England 1919. Seitdem sie und ihre Familie nach Hope House gezogen sind, ist die zwölfjährige Henry ganz auf sich allein gestellt. Mama ist krank, Vater arbeitet außer Landes und Nanny Jane muss sich um Baby Piglet kümmern. Sich selbst und ihren Büchern überlassen, beginnt Henry, ihre neue Umgebung zu erkunden: das große Haus mit seinem vergessenen Dachboden, das geheimnisvolle Licht, das jenseits des Garten durch die Bäume schimmert, und die geisterhaften Schatten, die niemand außer ihr zu sehen scheint. Und auch niemand außer ihr scheint zu merken, in welcher Gefahr ihre Familie schwebt ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2018Wo Wünschen
doch noch hilft
Ein modernes Märchen,
aus dem England von 1919
Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche. Es ist die Nachtigall, die bei Hans Christian Andersen einen sterbenden Kaiser errettet. Es ist die Nachtigall, die bis in die Gedichte eines John Keats und die Arbeit der Krankenschwester Nightingale wirkt. Und es ist die Nachtigall, deren Gesang ein Mädchen auf den Weg der Erkenntnis schickt.
Angesichts eines solchen Leitvogels ist auch der Titel dieses Mädchenromans folgerichtig: „Der Gesang der Nachtigall“ heißt das moderne Märchen der Britin Lucy Strange. Erlebt wird diese Geschichte von der zwölfjährigen Ich-Erzählerin Henriette, genannt Henry, die in eine aussichtslose Situation geraten ist. Mit ihrer Familie zieht sie im England des Jahres 1919 aus London in ein Haus namens „Hope House“ nahe der Küste. Hoffnung allerdings sucht man hier vergeblich: Ein Bruder ist tragisch verstorben, die Mutter vor Kummer krank, der Vater geflüchtet und Henry fast ganz auf sich gestellt. Das verheißt nichts Gutes, und die Lage wird noch verschärft durch einen grausamen Doktor, der die Mutter mit Beruhigungsmitteln abfüllt und für psychiatrische Experimente missbrauchen will.
Wie hält ein Kind eine solche Situation aus? Indem es in die Fantasie flüchtet. Henry greift wieder zu den Büchern der Kindheit: „Sie waren vertraut, sie boten Sicherheit.“ Die Märchen stärken nicht nur das Mädchen, das immer mutiger die Regeln des bösen Arztes unterwandert. Sie helfen auch den Erwachsenen: Heimlich liest die Tochter der schlafenden Mutter „Dornröschen“ und „Rumpelstilzchen“ vor, und mit den Tränen, die der Mutter über das Gesicht rinnen, setzt auch deren Heilung ein: Märchen sind lebensrettend.
Klingt ziemlich dick aufgetragen? Ist es auch. Als kitschfrei kann man dieses Buch nicht bezeichnen, das zudem sprachlich bewusst etwas altertümelt. Es bietet überhaupt eine eigenwillige Mischung verschiedenster Elemente. Wie sehr die Welt des Märchens in die Wirklichkeit hineinspielt, zeigt sich zum Beispiel in der Figurenzeichnung: Da wird dem Doktor-Schurken eine Fee im Nachtigallenwald entgegengesetzt, die sich als irdische Aussteigerin entpuppt. Auch sonst ist nicht immer klar, was Traum ist, was Wirklichkeit. Kühn wandelt Henry zwischen den Welten, zwischen dem Magischen und einer immer schärfer konturierten real kaputten Gesellschaft kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Überdeutlich ist jedenfalls ein Gefühl der existenziellen Bedrohung, das den Text durchzieht – und ihn dadurch soghaft gruselig macht.
Lucy Strange hat eine zugleich versponnene und handfeste Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte eines Mädchens geschrieben, dem vor 100 Jahren eigentlich gar keine Entwicklung zugestanden werden soll. Und eine Hymne an die Literatur; denn die Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sind für diese Autorin nicht vorbei: „Geschichten haben große Macht“, lässt sie die vermeintliche Fee sagen. „Und manchmal brauchen wir all unseren Mut, um sie zu erzählen.“ Vielleicht werden wir dann, so dürfen wir zumindest hoffen, mit dem Gesang einer Nachtigall belohnt.
ANTJE WEBER
Lucy Strange: Der Gesang der Nachtigall. Aus dem Englischen von Nadine Püschel. Königskinder Verlag, Hamburg 2017. 328 Seiten, 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
doch noch hilft
Ein modernes Märchen,
aus dem England von 1919
Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche. Es ist die Nachtigall, die bei Hans Christian Andersen einen sterbenden Kaiser errettet. Es ist die Nachtigall, die bis in die Gedichte eines John Keats und die Arbeit der Krankenschwester Nightingale wirkt. Und es ist die Nachtigall, deren Gesang ein Mädchen auf den Weg der Erkenntnis schickt.
Angesichts eines solchen Leitvogels ist auch der Titel dieses Mädchenromans folgerichtig: „Der Gesang der Nachtigall“ heißt das moderne Märchen der Britin Lucy Strange. Erlebt wird diese Geschichte von der zwölfjährigen Ich-Erzählerin Henriette, genannt Henry, die in eine aussichtslose Situation geraten ist. Mit ihrer Familie zieht sie im England des Jahres 1919 aus London in ein Haus namens „Hope House“ nahe der Küste. Hoffnung allerdings sucht man hier vergeblich: Ein Bruder ist tragisch verstorben, die Mutter vor Kummer krank, der Vater geflüchtet und Henry fast ganz auf sich gestellt. Das verheißt nichts Gutes, und die Lage wird noch verschärft durch einen grausamen Doktor, der die Mutter mit Beruhigungsmitteln abfüllt und für psychiatrische Experimente missbrauchen will.
Wie hält ein Kind eine solche Situation aus? Indem es in die Fantasie flüchtet. Henry greift wieder zu den Büchern der Kindheit: „Sie waren vertraut, sie boten Sicherheit.“ Die Märchen stärken nicht nur das Mädchen, das immer mutiger die Regeln des bösen Arztes unterwandert. Sie helfen auch den Erwachsenen: Heimlich liest die Tochter der schlafenden Mutter „Dornröschen“ und „Rumpelstilzchen“ vor, und mit den Tränen, die der Mutter über das Gesicht rinnen, setzt auch deren Heilung ein: Märchen sind lebensrettend.
Klingt ziemlich dick aufgetragen? Ist es auch. Als kitschfrei kann man dieses Buch nicht bezeichnen, das zudem sprachlich bewusst etwas altertümelt. Es bietet überhaupt eine eigenwillige Mischung verschiedenster Elemente. Wie sehr die Welt des Märchens in die Wirklichkeit hineinspielt, zeigt sich zum Beispiel in der Figurenzeichnung: Da wird dem Doktor-Schurken eine Fee im Nachtigallenwald entgegengesetzt, die sich als irdische Aussteigerin entpuppt. Auch sonst ist nicht immer klar, was Traum ist, was Wirklichkeit. Kühn wandelt Henry zwischen den Welten, zwischen dem Magischen und einer immer schärfer konturierten real kaputten Gesellschaft kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Überdeutlich ist jedenfalls ein Gefühl der existenziellen Bedrohung, das den Text durchzieht – und ihn dadurch soghaft gruselig macht.
Lucy Strange hat eine zugleich versponnene und handfeste Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte eines Mädchens geschrieben, dem vor 100 Jahren eigentlich gar keine Entwicklung zugestanden werden soll. Und eine Hymne an die Literatur; denn die Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sind für diese Autorin nicht vorbei: „Geschichten haben große Macht“, lässt sie die vermeintliche Fee sagen. „Und manchmal brauchen wir all unseren Mut, um sie zu erzählen.“ Vielleicht werden wir dann, so dürfen wir zumindest hoffen, mit dem Gesang einer Nachtigall belohnt.
ANTJE WEBER
Lucy Strange: Der Gesang der Nachtigall. Aus dem Englischen von Nadine Püschel. Königskinder Verlag, Hamburg 2017. 328 Seiten, 18,99 Euro.
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"Eine zugleich versponnene und handfeste Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte", Süddeutsche Zeitung, Antje Weber, 05.01.2018