Ein Staat gilt als gescheitert, wenn er sich nicht um Völkerrecht und internationale Abkommen schert, die Sicherheit seiner Bewohner und ihre Bürgerrechte nicht mehr schützt, ja die Institutionen der Demokratie selbst unterminiert. Solche »Schurkenstaaten« wieder auf den Weg von Freiheit, Recht und Demokratie zu bringen ist seit Jahrzehnten das erklärte Ziel der Weltmacht USA. Doch was, wenn die dominierende Supermacht selbst unter die Definition eines »gescheiterten Staates« fällt? Diese Frage des berühmten Gesellschaftskritikers Noam Chomsky ist mehr als eine ironische Provokation. Mit verstörender Präzision zeichnet er die Entwicklungslinien einer Politik nach, die lange vor Bush begann: die immer offenere Missachtung internationaler Verträge und Institutionen, eine aggressive Außenpolitik, die die Gefahr von Instabilität und Terror erhöht statt vermindert, aber auch die Erosion der Demokratie im Inneren durch eine bis dato unerhörte Machtkonzentration in den Händen der Privatwirtschaft.
Noam Chomskys Rundumschlag: Washington ist an allem schuld
Am Ende dieses Buches schreibt Noam Chomsky, ganz erschöpft von der nicht enden wollenden Philippika gegen die Vereinigten Staaten von Amerika: "Bei der nie endenden Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit hat es in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte gegeben." Wie bitte? Westliche Demokratien sind auch durch ein großes Bedürfnis nach Selbstbeschimpfung gekennzeichnet. Ihm liegt der Hang nach einer sarkastischen Form politischer Identifizierung zugrunde. Andere Gesellschaften wollen damit nichts zu tun haben. In westlichen Demokratien jedoch ist es an Personen delegiert, die oft sehr produktiv sind. Häufig hört man von ihnen, daß sie mit ihren Meinungen und Deutungen totgeschwiegen, daß sie mißachtet und von den Medien geschnitten würden. Aber das gehört zum Ritual. Denn tatsächlich gibt es einen aufnahmefähigen und beachtliche öffentliche Resonanz versprechenden Markt für diese Produkte.
Selbstbeschimpfung ist etwas anderes als Selbstkritik, beides übrigens in Demokratien legitim und in ihren Auswirkungen für sie nützlich. Der Nutzen der Kritik besteht darin, die Möglichkeiten für Verbesserungen sozialer und politischer Einrichtungen und Abläufe zu erkunden. Der Nutzen der Selbstbeschimpfung im hier gemeinten Sinne liegt demgegenüber in einer paradoxen Integration: Zwar sind, so der Tenor aller solcher Selbstbeschimpfungen, Hopfen und Malz schon längst verloren. Aber solange man darüber klagt und die Schuldigen beim Namen nennen kann, so lange sind Hopfen und Malz eben doch nicht verloren. Das paßt nicht recht zusammen. Tut es aber doch, und zwar sowohl in Chomskys Selbstverständnis als jemand, der von seinen Anhängern gerne als bedeutendster lebender Intellektueller vorgestellt wird, als auch funktional nach dem gerade beschriebenen Mechanismus. Diesen Superlativ hat sich Chomsky mittels einer nicht abreißenden Zahl von Publikationen verdient, von denen es inzwischen fast so viele gibt wie Mitglieder der Vereinten Nationen. Das ist aber nicht der Grund, warum Hugo Chávez, der populistische Präsident Venezuelas, es sich nicht nehmen ließ, seine antiamerikanischen Tiraden vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im September durch das Hochhalten eines Chomsky-Buches mediengerecht zu illustrieren - eine vom Autor selbst gewiß hochgeschätzte Buchreklame.
Die gemeinsame Botschaft von Chomskys Büchern zur Politik der Vereinigten Staaten läßt sich ja auch in der Tat in einem einzigen knappen Satz resümieren: An allem ist Amerika schuld. Von Hause aus ist Chomsky Sprachwissenschaftler und als solcher Professor am Massachusetts Institute for Technology (MIT) geworden. Seit dem Ende der sechziger Jahre schreibt er jedoch unermüdlich gegen die Politik Washingtons an. Dabei bedient er sich einer relativ einfachen Methode: Mit Hilfe eines angehäuften Stapels von Zitaten aus Zeitungsmeldungen und publizistischen Werken flicht er Schmäh-Girlanden und bezeichnet die aktuelle Politik Amerikas, auch die von Israel übrigens, als kurzsichtig, inkompetent, falsch, die Öffentlichkeit ungeheuer geschickt manipulierend, aggressiv militaristisch, staatsterroristisch, mörderisch und zivilisationsvernichtend: "So marschieren wir, unserer Führung folgend, auf ein Armageddon zu, das wir selbst zu verantworten haben." Mit derlei kann man sich leicht als Prophet stilisieren und prophetengläubige Anhänger finden. Trifft die Prophezeiung nicht ein, können sich alle freuen.
Eigentlich kann eine Politik ja nur entweder inkompetent oder teuflisch geschickt sein. Aber Chomsky kommt offenbar bei seinen treuen Anhängern damit durch, argumentative Synergieeffekte aus innerer Widersprüchlichkeit zu erzeugen - die anarchistische Billig-Version von Dialektik. Eine andere Methode Chomskys ist die Retourkutsche. Kaum hatte die Clinton-Administration den Begriff "Schurkenstaat" zur Kennzeichnung militanter Außenseiter im internationalen System wie etwa Nordkorea in Umlauf gebracht, schrieb Chomsky ein Buch über den "wahren Schurkenstaat" Amerika. Hier ist es ähnlich: Der Begriff des "gescheiterten Staates" bezieht sich auf Staaten mit schwachen Regierungen, von inneren Konflikten zerrissen, ohne funktionierende innere Ordnung, also etwa Somalia oder Afghanistan. Chomsky biegt den Begriff einfach um und bezeichnet die Vereinigten Staaten von Amerika als den eigentlich gescheiterten Staat. Sie sind es nicht (nur) wegen der Politik des gerade amtierenden Präsidenten, die sozusagen nur einen Höhepunkt des Scheiterns erreicht hat, sondern sie waren es schon immer.
Kursorische und historisch nicht ganz sattelfeste Ausflüge in die Zeit von Präsident John Quincy Adams (verantwortlich für die "monumentale Verfälschung der Ursachen und des Verlaufs der Eroberung Floridas") und Präsident Woodrow Wilson (verantwortlich für "erschreckende Verbrechen") sollen deutlich machen, daß Amerika immer schon so furchtbar war, wie es sich heute präsentiert. Für Chomsky sind die Vereinigten Staaten das Land der unbegrenzten Unterdrückung, des permanenten Betrugs seitens der Eliten, der Pseudo-Demokratie. Das Leitprinzip der Politik ist das der Täuschung. Die dennoch stattfindenden Wahlen geben nicht die Vorstellungen der Wähler wieder. Präsident Bush etwa konnte seine Wiederwahl nur erreichen, weil er Schutz vor dem Terrorismus versprach und die Öffentlichkeit durch das Marketing der Regierung und die Medien manipuliert wurde, das zu glauben. Und nach all diesem Schmäh kommt dann der überraschende Satz von den Fortschritten bei der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit. Politische Schlüssigkeit ist Chomskys Sache nicht. Aber auch wenn man die Politik wie ein Grottenolm sieht, macht sich ein Licht am Ende des Tunnels immer ganz gut.
WILFRIED VON BREDOW
Noam Chomsky: Der gescheiterte Staat. Verlag Antje Kunstmann, München 2006. 399 S., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Noam Chomsky habe wieder einmal seine mittlerweile vierzig Jahre alte Methode angewandt, mit einer Art Zitatenpotpourri eine inhaltliche windige Amerikaschelte zu betreiben, winkt Rezensent Wilfried von Bredow ermattet ab. Er weist auf die besonders beliebte und besonders einfache Strategie der "Retourkutsche" hin, mit der auch der Titel dieses Buches bei den Chomsky-Proselyten hausieren gehe. Obendrein bemängelt der Rezensent die Exkurse in die amerikanische Geschichte, die kaum "sattelfest" sind. Unter dem Strich recycle Noam Chomsky erneut die alten Stichworte von der "Unterdrückung", "Täuschung des Wählers" und "Pseudo-Demokratie". Und nach all dem "Schmäh", so der Rezensent verwundert, konstatiere Chomsky in bewährt inkonsequenter Weise, daß es in den letzten Jahren wichtige Fortschritte gegeben habe in punkto Demokratie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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