Der Roman handelt von der unerwiderten lebenslangen Liebe Claras für den berühmten Dirigenten Edwin. Erzählt wird die Geschichte von Claras Sohn. Als sie Edwin kennenlernt in den zwanziger Jahren, ist Clara jung, schön und reich - er dagegen ein mittelloser junger Mann, der nur eins im Kopf hat: Musik. Am Ende ist er ein berühmter Dirigent und der reichste Mann des Landes, sie aber ohne Geld und immer noch von einer Liebe umgetrieben, von der weder er noch sonst jemand weiß. Ein bewegender Roman über die Liebe, die Kunst und das Geld.
"Urs Widmer hat vielleicht eine Liebesgeschichte erfunden. Sicher aber hat er eine Frauenfigur gefunden, die in den Himmel der Literatur eingehen wird. Vielleicht sitzt sie da ja schon, neben der Mutter aus Peter Handkes 'Wunschloses Unglück'." (Süddeutsche Zeitung)
"Urs Widmer erzählt von männlicher Macht und weiblicher Selbstvernichtung und spielt mit der Spekulationslust seiner Leser." (Die Weltwoche)
"Ein nachdenklich und mit hintersinnigem Charme erzählter Roman, der nachdenken macht und dessen Lektüre man am Schluß beenden zu müssen bedauert." (Deutsche Welle)
"Ein kleines Meisterwerk. Unbedingt lesen!" (Radio Bremen)
Römer RD Rezension Deutsch (1)
"Urs Widmer erzählt von männlicher Macht und weiblicher Selbstvernichtung und spielt mit der Spekulationslust seiner Leser." (Die Weltwoche)
"Ein nachdenklich und mit hintersinnigem Charme erzählter Roman, der nachdenken macht und dessen Lektüre man am Schluß beenden zu müssen bedauert." (Deutsche Welle)
"Ein kleines Meisterwerk. Unbedingt lesen!" (Radio Bremen)
Römer RD Rezension Deutsch (1)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000Ars, vita, alles zu lang
Urs Widmer erzählt das langsame Sterben einer Mutter
„Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben. ” Urs Widmers erster Satz ist schon der Skandal, meint man. Der aber beginnt erst im zweiten: „Er war steinalt, kerngesund noch im Tod”. Der Geliebte der Mutter ist eine dieser Widmerschen Vaterfiguren, die nie von der Bühne abtreten können. Irgend einmal fallen sie tot um, den Taktstock oder auch nur die Samstagszeitung noch in der Hand, als wäre der Tod das allerletzte, womit sie zu rechnen hätten. Im Falle des Geliebten der Mutter ist es übrigens der Taktstock, im Falle ihres Vaters die Zeitung. Der Vater des Vaters der Mutter starb im Schneesturm auf dem Simplonpass. Und der Vater des Vaters des Vaters der Mutter – ein „Neger”, den es nach Domodossola verschlug – beim Koitus. Aber erstmals, seit Urs Widmer schreibt, ist nicht der sudden death der Väter das Thema, sondern das langsame Sterben einer Mutter.
Ein Kind verliert seine Mutter. Dass es eine Mutter ist, die immer nur verloren hat, macht den Verlust schwerer, den Abschied sprachloser. Eine „Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben”, nennt Urs Widmer die Geschichte im Epilog. Auch von ihm wird ihr nicht der schallende Applaus nachgetragen, mit dem die Welt ihren Edwin, den genialen Musiker, in den Himmel hob.
Die junge Clara ist präsent durch ihre Lautlosigkeit. Sie wird von Edwin durchaus erkannt: mit einem Posten als Orchesterdienerin. Auch im Bett. Einmal jedenfalls. Folgen darf das keine haben. Also Abtreibung. Dann heiratet Edwin. Clara heiratet. Mit Edwin geht es weiter – weiter, und nicht vorbei. Edwin wohnt jetzt auf der besseren Seeseite. Er hat jetzt Geld. Sie hat ein Kind von einem namenlosen Vater. Nachts steigt sie bis zum Bauch ins Wasser mit dem Kind im Arm, dem Stein, und schaut nach drüben, durch die hellerleuchteten Fenster der Prunkvilla. Am nächsten Tag läuft sie wieder herum für Edwin, für das Junge Orchester. Bis sie nicht mehr kann und in eine unheilbare Depression, eine tränenlose Trauer verfällt.
Lange vor demjenigen ihres Geliebten geht das Leben der Mutter zu Ende. Dass sie ihm selber ein Ende setzt und sich aus dem Fenster des Altersheims stürzt, ist das Satyrspiel nach der Tragödie. Man soll noch einmal lachen, wenn der eine ihrer Schuhe am Fenster hängen bleibt und unten der Fiat 127 des Hausmeisters demoliert wird. Es ist diese Heiterkeit, die bei Urs Widmer am meisten wehtut.
Noch nie hat er so sparsam, so linear erzählt. Nur im Epilog flammt kurz sein formaler Witz auf, der wie so oft schon ein ganzes Buch in Luft auflöst. Der Sohn tritt vor Edwin: „Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben” Ihr Kind?” Edwin kontert: Er habe nie eine Frau zu irgend etwas gezwungen. Er habe vier Kinder, das sei der Beweis, dass seine Geschichte erfunden sei, sonst wäre er doch sein Sohn. Nun habe er eben Pech gehabt.
Edwin ist ein Ekel, das zumindest ist nicht erfunden: bedeutender Dirigent und reichster Mann seines Landes, Chef eines Rüstungskonzerns während des Krieges. Durch Fleurop lässt er jeweils Orchideen schicken zu Mutters Geburtstag. Eines Tages kommen keine mehr. 23 lange Jahre kommen keine mehr. Seine Sekretärin habe wohl einmal die Agenda ausgemistet, sagt Edwin zu Claras Sohn. Edwin ist ein Berg von Empfindungslosigkeit. Aber man liebt Claras Liebe. Mag sie sich alles nur eingebildet haben. Mag Edwin nur das „weiße Segel” der Sehnsucht sein. Außer ihr hat sie ja doch nichts, wonach sie sich sehnen kann.
Es gibt andere Grossmogule in Claras Leben: die Verwandten in Domodossola, die aus dem Urwald kamen. Aber die sind vergleichsweise harmlos. Lustige Schwindler, schlitzohrige Abenteurer. Sie steigen auf und ab mit der Zeit. Bei ihnen fühlt sich Clara wohl. Hier hat ihr Unglück sonnige Namen: „Doliri! Lacrimel! Un martirio!” Bis auch dieser Traum gestört wird. Widerlich, wenn der große Onkel die kleine Nichte nicht mehr kennen will, die dummerweise an dem Tag erscheint, wo man sich für Musso herausgeputzt hat. Aber das ist südliche Opera buffa. Und wenn Cousin Boris, der sich eben noch so widerlich benommen hatte, am nächsten Tag Clara auf die Cima bianca hievt, ist das ein Heldentum, das lächerlich sein darf. Kommt ein Gewitter und macht sich Boris die Hosen voll, hilft ihm Clara wieder auf die Beine. Hat Edwin ihr das je gestattet? Hat er sie je gebraucht?
Clara ist nicht eine, die nicht glücklich sein könnte. Sie kann es sogar auf fast unanständige Art in diesen schwarzen Zeiten. Als hätte sie mit der Welt nichts zu tun. Aber es ist nicht das, was sie sucht. Das ist „dieses Rätsel, das in ihr wohnte, auch ihr selber fremd” sagten die andern. „(War ihr Leben falsch?)” fragt Urs Widmer und setzt die Klammerfrage dahin, wo sie hingehört: in Klammern. Ihre introvertierte Art ist nicht ihre Art, sondern das, was ihre Art wurde, weil sie keine andere Art fand, ihre innere Welt zu schützen. Man kann ihr nicht helfen.
Das ist nicht neu in Widmers Werk, dass jemandem nicht zu helfen ist. Neu ist, dass er trotzdem nicht hilft. Auch nicht als Dichter, als der kleine Gott, der er sonst immer ist. Beinahe wütend schließt er das Buch: „Die Geschichte ist erzählt. ” Und wir sind wieder am Anfang: „Heute ist der Geliebte meiner Mutter zu Grabe getragen worden. ” Der Geliebte meiner Mutter – war er das? War er das? Sie liebte Edwin „unbemerkt von ihm, unbemerkt von jedermann”.
Urs Widmer hat vielleicht eine Liebesgeschichte erfunden. Sicher aber hat er eine Frauenfigur gefunden, die in den Himmel der Literatur eingehen wird. Vielleicht sitzt sie da ja schon, neben der Mutter aus Peter Handkes „Wunschloses Glück”.
SAMUEL MOSER
URS WIDMER: Der Geliebte der Mutter. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 130 Seiten, 32,90 Mark.
„Es kann schon sein, Fledermaus, daß Dichter Dichter fressen. Warum nicht, gute Idee. Herr Ober, die Karte. Ah, ah, der könnte mir schmecken, dieser weltberühmte Romancier da. Ist allerdings teuer. ” – Das ist der Anfang des 19. von 21 Albträumen, die der hier (unten Mitte!) konterfeite Urs Widmer zu den eher schwarzen als schwarzweißen Bildern seines Schweizer Landsmanns Hannes Binder träumt. Beider Buch der Albträume ist bei Sanssouci im Verlag Nagel & Kimche, Zürich, erschienen (52 Seiten, 28 Mark).
SZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Urs Widmer erzählt das langsame Sterben einer Mutter
„Heute ist der Geliebte meiner Mutter gestorben. ” Urs Widmers erster Satz ist schon der Skandal, meint man. Der aber beginnt erst im zweiten: „Er war steinalt, kerngesund noch im Tod”. Der Geliebte der Mutter ist eine dieser Widmerschen Vaterfiguren, die nie von der Bühne abtreten können. Irgend einmal fallen sie tot um, den Taktstock oder auch nur die Samstagszeitung noch in der Hand, als wäre der Tod das allerletzte, womit sie zu rechnen hätten. Im Falle des Geliebten der Mutter ist es übrigens der Taktstock, im Falle ihres Vaters die Zeitung. Der Vater des Vaters der Mutter starb im Schneesturm auf dem Simplonpass. Und der Vater des Vaters des Vaters der Mutter – ein „Neger”, den es nach Domodossola verschlug – beim Koitus. Aber erstmals, seit Urs Widmer schreibt, ist nicht der sudden death der Väter das Thema, sondern das langsame Sterben einer Mutter.
Ein Kind verliert seine Mutter. Dass es eine Mutter ist, die immer nur verloren hat, macht den Verlust schwerer, den Abschied sprachloser. Eine „Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben”, nennt Urs Widmer die Geschichte im Epilog. Auch von ihm wird ihr nicht der schallende Applaus nachgetragen, mit dem die Welt ihren Edwin, den genialen Musiker, in den Himmel hob.
Die junge Clara ist präsent durch ihre Lautlosigkeit. Sie wird von Edwin durchaus erkannt: mit einem Posten als Orchesterdienerin. Auch im Bett. Einmal jedenfalls. Folgen darf das keine haben. Also Abtreibung. Dann heiratet Edwin. Clara heiratet. Mit Edwin geht es weiter – weiter, und nicht vorbei. Edwin wohnt jetzt auf der besseren Seeseite. Er hat jetzt Geld. Sie hat ein Kind von einem namenlosen Vater. Nachts steigt sie bis zum Bauch ins Wasser mit dem Kind im Arm, dem Stein, und schaut nach drüben, durch die hellerleuchteten Fenster der Prunkvilla. Am nächsten Tag läuft sie wieder herum für Edwin, für das Junge Orchester. Bis sie nicht mehr kann und in eine unheilbare Depression, eine tränenlose Trauer verfällt.
Lange vor demjenigen ihres Geliebten geht das Leben der Mutter zu Ende. Dass sie ihm selber ein Ende setzt und sich aus dem Fenster des Altersheims stürzt, ist das Satyrspiel nach der Tragödie. Man soll noch einmal lachen, wenn der eine ihrer Schuhe am Fenster hängen bleibt und unten der Fiat 127 des Hausmeisters demoliert wird. Es ist diese Heiterkeit, die bei Urs Widmer am meisten wehtut.
Noch nie hat er so sparsam, so linear erzählt. Nur im Epilog flammt kurz sein formaler Witz auf, der wie so oft schon ein ganzes Buch in Luft auflöst. Der Sohn tritt vor Edwin: „Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben” Ihr Kind?” Edwin kontert: Er habe nie eine Frau zu irgend etwas gezwungen. Er habe vier Kinder, das sei der Beweis, dass seine Geschichte erfunden sei, sonst wäre er doch sein Sohn. Nun habe er eben Pech gehabt.
Edwin ist ein Ekel, das zumindest ist nicht erfunden: bedeutender Dirigent und reichster Mann seines Landes, Chef eines Rüstungskonzerns während des Krieges. Durch Fleurop lässt er jeweils Orchideen schicken zu Mutters Geburtstag. Eines Tages kommen keine mehr. 23 lange Jahre kommen keine mehr. Seine Sekretärin habe wohl einmal die Agenda ausgemistet, sagt Edwin zu Claras Sohn. Edwin ist ein Berg von Empfindungslosigkeit. Aber man liebt Claras Liebe. Mag sie sich alles nur eingebildet haben. Mag Edwin nur das „weiße Segel” der Sehnsucht sein. Außer ihr hat sie ja doch nichts, wonach sie sich sehnen kann.
Es gibt andere Grossmogule in Claras Leben: die Verwandten in Domodossola, die aus dem Urwald kamen. Aber die sind vergleichsweise harmlos. Lustige Schwindler, schlitzohrige Abenteurer. Sie steigen auf und ab mit der Zeit. Bei ihnen fühlt sich Clara wohl. Hier hat ihr Unglück sonnige Namen: „Doliri! Lacrimel! Un martirio!” Bis auch dieser Traum gestört wird. Widerlich, wenn der große Onkel die kleine Nichte nicht mehr kennen will, die dummerweise an dem Tag erscheint, wo man sich für Musso herausgeputzt hat. Aber das ist südliche Opera buffa. Und wenn Cousin Boris, der sich eben noch so widerlich benommen hatte, am nächsten Tag Clara auf die Cima bianca hievt, ist das ein Heldentum, das lächerlich sein darf. Kommt ein Gewitter und macht sich Boris die Hosen voll, hilft ihm Clara wieder auf die Beine. Hat Edwin ihr das je gestattet? Hat er sie je gebraucht?
Clara ist nicht eine, die nicht glücklich sein könnte. Sie kann es sogar auf fast unanständige Art in diesen schwarzen Zeiten. Als hätte sie mit der Welt nichts zu tun. Aber es ist nicht das, was sie sucht. Das ist „dieses Rätsel, das in ihr wohnte, auch ihr selber fremd” sagten die andern. „(War ihr Leben falsch?)” fragt Urs Widmer und setzt die Klammerfrage dahin, wo sie hingehört: in Klammern. Ihre introvertierte Art ist nicht ihre Art, sondern das, was ihre Art wurde, weil sie keine andere Art fand, ihre innere Welt zu schützen. Man kann ihr nicht helfen.
Das ist nicht neu in Widmers Werk, dass jemandem nicht zu helfen ist. Neu ist, dass er trotzdem nicht hilft. Auch nicht als Dichter, als der kleine Gott, der er sonst immer ist. Beinahe wütend schließt er das Buch: „Die Geschichte ist erzählt. ” Und wir sind wieder am Anfang: „Heute ist der Geliebte meiner Mutter zu Grabe getragen worden. ” Der Geliebte meiner Mutter – war er das? War er das? Sie liebte Edwin „unbemerkt von ihm, unbemerkt von jedermann”.
Urs Widmer hat vielleicht eine Liebesgeschichte erfunden. Sicher aber hat er eine Frauenfigur gefunden, die in den Himmel der Literatur eingehen wird. Vielleicht sitzt sie da ja schon, neben der Mutter aus Peter Handkes „Wunschloses Glück”.
SAMUEL MOSER
URS WIDMER: Der Geliebte der Mutter. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 130 Seiten, 32,90 Mark.
„Es kann schon sein, Fledermaus, daß Dichter Dichter fressen. Warum nicht, gute Idee. Herr Ober, die Karte. Ah, ah, der könnte mir schmecken, dieser weltberühmte Romancier da. Ist allerdings teuer. ” – Das ist der Anfang des 19. von 21 Albträumen, die der hier (unten Mitte!) konterfeite Urs Widmer zu den eher schwarzen als schwarzweißen Bildern seines Schweizer Landsmanns Hannes Binder träumt. Beider Buch der Albträume ist bei Sanssouci im Verlag Nagel & Kimche, Zürich, erschienen (52 Seiten, 28 Mark).
SZ
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2000Pech gehabt, junger Mann
Schicksalsselig: Urs Widmers Roman "Der Geliebte der Mutter"
Klein ist der neue Roman von Urs Widmer, ein schmaler Band von gerade hundertdreißig Seiten. Und doch soll Platz darin sein für eine ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, betrachtet vom Ufer eines Schweizer Sees: von der Morgenröte der neuen Zeit, so wie sie über Villen und einem frühen, roten Fiat Cabriolet aufging, über die große Depression von 1929, über den europäischen Faschismus und das "Dritte Reich" bis hin zur Abenddämmerung des Jahrhunderts, als eine alte Dame sich aus dem Fenster stürzt und auf dem Dach eines Autos aufschlägt. Und wieder ist es ein Fiat, aber dieses Mal ist es ein kleines, altes, ärmliches Modell, ein 127, und der Besitzer streitet sich noch lange mit der Versicherung um die Höhe des Schadens.
"Der Geliebte der Mutter" heißt dieses kleine Buch, und es handelt von drei Menschen. Da ist zunächst der Geliebte, der als mittelloser, aber musikalischer junger Mann beginnt und ein außerordentliches Talent zum Dirigieren an den Tag legt. Edwin, so heißt der Mann, gründet ein Orchester, das mit den Werken der klassischen Moderne zu Weltruhm kommt, und wird, als er die Erbin einer großen Maschinenfabrik heiratet, zum reichsten Mann der Schweiz. Ihm gegenüber steht die "kleine Mutter", die verlorene Tochter eines allzu gewaltigen Vaters. Sie entdeckt Edwin, sie begleitet ihn, als unentbehrliche, aber nur schattenhaft existierende Helferin beim Aufbau des Orchesters, als gelegentliche Geliebte, als Mutter seines Kindes, das nicht geboren werden darf. Ein ganzes Leben lang lebt sie für diesen Menschen, bekommt eine Zeitlang noch zu ihrem Geburtstag eine Orchidee geschickt, aber so etwas erledigt sein Büro, und irgendwann bleibt auch die Blume aus. Die "kleine Mutter" ist die Geschichte einer unbeirrbaren Leidenschaft - für Edwin, aber auch für ein Leben als Opfer.
Schließlich gibt es den Erzähler, den Sohn der "kleinen Mutter" aus ihrer Ehe mit einem Mann, über den der Leser so gut wie nichts erfährt. Am Ende begegnet der Erzähler dem Dirigenten und Industriellen Edwin im Museum für Völkerkunde. Er versucht, die "Jahrhundertfigur" für das Opfer der "kleinen Mutter" zur Rechenschaft zu ziehen. "Pech gehabt, junger Mann", lautet der Bescheid des großen Edwin. "Dann stand ich einfach nur so da und horchte seinen verhallenden Schritten nach. Seinem immer leiseren Gelächter. Eine Tür schlug zu, und es war wieder still."
Ein kleines Buch hat Urs Widmer geschrieben, und doch soll Platz darin sein für die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Dieser Versuch, einen Wald in eine Streichholzschachtel zu zaubern, ist gescheitert. Dafür gibt es einen Grund: Urs Widmer will das Schicksal erfinden. Jede Gestalt, die er auftreten läßt, wird von einem mächtigen Prinzip beherrscht, das sie selbst nicht zu erkennen, geschweige denn zu verändern vermag. Eine jede tut im Leben nichts anderes, als diesem Prinzip zu gehorchen.
Die Entscheidung für die Suggestion des Schicksalhaften fordert einen hohen Preis: die Verkleinerung der Welt auf die Größe einer Schrifttafel, ihre Verkürzung zu einem Banner, das der Autor nur kurz vorzeigen muß - und schon soll eine große Bedeutung erfaßt sein. Es ist das Klischee, das hier regiert und den hochambitionierten literarischen Versuch in die Nähe jener billigen Romane bringt, in denen schon immer alles Schicksal war. Deswegen fallen die Männer in diesem Buch im Tode um, als hätte sie eine Axt gefällt, deswegen fließt die reiche Erbin aus ihrem Auto, als sei sie ein "Gewässer aus Gold und Silber", und deswegen reicht es nicht aus, wenn die verlassene Geliebte nur traurig ist. Sie muß auch noch abends, wie weiland Bayerns Ludwig, zum See hinunterwandeln, um dort, hüfttief im Wasser stehend und einen schweren Stein in den Händen tragend, sehnsuchtsvolle Blicke zur hell erleuchteten Villa des Unerreichten am anderen Ufer des Sees zu schicken. Denn so ist das Schicksal. Das Leben ist ein kleines bißchen komplizierter.
THOMAS STEINFELD
Urs Widmer: "Der Geliebte der Mutter". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 140 S., geb., 32,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schicksalsselig: Urs Widmers Roman "Der Geliebte der Mutter"
Klein ist der neue Roman von Urs Widmer, ein schmaler Band von gerade hundertdreißig Seiten. Und doch soll Platz darin sein für eine ganze Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, betrachtet vom Ufer eines Schweizer Sees: von der Morgenröte der neuen Zeit, so wie sie über Villen und einem frühen, roten Fiat Cabriolet aufging, über die große Depression von 1929, über den europäischen Faschismus und das "Dritte Reich" bis hin zur Abenddämmerung des Jahrhunderts, als eine alte Dame sich aus dem Fenster stürzt und auf dem Dach eines Autos aufschlägt. Und wieder ist es ein Fiat, aber dieses Mal ist es ein kleines, altes, ärmliches Modell, ein 127, und der Besitzer streitet sich noch lange mit der Versicherung um die Höhe des Schadens.
"Der Geliebte der Mutter" heißt dieses kleine Buch, und es handelt von drei Menschen. Da ist zunächst der Geliebte, der als mittelloser, aber musikalischer junger Mann beginnt und ein außerordentliches Talent zum Dirigieren an den Tag legt. Edwin, so heißt der Mann, gründet ein Orchester, das mit den Werken der klassischen Moderne zu Weltruhm kommt, und wird, als er die Erbin einer großen Maschinenfabrik heiratet, zum reichsten Mann der Schweiz. Ihm gegenüber steht die "kleine Mutter", die verlorene Tochter eines allzu gewaltigen Vaters. Sie entdeckt Edwin, sie begleitet ihn, als unentbehrliche, aber nur schattenhaft existierende Helferin beim Aufbau des Orchesters, als gelegentliche Geliebte, als Mutter seines Kindes, das nicht geboren werden darf. Ein ganzes Leben lang lebt sie für diesen Menschen, bekommt eine Zeitlang noch zu ihrem Geburtstag eine Orchidee geschickt, aber so etwas erledigt sein Büro, und irgendwann bleibt auch die Blume aus. Die "kleine Mutter" ist die Geschichte einer unbeirrbaren Leidenschaft - für Edwin, aber auch für ein Leben als Opfer.
Schließlich gibt es den Erzähler, den Sohn der "kleinen Mutter" aus ihrer Ehe mit einem Mann, über den der Leser so gut wie nichts erfährt. Am Ende begegnet der Erzähler dem Dirigenten und Industriellen Edwin im Museum für Völkerkunde. Er versucht, die "Jahrhundertfigur" für das Opfer der "kleinen Mutter" zur Rechenschaft zu ziehen. "Pech gehabt, junger Mann", lautet der Bescheid des großen Edwin. "Dann stand ich einfach nur so da und horchte seinen verhallenden Schritten nach. Seinem immer leiseren Gelächter. Eine Tür schlug zu, und es war wieder still."
Ein kleines Buch hat Urs Widmer geschrieben, und doch soll Platz darin sein für die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Dieser Versuch, einen Wald in eine Streichholzschachtel zu zaubern, ist gescheitert. Dafür gibt es einen Grund: Urs Widmer will das Schicksal erfinden. Jede Gestalt, die er auftreten läßt, wird von einem mächtigen Prinzip beherrscht, das sie selbst nicht zu erkennen, geschweige denn zu verändern vermag. Eine jede tut im Leben nichts anderes, als diesem Prinzip zu gehorchen.
Die Entscheidung für die Suggestion des Schicksalhaften fordert einen hohen Preis: die Verkleinerung der Welt auf die Größe einer Schrifttafel, ihre Verkürzung zu einem Banner, das der Autor nur kurz vorzeigen muß - und schon soll eine große Bedeutung erfaßt sein. Es ist das Klischee, das hier regiert und den hochambitionierten literarischen Versuch in die Nähe jener billigen Romane bringt, in denen schon immer alles Schicksal war. Deswegen fallen die Männer in diesem Buch im Tode um, als hätte sie eine Axt gefällt, deswegen fließt die reiche Erbin aus ihrem Auto, als sei sie ein "Gewässer aus Gold und Silber", und deswegen reicht es nicht aus, wenn die verlassene Geliebte nur traurig ist. Sie muß auch noch abends, wie weiland Bayerns Ludwig, zum See hinunterwandeln, um dort, hüfttief im Wasser stehend und einen schweren Stein in den Händen tragend, sehnsuchtsvolle Blicke zur hell erleuchteten Villa des Unerreichten am anderen Ufer des Sees zu schicken. Denn so ist das Schicksal. Das Leben ist ein kleines bißchen komplizierter.
THOMAS STEINFELD
Urs Widmer: "Der Geliebte der Mutter". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2000. 140 S., geb., 32,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Welt des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer war voller absurder Komik und bizarrer Weltuntergänge.« Michael Krüger / Die Zeit, Hamburg Michael Krüger / Die Zeit Die Zeit