In van der Heijdens polyphonem Roman Der Gerichtshof der Barmherzigkeit treffen im Amsterdam der siebziger Jahre alle literarischen Protagonisten aus dem großen Romanzyklus Die zahnlose Zeit aufeinander. Das ganze Land und seine größte Stadt sind im Umbruch. Und mitten drin betreiben Albert Egberts und seine Freunde ihr Leben als riskantes Experiment, mit dem sie, wie könnte es anders sein, scheitern.
Nach Amsterdam sind sie - der Schauspieler Thjum, der Bildhauer Felix, der Philosophiestudent mit Vordiplom Albert, sein Bruder Freek - aus der Provinz umgesiedelt in der Überzeugung, diese umtriebige und umgetriebene Metropole wiese ihnen den Königsweg. Dabei geraten sie in Kontakt mit einem neapolitanischen Kinderhändler, einem ständig eigene Kristallnächte inszenierenden Neo-Faschisten, dem angehenden Schriftsteller Patrick Gossaert und all den anderen völlig Glücklichen oder Unglücklichen - auch mit der Hennie A., die trotz der Verteidigung durch Ernst Quispel sen. (den Sohn erleben wir in Der Anwalt der Hähne) vom sogenannten »Gerichtshof der Barmherzigkeit« in Arnheim zu 12 Jahren Gefängnis wegen Mordes an ihren Eltern verurteilt wird.
Die Suchbewegungen nach dem wahren Leben - sie kulminieren in einem großen, desaströsen Fest, an dem Albert seinen 10000sten Lebenstag feiert - verfolgt der Leser aus der jeweiligen Perspektive der Handelnden. Deren Maxime lautet: »Es kam, egal wie, darauf an, die Nüchternheit der Welt nicht beruhigend zu bestätigen, sondern zu jedermanns Beunruhigung zu beseitigen. Eine Bresche zu schlagen. Löcher zu bohren.« Und so treibt der Roman, in Rage mit der angeblich bekannten Realität, die Dinge »durch die Wüste der Normalität in das fremde Land, in das sie gehören«.
Nach Amsterdam sind sie - der Schauspieler Thjum, der Bildhauer Felix, der Philosophiestudent mit Vordiplom Albert, sein Bruder Freek - aus der Provinz umgesiedelt in der Überzeugung, diese umtriebige und umgetriebene Metropole wiese ihnen den Königsweg. Dabei geraten sie in Kontakt mit einem neapolitanischen Kinderhändler, einem ständig eigene Kristallnächte inszenierenden Neo-Faschisten, dem angehenden Schriftsteller Patrick Gossaert und all den anderen völlig Glücklichen oder Unglücklichen - auch mit der Hennie A., die trotz der Verteidigung durch Ernst Quispel sen. (den Sohn erleben wir in Der Anwalt der Hähne) vom sogenannten »Gerichtshof der Barmherzigkeit« in Arnheim zu 12 Jahren Gefängnis wegen Mordes an ihren Eltern verurteilt wird.
Die Suchbewegungen nach dem wahren Leben - sie kulminieren in einem großen, desaströsen Fest, an dem Albert seinen 10000sten Lebenstag feiert - verfolgt der Leser aus der jeweiligen Perspektive der Handelnden. Deren Maxime lautet: »Es kam, egal wie, darauf an, die Nüchternheit der Welt nicht beruhigend zu bestätigen, sondern zu jedermanns Beunruhigung zu beseitigen. Eine Bresche zu schlagen. Löcher zu bohren.« Und so treibt der Roman, in Rage mit der angeblich bekannten Realität, die Dinge »durch die Wüste der Normalität in das fremde Land, in das sie gehören«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2003Unterm Pflaster liegt der Sumpf
Abgestürzte in Amsterdam - A. F. Th. van der Heijdens Romanzyklus "Die zahnlose Zeit"
Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden - das ist für einen Schriftsteller ein pompöser, doch irgendwie auch beängstigender Taufname. Der niederländische Romancier hat es zu Anfang seiner Karriere darum mit diversen Pseudonymen versucht, dann seine Vornamen auf altholländisch diskrete Weise abgekürzt. Inzwischen ist er bei seinen Landsleuten so populär, daß er den sperrigen Familiennamen ganz weglassen kann. Sein neuestes ziegeldickes Opus "De movo tapes" erschien zuletzt nurmehr mit dem Kürzel "A. F. Th." auf rotem Grund: ein Klassiker, den jeder an den Initialen erkennt. Gleichzeitig konfrontiert jetzt der manische Vielschreiber die ungeliebten deutschen Nachbarn mit dem kompletten Universum seines ersten Romanzyklus "De tandelose tijd". Inzwischen liegt "Die zahnlose Zeit" komplett im Schuber, mit detailliertem Register und der Korrespondenz des Autors mit seiner fabelhaften Übersetzerin Helga van Beuningen bei Suhrkamp vor - ein Wagnis, diesen zeitgenössischen Proust einem landesfremden wie manchmal befremdeten Publikum in extenso anzudienen.
Aber van der Heijden verdient das, oder andersrum: Hier dürfen wir eine sinnlich-bestürzende Dimension von Literatur erfahren, die kein deutscher Schriftsteller derzeit zu betreten wagt. Zwar wird A. F. Th. hier niemals die Vertrautheit genießen können wie in den Niederlanden, wo beim Erscheinen der Abschlußbände halb Amsterdam mit Werbeplakaten zugeklebt war und es eine literarische Riesenfete für die Fangemeinde gab, die in A. F. Th. den gültigen Chronisten ihrer Kultur verehrt. Wenn man als Nicht-Holländer auch die feinsinnigen Anspielungen auf das literarische und politische Leben, auf Skandälchen im Königshaus, auf Straßenschlachten der Hausbesetzerszene und spektakuläre Strafprozesse wohl kaum entschlüsseln kann und muß, so bleibt doch der imponierende Atem eines großen Romanwerks spürbar, dessen Urheber den Vergleich mit genialen Alleserzählern wie Musil, Döblin, Johnson oder Henscheid nicht zu scheuen braucht.
Van der Heijden schreibt haarscharf an der eigenen Autobiographie vorbei, die den 1951 geborenen Sohn eines Lackierers aus dem katholischen Kaff Geldrop nach 1970 in die Drogen- und Straßenkampf-Metropole Amsterdam spülte. Auch seine Hauptfigur, der ewig strandende Albert Egberts, wurzelt im derb-proletarischen Milieu des brabanter Südens, auch er macht seine bösen Erfahrungen in Liebe und Rausch in der faszinierenden "Totalkneipe" des Amsterdamer Grachtengürtels, die ihn als Junkie in den Ausguß, dann ins Gefängnis spült. Der beängstigend bewußte Romanheld unternimmt einen Selbstversuch, das Leben wie eine böse Lotterie einfach über sich ergehen zu lassen. Er wird, in seinen Räuschen, Schmerzen, Erniedrigungen zum Medium, durch das seine harte Zeit hindurchschreitet - und das gilt hin bis zur schmerzlichen Beschreibung des Drogenentzugs, bis zum faulen Geruch in der Mundhöhle, zum namenlosen Entsetzen angesichts eines Daseins, dessen Skala nach unten ganz weit offen ist.
Der Autor knüpft hier bewußt bei der lebensprallen Deftigkeit des "Gouden Eeuw", des Goldenen Zeitalters von Rembrandt, an, als man ohne falsche Scham die Leichenschau malte und sich Bordell- wie Kneipenszenen ins Wohnzimmer hängte. Zu Unrecht nämlich gelten die niederländischen Schriftsteller als nüchtern, Sprache und Erzählweise als rational. Es gab immer schon Schwelger und barocke Theologen, die - wie Vondel und Huygens - das Walten des Herrn bis in die kleinste Schmeißfliege verfolgten und - wie Couperus oder Carmiggelt - mit unermüdlicher erzählerischer Logorrhöe das skandalöse Vergehen der Zeit stillzustellen versuchten. Und reiste nicht auch Proust nach Amsterdam, ins Venedig des Nordens, um vor Vermeers funkelnden Leinwänden seine Sinnesverfeinerung auf die Spitze zu treiben?
Van der Heijdens Welttheater, das sich so rüpelhaft und volkstümlich gebärdet, fußt also auf dem Grund ästhetischer Dekadenz. Gott wird vom Autor im Geist von Spinozas Theismus definiert als "totaler Widerstand" aller Dinge - und Egberts, der ekstatische Loser, liefert sich diesem Widerstand wie ein Mystiker aus, wenn er in einer tragischen "Schneenacht" des Exzesses seine Liebe verrät und sich gleichzeitig wehrlos ans Heroin versklavt. Der Abstieg von Egberts zum schäbigen Autoknacker wird erzählerisch begleitet von weiteren biographischen Katastrophen: der wild-tödlichen Liebe der Künstler Thjum und Flix, der traurigen Ehe der vergewaltigten Kindfrau Zwanet mit dem freßsüchtigen Quartalssäufer und Anwalt Ernst Quispel, dem Agitieren des kurzsichtigen Neofaschisten Arend-Jan Bartscheer und vielen anderen, die sich an den Kneipentüren von Amsterdam immer wieder zwanghaft über den Weg laufen - wie die in ihrer Kulisse eingesperrten Schauspieler der "Lindenstraße".
Aber dieses Lebensgefühl ist echt, man kann durchaus diesen Freitag Protagonisten samt Autor - darin ist "Die zahnlose Zeit" dem Hyperrealismus verpflichtet - im Dichtercafé "De Zwart" beim fröhlichen Pilsje-Zechen assistieren. Van der Heijden beutete tatsächlich die alkoholschwangere Wirklichkeit seines von Pennern und Huren, Spinnern und renitenten Rentnern belebten Grachtengürtels aus, den er mit seinen kreisenden Wasserläufen, runzligen Hinterhöfen und der Lebenslinie der Amstel einmal einen "Fingerabdruck Gottes" genannt hat. Solche Symbolik, die mit Leitmotiven wie der Schnee-Droge, der Kreuzes-Schere oder dem Punker-Hahnenkamm das Buch durchzieht, nutzt A. F. Th. zur behelfsmäßigen Gliederung seines gewaltigen Materials: So sind gleich die gesamten Niederlande für einen neapolitanischen Kinderhändler, den Nebenhelden Gesu Porpora, die "Fotze Europas", weil sie in ihrer geographischen Gestalt mit Flüssen und Meeresarmen einem Querschnitt durch den weiblichen Unterleib gleichen. Die Folgen solcher symbolischen Geographie kann man dann nachlesen.
Wie weit man sich van der Heijdens Vorliebe für Ungeziefer, Kot, Kotze und Leichengestank, für Mord, Päderastie und Prostitution auch immer ausliefern mag - es bleibt die Bewunderung für ein OEuvre, das die nur in der Literatur mögliche Verschränkung von Makro- und Mikrokosmos als Wette annimmt und sich schreibend dem Leben hemmungslos ausliefert. Der Romanzyklus läßt sich, gerade weil er bis zur Redundanz "in die Breite erzählt" und jenseits normaler Chronologie alles mit allem verschränkt, problemlos an jedem Punkt beginnen und auch häppchenweise genießen - da ist A. F. Th., der selber gerne in die Breite lebt, ein moderner Collagist. Natürlich kommt im Zyklus der Dichter selber in Gestalt seines italianisierten Doppelgängers Patrizio Canaponi vor. Ihm liefern die kaputten Helden ihr Leben zum Aufschreiben aus. Canaponi jedoch, ein schreibender Kapaun, der sein Leben vorzugsweise im sonnigen Süden Italiens verbringt und nichts riskiert, bezahlt sein Dasein als Restverwerter mit dem Verzicht auf eigene sinnliche Potenz: Der Autor ist langweilig.
So bleibt nach der Lektüre die verstörende Einsicht, daß an so einem verfeinerten Bildungsbürger vielleicht die teuersten Genüsse des Lebens vorbeigehen. Van der Heijden will, daß seine Charaktere von der zahnlosen Zeit der Moderne ausgelutscht und verdaut werden, daß ihre Erinnerungen und Gelüste sie allzeit übermannen und daß sein mitleidloser Gott sie schließlich mit dem "Fallbeil der Zeit" zertrümmert: Es ist eine Geisterbahnfahrt durch die späte Moderne der siebziger und achtziger Jahre mit allen ihren Experimenten und Gruseleffekten. Dafür dürfen sich die Mitfahrer aber hemmungslos lebendig austoben in der ewigen Kneipe ihres Seins. "Unterm Pflaster der Sumpf", so wandelt A. F. Th. den sonnigen Schlachtruf der Achtundsechziger mit schaurigem Memento um. Und im feuchten Amsterdam stimmt das ja buchstäblich. Man muß nicht weit bohren, hallt es den Lesern von dreieinhalbtausend Seiten unreinlichem Welttheater dröhnend in den Ohren, und es bleibt Blut übrig oder Sperma oder Urin oder einfach nur Schlamm.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: Die zahnlose Zeit. Sieben Bände und ein Supplementband in Kassette. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003. 3640 Seiten, 128 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abgestürzte in Amsterdam - A. F. Th. van der Heijdens Romanzyklus "Die zahnlose Zeit"
Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden - das ist für einen Schriftsteller ein pompöser, doch irgendwie auch beängstigender Taufname. Der niederländische Romancier hat es zu Anfang seiner Karriere darum mit diversen Pseudonymen versucht, dann seine Vornamen auf altholländisch diskrete Weise abgekürzt. Inzwischen ist er bei seinen Landsleuten so populär, daß er den sperrigen Familiennamen ganz weglassen kann. Sein neuestes ziegeldickes Opus "De movo tapes" erschien zuletzt nurmehr mit dem Kürzel "A. F. Th." auf rotem Grund: ein Klassiker, den jeder an den Initialen erkennt. Gleichzeitig konfrontiert jetzt der manische Vielschreiber die ungeliebten deutschen Nachbarn mit dem kompletten Universum seines ersten Romanzyklus "De tandelose tijd". Inzwischen liegt "Die zahnlose Zeit" komplett im Schuber, mit detailliertem Register und der Korrespondenz des Autors mit seiner fabelhaften Übersetzerin Helga van Beuningen bei Suhrkamp vor - ein Wagnis, diesen zeitgenössischen Proust einem landesfremden wie manchmal befremdeten Publikum in extenso anzudienen.
Aber van der Heijden verdient das, oder andersrum: Hier dürfen wir eine sinnlich-bestürzende Dimension von Literatur erfahren, die kein deutscher Schriftsteller derzeit zu betreten wagt. Zwar wird A. F. Th. hier niemals die Vertrautheit genießen können wie in den Niederlanden, wo beim Erscheinen der Abschlußbände halb Amsterdam mit Werbeplakaten zugeklebt war und es eine literarische Riesenfete für die Fangemeinde gab, die in A. F. Th. den gültigen Chronisten ihrer Kultur verehrt. Wenn man als Nicht-Holländer auch die feinsinnigen Anspielungen auf das literarische und politische Leben, auf Skandälchen im Königshaus, auf Straßenschlachten der Hausbesetzerszene und spektakuläre Strafprozesse wohl kaum entschlüsseln kann und muß, so bleibt doch der imponierende Atem eines großen Romanwerks spürbar, dessen Urheber den Vergleich mit genialen Alleserzählern wie Musil, Döblin, Johnson oder Henscheid nicht zu scheuen braucht.
Van der Heijden schreibt haarscharf an der eigenen Autobiographie vorbei, die den 1951 geborenen Sohn eines Lackierers aus dem katholischen Kaff Geldrop nach 1970 in die Drogen- und Straßenkampf-Metropole Amsterdam spülte. Auch seine Hauptfigur, der ewig strandende Albert Egberts, wurzelt im derb-proletarischen Milieu des brabanter Südens, auch er macht seine bösen Erfahrungen in Liebe und Rausch in der faszinierenden "Totalkneipe" des Amsterdamer Grachtengürtels, die ihn als Junkie in den Ausguß, dann ins Gefängnis spült. Der beängstigend bewußte Romanheld unternimmt einen Selbstversuch, das Leben wie eine böse Lotterie einfach über sich ergehen zu lassen. Er wird, in seinen Räuschen, Schmerzen, Erniedrigungen zum Medium, durch das seine harte Zeit hindurchschreitet - und das gilt hin bis zur schmerzlichen Beschreibung des Drogenentzugs, bis zum faulen Geruch in der Mundhöhle, zum namenlosen Entsetzen angesichts eines Daseins, dessen Skala nach unten ganz weit offen ist.
Der Autor knüpft hier bewußt bei der lebensprallen Deftigkeit des "Gouden Eeuw", des Goldenen Zeitalters von Rembrandt, an, als man ohne falsche Scham die Leichenschau malte und sich Bordell- wie Kneipenszenen ins Wohnzimmer hängte. Zu Unrecht nämlich gelten die niederländischen Schriftsteller als nüchtern, Sprache und Erzählweise als rational. Es gab immer schon Schwelger und barocke Theologen, die - wie Vondel und Huygens - das Walten des Herrn bis in die kleinste Schmeißfliege verfolgten und - wie Couperus oder Carmiggelt - mit unermüdlicher erzählerischer Logorrhöe das skandalöse Vergehen der Zeit stillzustellen versuchten. Und reiste nicht auch Proust nach Amsterdam, ins Venedig des Nordens, um vor Vermeers funkelnden Leinwänden seine Sinnesverfeinerung auf die Spitze zu treiben?
Van der Heijdens Welttheater, das sich so rüpelhaft und volkstümlich gebärdet, fußt also auf dem Grund ästhetischer Dekadenz. Gott wird vom Autor im Geist von Spinozas Theismus definiert als "totaler Widerstand" aller Dinge - und Egberts, der ekstatische Loser, liefert sich diesem Widerstand wie ein Mystiker aus, wenn er in einer tragischen "Schneenacht" des Exzesses seine Liebe verrät und sich gleichzeitig wehrlos ans Heroin versklavt. Der Abstieg von Egberts zum schäbigen Autoknacker wird erzählerisch begleitet von weiteren biographischen Katastrophen: der wild-tödlichen Liebe der Künstler Thjum und Flix, der traurigen Ehe der vergewaltigten Kindfrau Zwanet mit dem freßsüchtigen Quartalssäufer und Anwalt Ernst Quispel, dem Agitieren des kurzsichtigen Neofaschisten Arend-Jan Bartscheer und vielen anderen, die sich an den Kneipentüren von Amsterdam immer wieder zwanghaft über den Weg laufen - wie die in ihrer Kulisse eingesperrten Schauspieler der "Lindenstraße".
Aber dieses Lebensgefühl ist echt, man kann durchaus diesen Freitag Protagonisten samt Autor - darin ist "Die zahnlose Zeit" dem Hyperrealismus verpflichtet - im Dichtercafé "De Zwart" beim fröhlichen Pilsje-Zechen assistieren. Van der Heijden beutete tatsächlich die alkoholschwangere Wirklichkeit seines von Pennern und Huren, Spinnern und renitenten Rentnern belebten Grachtengürtels aus, den er mit seinen kreisenden Wasserläufen, runzligen Hinterhöfen und der Lebenslinie der Amstel einmal einen "Fingerabdruck Gottes" genannt hat. Solche Symbolik, die mit Leitmotiven wie der Schnee-Droge, der Kreuzes-Schere oder dem Punker-Hahnenkamm das Buch durchzieht, nutzt A. F. Th. zur behelfsmäßigen Gliederung seines gewaltigen Materials: So sind gleich die gesamten Niederlande für einen neapolitanischen Kinderhändler, den Nebenhelden Gesu Porpora, die "Fotze Europas", weil sie in ihrer geographischen Gestalt mit Flüssen und Meeresarmen einem Querschnitt durch den weiblichen Unterleib gleichen. Die Folgen solcher symbolischen Geographie kann man dann nachlesen.
Wie weit man sich van der Heijdens Vorliebe für Ungeziefer, Kot, Kotze und Leichengestank, für Mord, Päderastie und Prostitution auch immer ausliefern mag - es bleibt die Bewunderung für ein OEuvre, das die nur in der Literatur mögliche Verschränkung von Makro- und Mikrokosmos als Wette annimmt und sich schreibend dem Leben hemmungslos ausliefert. Der Romanzyklus läßt sich, gerade weil er bis zur Redundanz "in die Breite erzählt" und jenseits normaler Chronologie alles mit allem verschränkt, problemlos an jedem Punkt beginnen und auch häppchenweise genießen - da ist A. F. Th., der selber gerne in die Breite lebt, ein moderner Collagist. Natürlich kommt im Zyklus der Dichter selber in Gestalt seines italianisierten Doppelgängers Patrizio Canaponi vor. Ihm liefern die kaputten Helden ihr Leben zum Aufschreiben aus. Canaponi jedoch, ein schreibender Kapaun, der sein Leben vorzugsweise im sonnigen Süden Italiens verbringt und nichts riskiert, bezahlt sein Dasein als Restverwerter mit dem Verzicht auf eigene sinnliche Potenz: Der Autor ist langweilig.
So bleibt nach der Lektüre die verstörende Einsicht, daß an so einem verfeinerten Bildungsbürger vielleicht die teuersten Genüsse des Lebens vorbeigehen. Van der Heijden will, daß seine Charaktere von der zahnlosen Zeit der Moderne ausgelutscht und verdaut werden, daß ihre Erinnerungen und Gelüste sie allzeit übermannen und daß sein mitleidloser Gott sie schließlich mit dem "Fallbeil der Zeit" zertrümmert: Es ist eine Geisterbahnfahrt durch die späte Moderne der siebziger und achtziger Jahre mit allen ihren Experimenten und Gruseleffekten. Dafür dürfen sich die Mitfahrer aber hemmungslos lebendig austoben in der ewigen Kneipe ihres Seins. "Unterm Pflaster der Sumpf", so wandelt A. F. Th. den sonnigen Schlachtruf der Achtundsechziger mit schaurigem Memento um. Und im feuchten Amsterdam stimmt das ja buchstäblich. Man muß nicht weit bohren, hallt es den Lesern von dreieinhalbtausend Seiten unreinlichem Welttheater dröhnend in den Ohren, und es bleibt Blut übrig oder Sperma oder Urin oder einfach nur Schlamm.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: Die zahnlose Zeit. Sieben Bände und ein Supplementband in Kassette. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003. 3640 Seiten, 128 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der vorliegende Band eröffnet den Mittelteil von van der Heijdens großem siebenbändigen Romanzyklus "Die zahnlose Zeit", der damit nun endlich komplett vorliegt, wie Hermann Wallmann erleichtert aufseufzend erklärt. Wir befinden uns mitten in Albert Egberts Lehr- und Wanderjahren, die den Protagonisten wie einst den Autor nach Italien führen, erklärt der Rezensent. Und eine weitere biografische Parallele gebe es: van der Heijden hatte sein erstes Buch unter dem italienisch klingenden Pseudonym Canaponi veröffentlicht: Erst damit, führt Wallmann aus, hätte sich van der Heijden nach eigener Aussage zu schreiben getraut und vom "ruppigen Sprachhass" des niederländisch-protestantischen Milieus freimachen können. Im vorliegenden Band geht es um eine Abmachung, erklärt Wallmann, welche die Hauptfigur Egberts mit einem gewissen Canaponi trifft: Der eine kann schreiben, aber ihm fehlt der Stoff, der andere quillt vor Lebensstoff über, kann aber nicht schreiben. Wie dies nun günstigenfalls zusammentrifft, davon berichtet "Der Gerichtshof der Barmherzigkleit", ein Titel, erklärt Wallmann, der sich im übrigen auf eine Prozess gegen eine angebliche Elternmörderin bezieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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