Nachkriegsmentalität Westdeutschlands und Europas entsprach". Zu lange sei der 20. Juli "unter dem Kriterium unserer eigenen politischen Kategorien" beurteilt worden, ja es sei "so etwas wie Gesinnungsschnüffelei getrieben" worden. Dabei gehe es nicht um Gesinnung, sondern um die Tat: "Sie war einmalig."
RAINER BLASIUS.
Rüdiger von Voss (Herausgeber): Der Geist des Widerstandes. Schriftsteller - Philosophen - Historiker - Staatsrechtler. Reden zum 20. Juli 1944. August Dreesbach Verlag, München 2014. 366 S., 24,80 [Euro].
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38 Reden zum 20. Juli 1944
Als der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker am dreißigsten Jahrestag des Stauffenberg-Attentats über "Das Phänomen Hitler und der Widerstand" sprach, mahnte er im Ehrenhof des Berliner Bendlerblocks: "Das Wort ,Gedenken' ist oft ein Ausdruck der Verlegenheit, wo wir nicht denken." Vom Gegenteil will jetzt der rührige Rüdiger von Voss überzeugen, indem er das Nachdenken über die Zeit und die Gegner des Nationalsozialismus in 38 Reden dokumentiert, die Schriftsteller und Wissenschaftler seit 1954 hielten: Sie beschwören demnach Geist und Vermächtnis des deutschen und europäischen Widerstandes und geben "Auskunft über den geistigen wie politischen Zustand unserer Zeit".
Die höchst lesenswerte Auswahl aus über 500 Ansprachen des Archivs der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand" besticht durch originelle, hin und wieder von persönlicher Betroffenheit zeugende Sichtweisen, wenn auch die mangelnde Vertrautheit einiger Redner mit den Fakten überrascht. So war beispielsweise der emigrierte Agrarwissenschaftler Karl Brandt in seiner Rede in San Francisco 1954 bei der Schilderung des personellen Zuschnitts der September-Verschwörung von 1938 der Schönfärberei aus Nachkriegsprozessen aufgesessen. Und bei der Aufzählung der Anläufe zur Beseitigung Hitlers geriet er ins Fabulieren: "Im Dezember 1943 gelang es Graf Stauffenberg, eine Bombe durch die Wachen in Hitlers Hauptquartier zu befördern, als Hitler zu einer Konferenz erwartet wurde. Aber Hitler sagte diese Konferenz ab." Hier hätten sich korrigierende Anmerkungen des Herausgebers angeboten; auch fehlen die Personen- und Sachregister.
Karl Brandt übte übrigens 1954 Kritik an der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten, die "noch immer" davon ausgehe, "dass alle Deutschen bei der Machtergreifung Hitlers hundertprozentige Nazis wurden" und dass das "scheußliche System" des Nationalismus "die Widerspiegelung des Volkswillens war". Elf Jahre später, im Ehrenhof des Bendlerblocks, prangerte er dann die "Schandmauer" an: 17 Millionen Deutsche seien "ihrer Mindest-Bürgerrechte beraubt" und dürften die "Ostzone nicht verlassen". Dies war seit 1961 zu einem Leitmotiv vieler Gedenkreden geworden, zumal vorher schon der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 verstärkt einbezogen worden war.
Der Dramatiker Carl Zuckmayer würdigte 1969 diejenigen, die sich "weder durch Verführung noch durch Bedrohung" von ihrem "harten Weg" abbringen ließen: "Die Erfolglosen und Gescheiterten stehen heute reiner und größer da, als sie nach einem geglückten Umsturz hätten erscheinen können: nicht nur rein von der Blutschuld eines möglichen Bürgerkriegs, sondern rein von der Nötigung zu demütigenden Kompromissen und Halbheiten, die sich im Fall des Gelingens nach innen und außen aufgedrängt hätten." Ohne das "Schreckensende" von 1945 "hätte der Sturz des Regimes keine volle Glaubwürdigkeit bei der wahllosen Menge besessen, die ihm damals noch hörig war, und ein ermordeter Hitler wäre ein schwerer Ballast, eine fast untilgbare Hypothek auf dem Gebäude eines neuen Deutschlands gewesen". 1983 warnte der Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher in Bonn davor, dass der Widerstandsbegriff zum "wohlfeilen Allerweltswort" werde, "mit dem man gegen die parlamentarische Demokratie selbst und ihre Grundregeln, zumal das Mehrheitsprinzip, zu Felde zieht". Der Theologe Richard Schröder stellte 1993 heraus, dass in der DDR erst in den achtziger Jahren Bücher zum Widerstand des 20. Juli erscheinen konnten; bis dahin sei nur der kommunistische Widerstand gewürdigt worden, weil sich der "antifaschistische" SED-Staat doch stets "auf der Seite der Sieger der Geschichte" gefühlt habe.
Im Zusammenhang mit dem Fall Martin Sandberger ging der Politologe Joachim Perels 1997 der Frage nach, wie es zur Intervention führender Repräsentanten der frühen Bundesrepublik zugunsten der Begnadigung des Einsatzgruppen-Kommandeurs kam. Eine wichtige Rolle spielte die Schichten-Zugehörigkeit: mit dem promovierten Juristen aus dem wohlhabenden württembergischen Bürgertum habe man sich identifiziert, von Akademiker zu Akademiker. Überhaupt habe der "Privilegierung von Tätern durch ihre Verwandlung in Gehilfen" in der Bundesrepublik "die vielfache rechtliche Entwertung des Widerstands durch die Justiz" gegenübergestanden. Im Juli 2013 erinnerte der Publizist Karl Heinz Bohrer in Plötzensee daran, dass das Denken der Verschwörer "am wenigsten der Nachkriegsmentalität Westdeutschlands und Europas entsprach". Zu lange sei der 20. Juli "unter dem Kriterium unserer eigenen politischen Kategorien" beurteilt worden, ja es sei "so etwas wie Gesinnungsschnüffelei getrieben" worden. Dabei gehe es nicht um Gesinnung, sondern um die Tat: "Sie war einmalig."
RAINER BLASIUS.
Rüdiger von Voss (Herausgeber): Der Geist des Widerstandes. Schriftsteller - Philosophen - Historiker - Staatsrechtler. Reden zum 20. Juli 1944. August Dreesbach Verlag, München 2014. 366 S., 24,80 [Euro].
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