Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.1997Der Duft von Muskat und Musik
Günter Kollert läßt sich den Wind der portugiesischen Entdeckungsfahrten um die Nase wehen
Wer sich mit der Geschichte der portugiesischen Entdeckungsfahrten in der frühen Neuzeit beschäftigt, wird feststellen, daß trotz der Fülle an überlieferten Quellen viele grundsätzliche Fragen wohl niemals mit letzter Sicherheit beantwortet werden können. Beispielsweise sind die Gründe, warum Heinrich der Seefahrer unter großen finanziellen Opfern die portugiesischen Expeditionen förderte, unbekannt; weite Teile der Biographie Magellans liegen im dunkeln; und selbst die Nationalität des berühmtesten Entdeckers, Christoph Kolumbus, ist umstritten, seit der Historiker Augusto Mascarenhas Barreto 1988 zum allgemeinen Erstaunen behauptete, viele Anhaltspunkte dafür gefunden zu haben, daß der Genuese eigentlich ein Portugiese sei.
Die Uneinigkeit in solch grundsätzlichen Fragen hat Günter Kollert angeregt, sich den portugiesischen Entdeckungsfahrten von einer anderen Seite zu nähern: über den Mythos, der nach der Begegnung der Seefahrer mit der neuen, unbekannten Welt entstand. Kollert ist überzeugt, daß sich im Mythos die Motive und ganz allgemein das Innenleben der großen Entdecker in ihrer ganzen Weite und Tiefe des geschichtlichen Werdens offenbaren. Aus dem reichen Fundus an Reiseberichten und Tagebüchern schöpft der Autor die vielen kleinen Episoden, in denen die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung verschwimmen: Er erzählt zum Beispiel, wie Vasco da Gama reagierte, als er auf einer seiner späteren Fahrten nach Indien drei Portugiesinnen an Bord entdeckte, obwohl er streng verboten hatte, Frauen auf seinen weiten und gefährlichen Reisen mitzunehmen; wie der portugiesische Kapitän Lourenço de Almeida bei einer Seeschlacht, durch eine Kampfwunde schon dem Tode nahe, sich an den Mastbaum seines Schiffes binden ließ, um seine Mannschaft weiter kommandieren zu können; wie Magellan bei einer schwer umkämpften Brücke in der Nähe von Malakka allein mit einer Lanze die Kriegselefanten der Gegner angriff.
All diese Geschichten bettet Kollert in seine farbenprächtige Darstellung der portugiesischen Entdeckungsfahrten ein, die von den inneren Reformen des Königs Dinis im späten dreizehnten Jahrhundert bis zum Wirken des katholischen Theologen António Vieira gegen die Sklaverei im späten siebzehnten Jahrhundert reicht. Im Vordergrund seiner Betrachtung stehen das Bewußtsein der historischen Figuren und das Bewußtsein, das sie in der Welt mit ihren Taten schufen. Neue Erkenntnisse, die die großen Lücken im Wissen um dieses bedeutende Kapitel der Weltgeschichte schließen könnten, vermittelt Kollert nicht. Obwohl er stets die wissenschaftliche Diskussion im Auge behält und damit so manche Idealisierung in den Quellen zu entlarven weiß, zeichnet er bei der Charakterisierung der portugiesischen Seefahrer gelegentlich ein verklärtes Bild, das die Komplexität der Persönlichkeiten und ihrer Motive nicht zu erhellen vermag.
Wertvoll ist Kollerts Buch, weil es im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen die geistesgeschichtliche Dimension erfaßt. Durch die wohlgewählten Zitate, durch anschaulich geschriebene Exkurse über die Pionierleistungen anderer Völker bei der Entschleierung der neuen Welt und durch einleuchtende Parallelen zu der Mythologie anderer Kulturen, wird die Faszination vermittelt, die die Begegnung mit dem Unbekannten auf die Entdecker ausgeübt haben muß: Man wollte auf christlichen Wegen bleiben und fand dennoch das Neue, auch wo man es gar nicht suchte. NILS HAVEMANN
Günter Kollert: "Der Gesang des Meeres". Die portugiesischen Entdeckungsfahrten als Mythos der Neuzeit. Edition tertium, Ostfildern 1997. 300 S., 20 Abb., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Günter Kollert läßt sich den Wind der portugiesischen Entdeckungsfahrten um die Nase wehen
Wer sich mit der Geschichte der portugiesischen Entdeckungsfahrten in der frühen Neuzeit beschäftigt, wird feststellen, daß trotz der Fülle an überlieferten Quellen viele grundsätzliche Fragen wohl niemals mit letzter Sicherheit beantwortet werden können. Beispielsweise sind die Gründe, warum Heinrich der Seefahrer unter großen finanziellen Opfern die portugiesischen Expeditionen förderte, unbekannt; weite Teile der Biographie Magellans liegen im dunkeln; und selbst die Nationalität des berühmtesten Entdeckers, Christoph Kolumbus, ist umstritten, seit der Historiker Augusto Mascarenhas Barreto 1988 zum allgemeinen Erstaunen behauptete, viele Anhaltspunkte dafür gefunden zu haben, daß der Genuese eigentlich ein Portugiese sei.
Die Uneinigkeit in solch grundsätzlichen Fragen hat Günter Kollert angeregt, sich den portugiesischen Entdeckungsfahrten von einer anderen Seite zu nähern: über den Mythos, der nach der Begegnung der Seefahrer mit der neuen, unbekannten Welt entstand. Kollert ist überzeugt, daß sich im Mythos die Motive und ganz allgemein das Innenleben der großen Entdecker in ihrer ganzen Weite und Tiefe des geschichtlichen Werdens offenbaren. Aus dem reichen Fundus an Reiseberichten und Tagebüchern schöpft der Autor die vielen kleinen Episoden, in denen die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung verschwimmen: Er erzählt zum Beispiel, wie Vasco da Gama reagierte, als er auf einer seiner späteren Fahrten nach Indien drei Portugiesinnen an Bord entdeckte, obwohl er streng verboten hatte, Frauen auf seinen weiten und gefährlichen Reisen mitzunehmen; wie der portugiesische Kapitän Lourenço de Almeida bei einer Seeschlacht, durch eine Kampfwunde schon dem Tode nahe, sich an den Mastbaum seines Schiffes binden ließ, um seine Mannschaft weiter kommandieren zu können; wie Magellan bei einer schwer umkämpften Brücke in der Nähe von Malakka allein mit einer Lanze die Kriegselefanten der Gegner angriff.
All diese Geschichten bettet Kollert in seine farbenprächtige Darstellung der portugiesischen Entdeckungsfahrten ein, die von den inneren Reformen des Königs Dinis im späten dreizehnten Jahrhundert bis zum Wirken des katholischen Theologen António Vieira gegen die Sklaverei im späten siebzehnten Jahrhundert reicht. Im Vordergrund seiner Betrachtung stehen das Bewußtsein der historischen Figuren und das Bewußtsein, das sie in der Welt mit ihren Taten schufen. Neue Erkenntnisse, die die großen Lücken im Wissen um dieses bedeutende Kapitel der Weltgeschichte schließen könnten, vermittelt Kollert nicht. Obwohl er stets die wissenschaftliche Diskussion im Auge behält und damit so manche Idealisierung in den Quellen zu entlarven weiß, zeichnet er bei der Charakterisierung der portugiesischen Seefahrer gelegentlich ein verklärtes Bild, das die Komplexität der Persönlichkeiten und ihrer Motive nicht zu erhellen vermag.
Wertvoll ist Kollerts Buch, weil es im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen die geistesgeschichtliche Dimension erfaßt. Durch die wohlgewählten Zitate, durch anschaulich geschriebene Exkurse über die Pionierleistungen anderer Völker bei der Entschleierung der neuen Welt und durch einleuchtende Parallelen zu der Mythologie anderer Kulturen, wird die Faszination vermittelt, die die Begegnung mit dem Unbekannten auf die Entdecker ausgeübt haben muß: Man wollte auf christlichen Wegen bleiben und fand dennoch das Neue, auch wo man es gar nicht suchte. NILS HAVEMANN
Günter Kollert: "Der Gesang des Meeres". Die portugiesischen Entdeckungsfahrten als Mythos der Neuzeit. Edition tertium, Ostfildern 1997. 300 S., 20 Abb., geb., 48,- DM.
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