Produktdetails
- Verlag: Berlin Verlag
- Originaltitel: The Spirit Catches You and You Fall Down
- Seitenzahl: 310
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 509g
- ISBN-13: 9783827003362
- ISBN-10: 3827003369
- Artikelnr.: 08535456
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.08.2000Alberner Aberglaube, Torheit total
Wie eine Kindesheilung am Unverständnis der Kulturen scheitert
Der Krieg meiner Jugend fand im Fernsehen statt, Zehntausende von Kilometern entfernt, in einem langgestreckten Land von sanduhrförmiger Silhouette. Das Bild des Nachrichtensprechers Köpcke vor der Landkarte von Vietnam gehört zu den Eindrücken, die aufgrund ihrer allabendlichen Präsenz einen festen Platz in meinem Gedächtnis gefunden haben. Gelegentlich wechselte die Landkarte neben Herrn Köpcke, sie zeigte dann ein benachbartes Land, in dem auch Krieg herrschte: Laos. Doch der Krieg in Laos fand nie die Beachtung, die seinem großen Bruder, dem Vietnamkrieg, entgegengebracht wurde. Laos war ein Nebenschauplatz, auf dem die Amerikaner im kleinen übten, was sie dann im großen Stil in Vietnam durchexerzierten.
In Vietnam waren es die Menschen aus dem südlichen Teil des Landes, die den Amerikanern halfen, ihren Krieg gegen die Menschen des nördlichen Teils zu führen. In Laos fanden die Amerikaner Unterstützung beim Volk der Hmong, das in den Bergen lebte und vom Anbau von Schlafmohn lebte. Wir kennen die Hmong eher unter dem abwertenden Namen Meo, sie tauchen auf in Erzählungen über das unzugängliche Bergland im Grenzgebiet von Burma, Thailand und Laos, das auch das Goldene Dreieck genannt wird. Die Erzählungen berichten von einem traditionsbewußten, stolzen, unbeugsamen Volk, das sich bis heute weigert, fremde Völker über sich regieren zu lassen.
Die Amerikaner verloren den Krieg in Vietnam, sie verloren auch den Krieg in Laos. Sie versprachen den Hmong, die ihnen geholfen hatten, Aufnahme in ihrem Land und evakuierten einige Zehntausende. Der größte Teil der Hmong blieb zurück, stigmatisiert als Helfer der Amerikaner, von den Siegern schikaniert und gepeinigt. Rund 150 000 flohen in den Jahren nach Kriegsende unter unendlichen Strapazen nach Thailand, wo sie in Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Von dort gelangten sie, oft gegen ihren Willen, in die Vereinigten Staaten.
Unter denen, die sich auf diese Weise Ende der siebziger Jahre in dem kalifornischen Städtchen Merced ansiedelten, war die Familie Lee. Was sie mitbrachten und woran sie festhielten, waren ihre Traditionen, ihr magisch-animistisches Weltbild mit festgefügten Vorstellungen über die Natur der Geister, der Seele, der Krankheiten. Sieben Kinder brachten sie mit, ein achtes wurde in Kalifornien geboren. Diese Tochter Lia entwickelte im Alter von drei Monaten ein epileptisches Krampfleiden.
Lias Krämpfe waren schwer und dauerten lange. Ihre Eltern brachten sie in das örtliche Krankenhaus, wo es den Ärzten nur mit großer Mühe gelang, die Anfälle zu unterbrechen. Lia Lee wurde ein häufiger Gast im Hospital, da trotz medizinischer Anstrengungen immer wieder schwere Krämpfe auftraten. Ärzte und Eltern bemühten sich um das Kind, jeder auf seine Weise, aber sie konnten einander ihre Gedanken nicht mitteilen, denn sie konnten nicht miteinander reden. Die Krankheitsgeschichte von Lia Lee ist eine Aneinanderreihung von Mißverständnissen, von Kommunikationsschwierigkeiten, die nicht nur auf der Sprachbarriere, sondern vor allem auf den kulturellen Unterschieden fußten. Seinen makabren Höhepunkt erreichte dieses gegenseitige Unverständnis, als aufgrund ärztlicher Gutachten die Behörden den Eltern das Kind wegnahmen und in eine Pflegefamilie gaben. Man behauptete, daß Lia, die von ihren Eltern mehr umsorgt und verhätschelt wurde als alle anderen Kinder, zu Hause nicht gut betreut würde.
Die Geschichte von Lia Lee beschreibt den Zusammenprall von zwei Kulturen, die jeweils wenig Grund sehen, einander kennenzulernen. Die Hmong haben in ihrer jahrhundertelangen Geschichte gerade wegen ihres Festhaltens an Traditionen und Gebräuchen überleben können. Die Geschichte hat sie gelehrt, daß es den Untergang ihrer Identität bedeuten würde, wenn sie von ihren Traditionen abließen. Die Amerikaner sind von den Werten ihrer Kultur ebenfalls überzeugt, schon gar im eigenen Lande. Vor allem trifft das auf Mediziner zu, die mit einer Krankheit konfrontiert werden, deren Wesen sie zu kennen glauben und zu deren Behandlung ihnen wirksame Mittel zu Gebote stehen. Ein unauflösbarer Widerspruch tat sich an der Behandlung der kleinen Lia auf.
Die amerikanische Journalistin Anne Fadiman hat in geduldiger und genauer jahrelanger Arbeit das Leben der Lia Lee, ihrer Familie und ihres Volkes recherchiert. Mit warmer Sympathie beschreibt sie Geschichte, Traditionen, Gebräuche der Hmong. Obwohl Fadiman dabei nie poetisch wird, liest sich ihr Bericht wie ein spannender Roman und läßt die tiefgehenden persönlichen Eindrücke erkennen, die diese Recherche der Autorin vermittelt hat. Aus ihren langen Gesprächen mit Hmong destilliert Anne Fadiman auch den Kernpunkt der Mißverständnisse, die Behandlung und möglicherweise Heilung der Lia Lee erschwerten und letztlich unmöglich machten: die Unterschiede in der sachlich-rationalen Weltsicht der Amerikaner und der vielfach irrationalen, von Geisterglauben bestimmten Weltsicht der Hmong. Während Lias Eltern der Ansicht waren, die epileptischen Anfälle entstünden dadurch, daß Lia von einem Geist gepackt und zu Boden geschleudert würde, redeten die amerikanischen Ärzte von einer krankhaften Herabsetzung der Krampfschwelle in Lias Gehirn.
Trotz ihrer Sympathie für die Hmong zeigt Anne Fadiman auch Verständnis für die Mitarbeiter des Krankenhauses, die gestreßten Ärzte, die angesichts des schwerkranken Kindes mit größter Mühe alles gaben, was sie gelernt hatten. Es mußte sie verletzen, daß ihre Mühe von den Hmong nicht gewürdigt wurde, weil sie nicht dem entsprach, was die Eltern zur Behandlung ihres Kindes erwartet hatten. Und doch konnten die Ärzte nicht anders, denn es fehlte ihnen an Information, an Dolmetschern, an Erfahrung im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen.
Anne Fadimans Buch kommt nach Deutschland in einer Zeit, in der wir mit großer Mühe lernen müssen, daß auch unser Land ein Einwanderungsland ist. Die Kriege sind näher gekommen. Das Fernsehen zeigt nicht mehr die Schrecken von Hinterindien, sondern berichtet aus dem Balkan oder Afrika, und Menschen aus den betroffenen Ländern suchen hier Schutz und Bleibe. Anne Fadimans Buch mahnt uns, diese Menschen zu respektieren, nach ihren Hintergründen zu fragen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn wir sie zunächst nicht verstehen können. In Zeiten, in denen die Fähigkeit zum mitmenschlichen Umgang mit Fremden leider nicht allen Deutschen gegeben ist, müssen wir für dieses Buch dankbar sein; um so mehr, als es uns in der hervorragenden Übersetzung von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten erreicht. Das Buch gibt viele Anregungen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Wer immer mit Menschen aus fremden Kulturkreisen zu tun hat, sollte es lesen.
GANGOLF SEITZ
Anne Fadiman: "Der Geist packt dich und du stürzt zu Boden". Ein Hmong-Kind, seine westlichen Ärzte und der Zusammenprall zweier Kulturen. Aus dem Amerikanischen von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten. Berlin Verlag, Berlin 2000. 310 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie eine Kindesheilung am Unverständnis der Kulturen scheitert
Der Krieg meiner Jugend fand im Fernsehen statt, Zehntausende von Kilometern entfernt, in einem langgestreckten Land von sanduhrförmiger Silhouette. Das Bild des Nachrichtensprechers Köpcke vor der Landkarte von Vietnam gehört zu den Eindrücken, die aufgrund ihrer allabendlichen Präsenz einen festen Platz in meinem Gedächtnis gefunden haben. Gelegentlich wechselte die Landkarte neben Herrn Köpcke, sie zeigte dann ein benachbartes Land, in dem auch Krieg herrschte: Laos. Doch der Krieg in Laos fand nie die Beachtung, die seinem großen Bruder, dem Vietnamkrieg, entgegengebracht wurde. Laos war ein Nebenschauplatz, auf dem die Amerikaner im kleinen übten, was sie dann im großen Stil in Vietnam durchexerzierten.
In Vietnam waren es die Menschen aus dem südlichen Teil des Landes, die den Amerikanern halfen, ihren Krieg gegen die Menschen des nördlichen Teils zu führen. In Laos fanden die Amerikaner Unterstützung beim Volk der Hmong, das in den Bergen lebte und vom Anbau von Schlafmohn lebte. Wir kennen die Hmong eher unter dem abwertenden Namen Meo, sie tauchen auf in Erzählungen über das unzugängliche Bergland im Grenzgebiet von Burma, Thailand und Laos, das auch das Goldene Dreieck genannt wird. Die Erzählungen berichten von einem traditionsbewußten, stolzen, unbeugsamen Volk, das sich bis heute weigert, fremde Völker über sich regieren zu lassen.
Die Amerikaner verloren den Krieg in Vietnam, sie verloren auch den Krieg in Laos. Sie versprachen den Hmong, die ihnen geholfen hatten, Aufnahme in ihrem Land und evakuierten einige Zehntausende. Der größte Teil der Hmong blieb zurück, stigmatisiert als Helfer der Amerikaner, von den Siegern schikaniert und gepeinigt. Rund 150 000 flohen in den Jahren nach Kriegsende unter unendlichen Strapazen nach Thailand, wo sie in Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Von dort gelangten sie, oft gegen ihren Willen, in die Vereinigten Staaten.
Unter denen, die sich auf diese Weise Ende der siebziger Jahre in dem kalifornischen Städtchen Merced ansiedelten, war die Familie Lee. Was sie mitbrachten und woran sie festhielten, waren ihre Traditionen, ihr magisch-animistisches Weltbild mit festgefügten Vorstellungen über die Natur der Geister, der Seele, der Krankheiten. Sieben Kinder brachten sie mit, ein achtes wurde in Kalifornien geboren. Diese Tochter Lia entwickelte im Alter von drei Monaten ein epileptisches Krampfleiden.
Lias Krämpfe waren schwer und dauerten lange. Ihre Eltern brachten sie in das örtliche Krankenhaus, wo es den Ärzten nur mit großer Mühe gelang, die Anfälle zu unterbrechen. Lia Lee wurde ein häufiger Gast im Hospital, da trotz medizinischer Anstrengungen immer wieder schwere Krämpfe auftraten. Ärzte und Eltern bemühten sich um das Kind, jeder auf seine Weise, aber sie konnten einander ihre Gedanken nicht mitteilen, denn sie konnten nicht miteinander reden. Die Krankheitsgeschichte von Lia Lee ist eine Aneinanderreihung von Mißverständnissen, von Kommunikationsschwierigkeiten, die nicht nur auf der Sprachbarriere, sondern vor allem auf den kulturellen Unterschieden fußten. Seinen makabren Höhepunkt erreichte dieses gegenseitige Unverständnis, als aufgrund ärztlicher Gutachten die Behörden den Eltern das Kind wegnahmen und in eine Pflegefamilie gaben. Man behauptete, daß Lia, die von ihren Eltern mehr umsorgt und verhätschelt wurde als alle anderen Kinder, zu Hause nicht gut betreut würde.
Die Geschichte von Lia Lee beschreibt den Zusammenprall von zwei Kulturen, die jeweils wenig Grund sehen, einander kennenzulernen. Die Hmong haben in ihrer jahrhundertelangen Geschichte gerade wegen ihres Festhaltens an Traditionen und Gebräuchen überleben können. Die Geschichte hat sie gelehrt, daß es den Untergang ihrer Identität bedeuten würde, wenn sie von ihren Traditionen abließen. Die Amerikaner sind von den Werten ihrer Kultur ebenfalls überzeugt, schon gar im eigenen Lande. Vor allem trifft das auf Mediziner zu, die mit einer Krankheit konfrontiert werden, deren Wesen sie zu kennen glauben und zu deren Behandlung ihnen wirksame Mittel zu Gebote stehen. Ein unauflösbarer Widerspruch tat sich an der Behandlung der kleinen Lia auf.
Die amerikanische Journalistin Anne Fadiman hat in geduldiger und genauer jahrelanger Arbeit das Leben der Lia Lee, ihrer Familie und ihres Volkes recherchiert. Mit warmer Sympathie beschreibt sie Geschichte, Traditionen, Gebräuche der Hmong. Obwohl Fadiman dabei nie poetisch wird, liest sich ihr Bericht wie ein spannender Roman und läßt die tiefgehenden persönlichen Eindrücke erkennen, die diese Recherche der Autorin vermittelt hat. Aus ihren langen Gesprächen mit Hmong destilliert Anne Fadiman auch den Kernpunkt der Mißverständnisse, die Behandlung und möglicherweise Heilung der Lia Lee erschwerten und letztlich unmöglich machten: die Unterschiede in der sachlich-rationalen Weltsicht der Amerikaner und der vielfach irrationalen, von Geisterglauben bestimmten Weltsicht der Hmong. Während Lias Eltern der Ansicht waren, die epileptischen Anfälle entstünden dadurch, daß Lia von einem Geist gepackt und zu Boden geschleudert würde, redeten die amerikanischen Ärzte von einer krankhaften Herabsetzung der Krampfschwelle in Lias Gehirn.
Trotz ihrer Sympathie für die Hmong zeigt Anne Fadiman auch Verständnis für die Mitarbeiter des Krankenhauses, die gestreßten Ärzte, die angesichts des schwerkranken Kindes mit größter Mühe alles gaben, was sie gelernt hatten. Es mußte sie verletzen, daß ihre Mühe von den Hmong nicht gewürdigt wurde, weil sie nicht dem entsprach, was die Eltern zur Behandlung ihres Kindes erwartet hatten. Und doch konnten die Ärzte nicht anders, denn es fehlte ihnen an Information, an Dolmetschern, an Erfahrung im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen.
Anne Fadimans Buch kommt nach Deutschland in einer Zeit, in der wir mit großer Mühe lernen müssen, daß auch unser Land ein Einwanderungsland ist. Die Kriege sind näher gekommen. Das Fernsehen zeigt nicht mehr die Schrecken von Hinterindien, sondern berichtet aus dem Balkan oder Afrika, und Menschen aus den betroffenen Ländern suchen hier Schutz und Bleibe. Anne Fadimans Buch mahnt uns, diese Menschen zu respektieren, nach ihren Hintergründen zu fragen und sie auch dann ernst zu nehmen, wenn wir sie zunächst nicht verstehen können. In Zeiten, in denen die Fähigkeit zum mitmenschlichen Umgang mit Fremden leider nicht allen Deutschen gegeben ist, müssen wir für dieses Buch dankbar sein; um so mehr, als es uns in der hervorragenden Übersetzung von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten erreicht. Das Buch gibt viele Anregungen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Wer immer mit Menschen aus fremden Kulturkreisen zu tun hat, sollte es lesen.
GANGOLF SEITZ
Anne Fadiman: "Der Geist packt dich und du stürzt zu Boden". Ein Hmong-Kind, seine westlichen Ärzte und der Zusammenprall zweier Kulturen. Aus dem Amerikanischen von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten. Berlin Verlag, Berlin 2000. 310 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gangolf Seitz möchte dieses Buch all jenen ans Herz legen, die mit Menschen anderer Kulturen in Kontakt treten - sei es beruflich oder privat. Er weiß es sehr zu schätzen, dass die Autorin, auch wenn sie der Familie Lee durchaus Sympathie entgegen bringt, Verständnis für beide Seiten zeigt: Einerseits weist sie auf den kulturellen Hintergrund der Einwandererfamilie und deren "magisch-animistisches Weltbild" hin. Andererseits respektiere sie auch die amerikanischen Ärzte, die durch Informations- und Erfahrungsmangel mit Menschen fremder Kulturen sich auf die ihnen vertrauten Behandlungsmethoden fixierten - und letztlich scheiterten. Seitz lobt ausdrücklich die intensive Recherche der Autorin, gerade was den kulturellen Hintergrund der Hmong angeht, und dass sie deutlich gemacht hat, wie sehr das "Festhalten an Traditionen und Gebräuchen" den Hmong Jahrhunderte lang das Überleben ihres Volkes sicherte. "Spannend wie ein Roman" liest sich dieses Buch, wie Seitz resümiert, der nicht zuletzt ein großes Lob an die Adresse der beiden Übersetzer sendet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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