Im April 1912 wird der berühmte Kunsthistoriker Pilgrim nach einem missglückten Selbstmordversuch in die psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich eingeliefert. Seine Tagebücher zeugen von einem merkwürdigen Phänomen: Pilgrim scheint immer wieder in Gestalt einer anderen Person auf der Welt zu sein. Anders läßt sich die intime Beschreibung seiner Begegnungen mit berühmten historischen Künstlerpersönlichkeiten wie Leonardo da Vinci, Oskar Wilde oder Henry James nicht erklären...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2000Die Kunst, überall dabeizusein
Mit C. G. Jung auf Crashkurs: Timothy Findleys "Gesandter"
Gerne haben Psychoanalytiker den Dichtern und Künstlern vergangener Jahrhunderte auf die Schulter geklopft: Intuitiv vorweggeahnt hätten sie schon, was Freud und seine Kollegen schließlich ins helle Licht der Wissenschaft hoben. Bereitwillig haben Autoren die Psychoanalyse ihrer Werke gutgeheißen, denn Schriftsteller mögen es, wenn man sich mit ihren Büchern beschäftigt. Umgekehrt hat es aber auch viele Künstler zu den Tiefenpsychologien hingezogen, Freud gewann auch als Schriftsteller Anerkennung. Bekanntlich hat sich die Psychoanalyse am antiken Drama orientiert, und auch Züge des klassischen Kriminalromans sind in sie eingegangen. Wobei der Analytiker die Rolle des Holmes, der Patient die des mal töricht widerspenstigen, mal staunenden Dr. Watson zu spielen hat, während die Seele dem ewig nebligen London jener Epoche stark ähnelt. Bei so viel Nähe ist es kaum erstaunlich, wenn ein Autor heute auf die Idee kommt, seinen Roman über die heroische Zeit der Tiefenpsychologie ins Gewand einer Fallstudie zu kleiden. Eine gewisse Spannungskurve ist damit gesichert: Der Patient ist das Rätsel, das gelöst werden muß. Fünfhundertfünfzig Seiten hat der Seelendetektiv Zeit dazu. In Timothy Findleys Roman "Der Gesandte" übernimmt diese Rolle nicht Freud selbst, sondern sein abtrünniger Kronprinz C. G. Jung. Wer aber ist Timothy Findley?
Beileibe kein Unbekannter, jedenfalls nicht in Kanada. Dort gilt der 1930 geborene und mit vielen Preisen ausgezeichnete Autor neben Margaret Atwood als Klassiker der Gegenwartsliteratur. Zu seinen Werken gehören die Romane "The wars" und "Famous last words", die im Europa der Weltkriege spielen. Sie sind history im doppelten Sinn: erfundene Geschichten und genau dokumentierte Historiographie. So auch das vorliegende Werk, das laut Klappentext sämtliche kanadischen Bestsellerlisten anführte. Im Anhang findet sich ein Personenverzeichnis, das helfen soll, die fiktiven Gestalten von den aus der Kulturgeschichte entliehenen Gaststars zu unterscheiden: darunter Oscar Wilde, Gustav Mahler und Leonardo da Vinci.
Jung war ein großer Träumer von Visionen, die er gern zur Deutung des Weltzustands zur Verfügung stellte. Ein Visionär ist auch der Patient, der eines Tages in die Klinik Burghölzli eingeliefert wird, ein Kunsthistoriker namens Pilgrim, der erst einmal hundertundfünfzig Seiten lang hartnäckig schweigt. Ungewöhnlich beredt sind dagegen seine Tagebücher; sie erzählen von mehr als einem Leben. Herr Pilgrim berichtet aus vergangenen Epochen, als wäre er dabeigewesen. Ist er schizophren, oder steckt ein Stück psychischer Realität hinter seinen Visionen? In skeptischen Momenten vermutet Jung "eine fein gesponnene, vertrackte, raffiniert erdachte Geschichte. Dementia".
C. G. Jung ging bei seiner Konzeption des Unbewußten von Ernst Haeckels biogenetischem Grundsatz aus, wonach die Ontogenese die Phylogenese wiederholt. Aus embryologischen Untersuchungen hatte Haeckel die These gewonnen, die Individualentwicklung eines Lebewesens sei eine verkürzte Rekapitulation der Stammesgeschichte. Jung übertrug dies auf die psychischen Inhalte und entwickelte die Idee des kollektiven Unbewußten. Der Patient mit dem sprechenden Namen Pilgrim ist als ein wandelnder Beleg für diese Theorie konstruiert. Vor dem Spiegel stehend, fällt ihm auf: "Alle Gedanken und Erfahrungen dieser Welt verbergen sich hinter diesem Antlitz . . . die Sinnlichkeit Griechenlands, die Lasterhaftigkeit Roms, der Mystizismus des Mittelalters, die Rückkehr der heidnischen Ideale . . . Ich bin älter als die Berge vor diesen Fenstern . . ."
So weit, so gut. Nicht so gut ist die erzählerische Umsetzung der Pilgerschaft durch die Zeiten. In Novelletten werden die früheren Leben Pilgrims vorgeführt. Er war mit Oscar Wilde befreundet und hatte ein prekäres Verhältnis mit Leonardo da Vinci, als Glaser beim Bau der Kathedrale von Chartres zog er sich eine Bleivergiftung zu, im Trojanischen Krieg war er als blinder Seher Tiresias ein Kollege Kassandras . . . Am ausführlichsten wird die Leonardo-Geschichte behandelt. Vergeblich haben sich ja die Gelehrten mehrerer Jahrhunderte gefragt, was den Künstler dazu bringen konnte, die Aufträge von Päpsten auszuschlagen, um drei Jahre lang am Bildnis einer obskuren Florentiner Bürgersfrau namens Elisabetta del Giocondo zu sitzen. Nun wissen wir es: Pilgrim war die Mona Lisa des Knabenliebhabers Leonardo. Was immer von der Idee eines kollektiven Unbewußten zu halten ist, auf jeden Fall hat Jung mit dem, was da in der Tiefe wesen soll, nicht einmalige Inhalte gemeint, sondern Allgemeines, das im Symbolhaften seinen Ausdruck sucht. Pilgrims Erinnerungen an frühere Existenzen erscheinen deshalb als kurioser Illustrationsversuch der Tiefenpsychologie. Findley ist ein guter Stilist, auch wenn er beim Eindampfen der Kulturgeschichte einen Volkshochschulton nicht immer vermeidet. Das Buch ist aber wegen seiner gezwungenen Konstruktion lediglich Jung-Anhängern zu empfehlen, die sich mit literarischen Bildern des Psychologen auseinandersetzen möchten.
WOLFGANG SCHNEIDER
Timothy Findley: "Der Gesandte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Roth und Walter Ahlers. Claasen Verlag, München 2000. 552 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit C. G. Jung auf Crashkurs: Timothy Findleys "Gesandter"
Gerne haben Psychoanalytiker den Dichtern und Künstlern vergangener Jahrhunderte auf die Schulter geklopft: Intuitiv vorweggeahnt hätten sie schon, was Freud und seine Kollegen schließlich ins helle Licht der Wissenschaft hoben. Bereitwillig haben Autoren die Psychoanalyse ihrer Werke gutgeheißen, denn Schriftsteller mögen es, wenn man sich mit ihren Büchern beschäftigt. Umgekehrt hat es aber auch viele Künstler zu den Tiefenpsychologien hingezogen, Freud gewann auch als Schriftsteller Anerkennung. Bekanntlich hat sich die Psychoanalyse am antiken Drama orientiert, und auch Züge des klassischen Kriminalromans sind in sie eingegangen. Wobei der Analytiker die Rolle des Holmes, der Patient die des mal töricht widerspenstigen, mal staunenden Dr. Watson zu spielen hat, während die Seele dem ewig nebligen London jener Epoche stark ähnelt. Bei so viel Nähe ist es kaum erstaunlich, wenn ein Autor heute auf die Idee kommt, seinen Roman über die heroische Zeit der Tiefenpsychologie ins Gewand einer Fallstudie zu kleiden. Eine gewisse Spannungskurve ist damit gesichert: Der Patient ist das Rätsel, das gelöst werden muß. Fünfhundertfünfzig Seiten hat der Seelendetektiv Zeit dazu. In Timothy Findleys Roman "Der Gesandte" übernimmt diese Rolle nicht Freud selbst, sondern sein abtrünniger Kronprinz C. G. Jung. Wer aber ist Timothy Findley?
Beileibe kein Unbekannter, jedenfalls nicht in Kanada. Dort gilt der 1930 geborene und mit vielen Preisen ausgezeichnete Autor neben Margaret Atwood als Klassiker der Gegenwartsliteratur. Zu seinen Werken gehören die Romane "The wars" und "Famous last words", die im Europa der Weltkriege spielen. Sie sind history im doppelten Sinn: erfundene Geschichten und genau dokumentierte Historiographie. So auch das vorliegende Werk, das laut Klappentext sämtliche kanadischen Bestsellerlisten anführte. Im Anhang findet sich ein Personenverzeichnis, das helfen soll, die fiktiven Gestalten von den aus der Kulturgeschichte entliehenen Gaststars zu unterscheiden: darunter Oscar Wilde, Gustav Mahler und Leonardo da Vinci.
Jung war ein großer Träumer von Visionen, die er gern zur Deutung des Weltzustands zur Verfügung stellte. Ein Visionär ist auch der Patient, der eines Tages in die Klinik Burghölzli eingeliefert wird, ein Kunsthistoriker namens Pilgrim, der erst einmal hundertundfünfzig Seiten lang hartnäckig schweigt. Ungewöhnlich beredt sind dagegen seine Tagebücher; sie erzählen von mehr als einem Leben. Herr Pilgrim berichtet aus vergangenen Epochen, als wäre er dabeigewesen. Ist er schizophren, oder steckt ein Stück psychischer Realität hinter seinen Visionen? In skeptischen Momenten vermutet Jung "eine fein gesponnene, vertrackte, raffiniert erdachte Geschichte. Dementia".
C. G. Jung ging bei seiner Konzeption des Unbewußten von Ernst Haeckels biogenetischem Grundsatz aus, wonach die Ontogenese die Phylogenese wiederholt. Aus embryologischen Untersuchungen hatte Haeckel die These gewonnen, die Individualentwicklung eines Lebewesens sei eine verkürzte Rekapitulation der Stammesgeschichte. Jung übertrug dies auf die psychischen Inhalte und entwickelte die Idee des kollektiven Unbewußten. Der Patient mit dem sprechenden Namen Pilgrim ist als ein wandelnder Beleg für diese Theorie konstruiert. Vor dem Spiegel stehend, fällt ihm auf: "Alle Gedanken und Erfahrungen dieser Welt verbergen sich hinter diesem Antlitz . . . die Sinnlichkeit Griechenlands, die Lasterhaftigkeit Roms, der Mystizismus des Mittelalters, die Rückkehr der heidnischen Ideale . . . Ich bin älter als die Berge vor diesen Fenstern . . ."
So weit, so gut. Nicht so gut ist die erzählerische Umsetzung der Pilgerschaft durch die Zeiten. In Novelletten werden die früheren Leben Pilgrims vorgeführt. Er war mit Oscar Wilde befreundet und hatte ein prekäres Verhältnis mit Leonardo da Vinci, als Glaser beim Bau der Kathedrale von Chartres zog er sich eine Bleivergiftung zu, im Trojanischen Krieg war er als blinder Seher Tiresias ein Kollege Kassandras . . . Am ausführlichsten wird die Leonardo-Geschichte behandelt. Vergeblich haben sich ja die Gelehrten mehrerer Jahrhunderte gefragt, was den Künstler dazu bringen konnte, die Aufträge von Päpsten auszuschlagen, um drei Jahre lang am Bildnis einer obskuren Florentiner Bürgersfrau namens Elisabetta del Giocondo zu sitzen. Nun wissen wir es: Pilgrim war die Mona Lisa des Knabenliebhabers Leonardo. Was immer von der Idee eines kollektiven Unbewußten zu halten ist, auf jeden Fall hat Jung mit dem, was da in der Tiefe wesen soll, nicht einmalige Inhalte gemeint, sondern Allgemeines, das im Symbolhaften seinen Ausdruck sucht. Pilgrims Erinnerungen an frühere Existenzen erscheinen deshalb als kurioser Illustrationsversuch der Tiefenpsychologie. Findley ist ein guter Stilist, auch wenn er beim Eindampfen der Kulturgeschichte einen Volkshochschulton nicht immer vermeidet. Das Buch ist aber wegen seiner gezwungenen Konstruktion lediglich Jung-Anhängern zu empfehlen, die sich mit literarischen Bildern des Psychologen auseinandersetzen möchten.
WOLFGANG SCHNEIDER
Timothy Findley: "Der Gesandte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Roth und Walter Ahlers. Claasen Verlag, München 2000. 552 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht viel abgewinnen konnte Wolfgang Schneider diesem Buch. Er findet zwar, Findley sei ein guter Stilist. Aber das klingt eher, als ob einer seinen Frisör hier lobt. Ansonsten zeigt der Rezensent sich eher genervt vom prätenziösen und "gezwungenen" Versuch des Autors, C.G. Jungs Konzept vom kollektiven Unbewussten als individuelle Seelenwanderung durch die Kulturgeschichte zu illustrieren. Vom trojanischen Krieg bis zur Mona Lisa ist Patient Pilgrim durch die Jahrhunderte gewandert, erzählt der ermüdete Rezensent. Und die Rätsel, die Detektiv C.G.Jung (sic!) dabei zu lösen hatte, waren, wenn wir den Rezensenten richtig verstanden haben, die fünfhundertfünfzig Seiten nicht wirklich wert. Wohl auch, weil Findley "beim Eindampfen von Kulturgeschichte einen Volkshochschulton" nicht immer vermeiden konnte. Deshalb sei der Roman, findet Schneider, lediglich Jung-Anhängern zu empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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