Die Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft in den osteuropäischen Ländern haben in praktisch jeder Familie Fragen aufgeworfen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs irgendwie beantwortet werden müssen. Diese "posttraumatischen" Störungen in Ländern und Gesellschaften, die nach ihrer Identität suchen, sind das Thema dieses Buchs. Es ist eine Reise in die Seelenlandschaften der Menschen und die Summe einer zwanzigjährigen Beschäftigung. Marci Shore spürt den Geistern des Kommunismus im gegenwärtigen Osteuropa nach, vor allem in Polen, Tschechien, der Slowakei und Rumänien. Sie interessiert sich für das, was Geschichte aus den Menschen und ihren Leben gemacht hat. Sie hat Menschen in Prag, Krakau, Warschau, Vilnius, Kiew, Moskau, Bukarest besucht, aber auch in der Provinz und in den jeweiligen Enklaven in New York, Jerusalem und Wien. Das Buch ist von hoher literarischer Qualität, geradezu betörend schön geschrieben. Es atmet eine tiefe Humanität, und man spürt, dass die Ich-Erzählerin eine ungewöhnlich kluge und sympathische Frau ist; sie wirkt wie ein Medium zwischen den porträtierten Menschen und dem Leser, durch das hindurch man sich sehr gut in die jeweilige Situation hineinversetzen kann, von der sie berichtet.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Katharina Bader findet Marci Shores Buch "Der Geschmack von Asche" durchaus lesenswert - als "Werkstattbericht" einer amerikanischen Historikerin, die auszog, in Osteuropa Helden zu finden und keine fand. Interessant ist das vor allem, so Bader, weil Shore über Jahre den Kontakt zu Dissidenten und Bekannten hielt, man also erfährt, wer nach der Wende Karriere machte und wer unterging. Auch entwickelt Shore ihn ihrem sehr schönen, intellektuellen Reisebericht durch die ehemalige Sowjetunion, ein feines Gespür für die "Grautöne des realen Lebens", fasst die Rezensentin zusammen. Ärgerlich findet Bader allerdings den Untertitel, der ein eher wissenschaftliches Buch verspricht. Das wird hier nicht eingehalten, warnt die Rezensentin, die überdies gern gewusst hätte, wie Shore eigentlich den umstrittenen Begriff "Totalitarismus" definiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2014Wie soll ein Mensch da normal bleiben?
Betrogen von Freunden und der Geschichte: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Marci Shore jahrelang durch Osteuropa gereist. Inmitten des Neuanfangs fand sie nur Opfer politischer Systeme.
Tausende junger Amerikaner hatten sich 1989 nach der "Samtenen Revolution" auf den Weg nach Prag und in andere Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks gemacht. Was in den zwanziger Jahren Paris oder in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Istanbul war, waren für die "ex-pats" der neunziger Jahre nun die osteuropäischen Metropolen: mit unzähligen Cafés, billigen Quartieren, aufregenden und fast täglich wechselnden Treffpunkten.
Nirgends schien mehr Raum und Zeit für Abenteuer aller Art, vor allem ästhetischer und intellektueller. Hier wurden Zeitungen und Verlage gegründet, Ateliers und Galerien eröffnet und wieder geschlossen, es gab einen riesigen Nachholbedarf. Die Zeit war aus den Fugen, Geschichte wurde neu geschrieben.
So muss es auch Marci Shore, die heute Geschichte in Yale lehrt, ergangen sein. Fasziniert von Václav Havels Rede vom "Leben in Wahrheit", war sie 1993 zum ersten Mal nach Prag gekommen. Sie konnte dort ihre Tschechischkenntnisse verbessern, ihr standen jahrzehntelang geschlossene Archive offen, sie konnte sich frei und grenzüberschreitend bewegen, sie lernte viele der Akteure, die Dissidenten von einst, kennen ebenso wie die historischen Schauplätze der weltbewegenden Ereignisse.
Die Entfernung zwischen dem kalifornischen Campus und den Epizentren des osteuropäischen Umbruchs hätte größer nicht sein können. Aber Distanz ist manchmal ein Privileg: sie macht neugierig auf das nicht so Vertraute, sie schärft den Blick für das andere und profitiert von einer Unbefangenheit, die einem in allzu großer Nähe zum Geschehen und seinen Akteuren leicht abhandenkommt. Die Generation, der sie selbst angehört, hatte das große Los gezogen: noch vertraut mit dem Zustand davor, aber schon in eine neue Zeit katapultiert.
Nun konnte sie aus der Nahperspektive atemberaubende Verwandlungen beobachten und studieren: den Aufstieg Václav Havels aus Gefängnis und Untergrund auf die Prager Burg, Charta-Mitglieder nun als Abgeordnete und Minister, ein 1968er und Solidarnosc-Aktivist wie Adam Michnik nun als Chef der größten polnischen Tageszeitung; Wissenschaftler und Intellektuelle, die ihr Land nie hatten verlassen können, nun auf Tagungen überall in der Welt.
Marci Shore hat über all die Jahre sorgfältig Tagebuch geführt. So erfährt der Leser - manchmal detaillierter, als ihm lieb ist -, wie sie sich mit diesem unbekannten Kontinent "Osteuropa" vertraut macht, wie es ihr als zeitweilige Englischlehrerin in der westböhmischen Provinz ergangen ist, was sie bei einem Forschungsprojekt in Rumänien über die Faszination von Intellektuellen wie Mircea Eliade durch die faschistische Eiserne Garde gelernt hat. Der Leser wird mitgenommen zu Seminaren und öffentlichen Diskussionen, zu Gesprächen mit Tee und Himbeerkäsekuchen in Prager Altbauwohnungen oder Plattenbausiedlungen.
Die Autorin ist permanent in Bewegung: zwischen Indiana und Bratislava, Stanford und Prag, Boston und Wien, mit ein paar Abstechern nach Moskau, Kiew und Jerusalem, vor allem aber und immer wieder Warschau - überhaupt handelt das Buch, Inhalt und Umfang betreffend, nicht von Osteuropa als Ganzem, sondern wesentlich von Polen und der auseinandergehenden Tschechoslowakei. Es ist der Reisebericht einer jungen Wissenschaftlerin im Zeitalter der Globalisierung. Die Stationen sind definiert durch die Milieus und Beziehungen jener Intellektuellengeneration, deren Lebensläufe die Autorin rekonstruiert und deren Schicksale sie verstehen will.
Das Erkenntnisinteresse, das dieses intellektuelle Roadmovie durch Osteuropa zusammenhält, lässt sich vielleicht so benennen: Wie konnte man in einer geographischen Zone, die zwischen die Fronten, zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, geraten war, seine Unbescholtenheit bewahren? Und wie konnte es kommen, dass Menschen, die im Kampf gegen den einen Feind, den Nationalsozialismus, unbeugsam und tapfer bis in den Tod, Widerstand geleistet und in den Konzentrationslagern "zu den Besten des Widerstands" gehört hatten, wenig später sich mit Haut und Haar, ideell und praktisch dem Stalinismus ausgeliefert haben?
Wie konnten die Angehörigen einer Generation durch das "Jahrhundert der Wölfe" (Ossip Mandelstam) kommen, ohne Verrat an ihren Idealen zu begehen und schuldig zu werden?
Marci Shore, die in Prager Archiven die Protokolle, Geheimdienstunterlagen und Filmaufzeichnungen des Slansky-Prozesses durcharbeiten konnte und dabei phantastische Funde machte, musste sich mit der Studentenzeit späterer Wortführer des Prager Frühlings, des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", mit so großen Schriftstellern wie Milan Kundera und Jaroslav Seifert auseinandersetzen, deren "lyrische Epoche zusammenfiel mit der schlimmsten Zeit des Stalinismus". Es finden sich in den Jahren des "unschuldigen Tanzens und blutigen Lächelns" (Kundera) nicht wenige prominente Namen - etwa der Philosoph Karel Kosik.
Am schärfsten zugespitzt findet Marci Shore die Situation der polnischen Intellektuellen, besonders der polnisch-jüdischen, um deren Schicksal ihre großartige Studie "Caviar and Ashes. A Warsaw Generation's Life and Death in Marxism, 1918-1968" (2006) kreiste. Diese handelt von Vertretern einer Generation, der kaum etwas erspart blieb: von einem Dichter wie Antoni Slominski, der nach dem Krieg aus England nach Warschau zurückgekehrt, der Kommunistischen Partei beitritt, später führender antikommunistischer Dissident wird; von dem futuristischen Dichter Bruno Jasienski, der 1938 im Großen Terror Stalins umgebracht wird; von dem Avantgardedichter Aleksander Wat, der während des Krieges in der Sowjetunion interniert, nach dem Krieg nach Polen zurückkehrt, aber im französischen Exil 1967 durch Selbstmord endet; von den Brüdern Adolf und Jakub Berman, beide aus jüdischem Elternhaus, beide aktiv im Untergrund kämpfend, der eine nach dem Krieg als zionistischer Aktitivist nach Palästina emigriert, der andere im stalinistischen Polen zuständig für Kultur und Geheimpolizei.
Die Rede ist auch von Wladyslaw Bartoszewski, späterer Solidarnosc-Aktivist und Außenminister, ehemaliger Auschwitz-Häftling und Kämpfer der Heimatarmee, lebenslang befreundet mit Adolf Berman, dessen Bruder Jakub als Chef der Geheimpolizei verantwortlich war für seine sieben Jahre Gefängnishaft. Marci Shore trifft in Warschau, Moskau, New York Überlebende: des Warschauer Gettos, der sowjetischen Lager, der stalinistischen Gefängnisse im Nachkriegspolen. Sie begegnet dem fast hundertjährigen polnisch-jüdischen Kommunisten Alexander Masiewicki, der sowjetische Arbeitslager durchgemacht, nach Polen zurückgekehrt, 1968 von der antisemitischen Welle bedrängt, Polen verlassen musste.
Sie trifft Polen, Juden, Polen mit jüdischen Wurzeln, die im Untergrundkampf, im Exil oder in den Lagern Stalins, manchmal auch in den Lagern des einen wie des anderen Systems überlebt hatten, solche, die sich nach dem Krieg an den Hebeln der Macht oder im Gefängnis wiederfanden und am Ende im Exil. Über die tragische Geschichte der jüdisch-polnischen Intelligenzija sagt einer einmal: "Ja, die Leute starben in den sowjetischen Lagern, aber nicht in den Öfen."
Marci Shore findet sich in "Der Geschmack von Asche" wieder inmitten dieses Aufbrechens schmerzlicher Erfahrungen, mit denen sich nach 1986 und 1989 die Generation der Kinder und Kindeskinder auseinandersetzen muss. Sie ist bei Diskussionen über Jan Gross' Jedwabne-Buch anwesend und lässt die einen eine jüdische Renaissance in Polen sehen, wo andere nur Musealisierung und Inszenierung eines Als-ob wahrnehmen. Shore schreibt über "Menschen, die andere Menschen betrogen haben, die sie gerettet hatten, und die denen verziehen haben, die sie betrogen hatten."
Die Historikerin wagt sich heran an die "Geheimnisse der jüdisch-polnischen Beziehungen". Anders als viele Geschichten handeln ihre Bücher jedoch nicht vom "Aufstieg und Fall einer Idee", nicht von einer säkularen Illusion und einer epochalen Desillusionierung, sondern allenfalls von einer Idee - hier: des Marxismus - als einer "gelebten Erfahrung". Nicht die Idee, sondern vor allem das München-Trauma habe den kommunistischen Sieg in Prag ermöglicht, und wer den Krieg als den Wendepunkt für alles Folgende, auch den Sieg des Stalinismus in Polen, verstehen wolle, der müsse nach Warschau gehen.
Es ist ein Buch, das ohne Modell oder Idealtyp auskommt - "Totalitarismus" wird eigentlich nur einmal aufgerufen als "Abschaffung des Privatlebens". Shore findet die Worte für das, was eine alte Warschauerin hilflos so benennt: "All das zu erleben und normal zu bleiben, das ist zu viel." Die Autorin trifft, vielleicht weil sie von außen kommt und Unbefangenheit mit Empathie zusammenbringt, den Ton, den Ton, der alle belehrende Besserwisserei hinter sich lässt.
Wir wissen durch Marci Shores Buch nun mehr über den "Verrat der Intellektuellen" (Julien Benda, 1927), auch mehr über den "Gott, der keiner war" (Koestler, Spender, Silone, 1950) oder über "Verführtes Denken" (Czeslaw Milosz, 1953). Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Verlag dem Buch zum "Nachleben des Totalitarismus" nun auch die Studie über das Vorleben und die heißeste Zeit folgen lassen würde: "Caviar and Ashes". Zusammengenommen wäre das weit mehr als die Ergänzung der europäischen Ideen- und Intellektuellengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts um ein mittel- und osteuropäisches Kapitel. Es wäre eine Neuvermessung des Kontinents. Sie ist längst fällig.
KARL SCHLÖGEL.
Marci Shore: "Der Geschmack von Asche". Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa.
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Verlag C. H. Beck, München 2014. 376 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Betrogen von Freunden und der Geschichte: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Marci Shore jahrelang durch Osteuropa gereist. Inmitten des Neuanfangs fand sie nur Opfer politischer Systeme.
Tausende junger Amerikaner hatten sich 1989 nach der "Samtenen Revolution" auf den Weg nach Prag und in andere Hauptstädte des ehemaligen Ostblocks gemacht. Was in den zwanziger Jahren Paris oder in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Istanbul war, waren für die "ex-pats" der neunziger Jahre nun die osteuropäischen Metropolen: mit unzähligen Cafés, billigen Quartieren, aufregenden und fast täglich wechselnden Treffpunkten.
Nirgends schien mehr Raum und Zeit für Abenteuer aller Art, vor allem ästhetischer und intellektueller. Hier wurden Zeitungen und Verlage gegründet, Ateliers und Galerien eröffnet und wieder geschlossen, es gab einen riesigen Nachholbedarf. Die Zeit war aus den Fugen, Geschichte wurde neu geschrieben.
So muss es auch Marci Shore, die heute Geschichte in Yale lehrt, ergangen sein. Fasziniert von Václav Havels Rede vom "Leben in Wahrheit", war sie 1993 zum ersten Mal nach Prag gekommen. Sie konnte dort ihre Tschechischkenntnisse verbessern, ihr standen jahrzehntelang geschlossene Archive offen, sie konnte sich frei und grenzüberschreitend bewegen, sie lernte viele der Akteure, die Dissidenten von einst, kennen ebenso wie die historischen Schauplätze der weltbewegenden Ereignisse.
Die Entfernung zwischen dem kalifornischen Campus und den Epizentren des osteuropäischen Umbruchs hätte größer nicht sein können. Aber Distanz ist manchmal ein Privileg: sie macht neugierig auf das nicht so Vertraute, sie schärft den Blick für das andere und profitiert von einer Unbefangenheit, die einem in allzu großer Nähe zum Geschehen und seinen Akteuren leicht abhandenkommt. Die Generation, der sie selbst angehört, hatte das große Los gezogen: noch vertraut mit dem Zustand davor, aber schon in eine neue Zeit katapultiert.
Nun konnte sie aus der Nahperspektive atemberaubende Verwandlungen beobachten und studieren: den Aufstieg Václav Havels aus Gefängnis und Untergrund auf die Prager Burg, Charta-Mitglieder nun als Abgeordnete und Minister, ein 1968er und Solidarnosc-Aktivist wie Adam Michnik nun als Chef der größten polnischen Tageszeitung; Wissenschaftler und Intellektuelle, die ihr Land nie hatten verlassen können, nun auf Tagungen überall in der Welt.
Marci Shore hat über all die Jahre sorgfältig Tagebuch geführt. So erfährt der Leser - manchmal detaillierter, als ihm lieb ist -, wie sie sich mit diesem unbekannten Kontinent "Osteuropa" vertraut macht, wie es ihr als zeitweilige Englischlehrerin in der westböhmischen Provinz ergangen ist, was sie bei einem Forschungsprojekt in Rumänien über die Faszination von Intellektuellen wie Mircea Eliade durch die faschistische Eiserne Garde gelernt hat. Der Leser wird mitgenommen zu Seminaren und öffentlichen Diskussionen, zu Gesprächen mit Tee und Himbeerkäsekuchen in Prager Altbauwohnungen oder Plattenbausiedlungen.
Die Autorin ist permanent in Bewegung: zwischen Indiana und Bratislava, Stanford und Prag, Boston und Wien, mit ein paar Abstechern nach Moskau, Kiew und Jerusalem, vor allem aber und immer wieder Warschau - überhaupt handelt das Buch, Inhalt und Umfang betreffend, nicht von Osteuropa als Ganzem, sondern wesentlich von Polen und der auseinandergehenden Tschechoslowakei. Es ist der Reisebericht einer jungen Wissenschaftlerin im Zeitalter der Globalisierung. Die Stationen sind definiert durch die Milieus und Beziehungen jener Intellektuellengeneration, deren Lebensläufe die Autorin rekonstruiert und deren Schicksale sie verstehen will.
Das Erkenntnisinteresse, das dieses intellektuelle Roadmovie durch Osteuropa zusammenhält, lässt sich vielleicht so benennen: Wie konnte man in einer geographischen Zone, die zwischen die Fronten, zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, geraten war, seine Unbescholtenheit bewahren? Und wie konnte es kommen, dass Menschen, die im Kampf gegen den einen Feind, den Nationalsozialismus, unbeugsam und tapfer bis in den Tod, Widerstand geleistet und in den Konzentrationslagern "zu den Besten des Widerstands" gehört hatten, wenig später sich mit Haut und Haar, ideell und praktisch dem Stalinismus ausgeliefert haben?
Wie konnten die Angehörigen einer Generation durch das "Jahrhundert der Wölfe" (Ossip Mandelstam) kommen, ohne Verrat an ihren Idealen zu begehen und schuldig zu werden?
Marci Shore, die in Prager Archiven die Protokolle, Geheimdienstunterlagen und Filmaufzeichnungen des Slansky-Prozesses durcharbeiten konnte und dabei phantastische Funde machte, musste sich mit der Studentenzeit späterer Wortführer des Prager Frühlings, des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", mit so großen Schriftstellern wie Milan Kundera und Jaroslav Seifert auseinandersetzen, deren "lyrische Epoche zusammenfiel mit der schlimmsten Zeit des Stalinismus". Es finden sich in den Jahren des "unschuldigen Tanzens und blutigen Lächelns" (Kundera) nicht wenige prominente Namen - etwa der Philosoph Karel Kosik.
Am schärfsten zugespitzt findet Marci Shore die Situation der polnischen Intellektuellen, besonders der polnisch-jüdischen, um deren Schicksal ihre großartige Studie "Caviar and Ashes. A Warsaw Generation's Life and Death in Marxism, 1918-1968" (2006) kreiste. Diese handelt von Vertretern einer Generation, der kaum etwas erspart blieb: von einem Dichter wie Antoni Slominski, der nach dem Krieg aus England nach Warschau zurückgekehrt, der Kommunistischen Partei beitritt, später führender antikommunistischer Dissident wird; von dem futuristischen Dichter Bruno Jasienski, der 1938 im Großen Terror Stalins umgebracht wird; von dem Avantgardedichter Aleksander Wat, der während des Krieges in der Sowjetunion interniert, nach dem Krieg nach Polen zurückkehrt, aber im französischen Exil 1967 durch Selbstmord endet; von den Brüdern Adolf und Jakub Berman, beide aus jüdischem Elternhaus, beide aktiv im Untergrund kämpfend, der eine nach dem Krieg als zionistischer Aktitivist nach Palästina emigriert, der andere im stalinistischen Polen zuständig für Kultur und Geheimpolizei.
Die Rede ist auch von Wladyslaw Bartoszewski, späterer Solidarnosc-Aktivist und Außenminister, ehemaliger Auschwitz-Häftling und Kämpfer der Heimatarmee, lebenslang befreundet mit Adolf Berman, dessen Bruder Jakub als Chef der Geheimpolizei verantwortlich war für seine sieben Jahre Gefängnishaft. Marci Shore trifft in Warschau, Moskau, New York Überlebende: des Warschauer Gettos, der sowjetischen Lager, der stalinistischen Gefängnisse im Nachkriegspolen. Sie begegnet dem fast hundertjährigen polnisch-jüdischen Kommunisten Alexander Masiewicki, der sowjetische Arbeitslager durchgemacht, nach Polen zurückgekehrt, 1968 von der antisemitischen Welle bedrängt, Polen verlassen musste.
Sie trifft Polen, Juden, Polen mit jüdischen Wurzeln, die im Untergrundkampf, im Exil oder in den Lagern Stalins, manchmal auch in den Lagern des einen wie des anderen Systems überlebt hatten, solche, die sich nach dem Krieg an den Hebeln der Macht oder im Gefängnis wiederfanden und am Ende im Exil. Über die tragische Geschichte der jüdisch-polnischen Intelligenzija sagt einer einmal: "Ja, die Leute starben in den sowjetischen Lagern, aber nicht in den Öfen."
Marci Shore findet sich in "Der Geschmack von Asche" wieder inmitten dieses Aufbrechens schmerzlicher Erfahrungen, mit denen sich nach 1986 und 1989 die Generation der Kinder und Kindeskinder auseinandersetzen muss. Sie ist bei Diskussionen über Jan Gross' Jedwabne-Buch anwesend und lässt die einen eine jüdische Renaissance in Polen sehen, wo andere nur Musealisierung und Inszenierung eines Als-ob wahrnehmen. Shore schreibt über "Menschen, die andere Menschen betrogen haben, die sie gerettet hatten, und die denen verziehen haben, die sie betrogen hatten."
Die Historikerin wagt sich heran an die "Geheimnisse der jüdisch-polnischen Beziehungen". Anders als viele Geschichten handeln ihre Bücher jedoch nicht vom "Aufstieg und Fall einer Idee", nicht von einer säkularen Illusion und einer epochalen Desillusionierung, sondern allenfalls von einer Idee - hier: des Marxismus - als einer "gelebten Erfahrung". Nicht die Idee, sondern vor allem das München-Trauma habe den kommunistischen Sieg in Prag ermöglicht, und wer den Krieg als den Wendepunkt für alles Folgende, auch den Sieg des Stalinismus in Polen, verstehen wolle, der müsse nach Warschau gehen.
Es ist ein Buch, das ohne Modell oder Idealtyp auskommt - "Totalitarismus" wird eigentlich nur einmal aufgerufen als "Abschaffung des Privatlebens". Shore findet die Worte für das, was eine alte Warschauerin hilflos so benennt: "All das zu erleben und normal zu bleiben, das ist zu viel." Die Autorin trifft, vielleicht weil sie von außen kommt und Unbefangenheit mit Empathie zusammenbringt, den Ton, den Ton, der alle belehrende Besserwisserei hinter sich lässt.
Wir wissen durch Marci Shores Buch nun mehr über den "Verrat der Intellektuellen" (Julien Benda, 1927), auch mehr über den "Gott, der keiner war" (Koestler, Spender, Silone, 1950) oder über "Verführtes Denken" (Czeslaw Milosz, 1953). Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Verlag dem Buch zum "Nachleben des Totalitarismus" nun auch die Studie über das Vorleben und die heißeste Zeit folgen lassen würde: "Caviar and Ashes". Zusammengenommen wäre das weit mehr als die Ergänzung der europäischen Ideen- und Intellektuellengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts um ein mittel- und osteuropäisches Kapitel. Es wäre eine Neuvermessung des Kontinents. Sie ist längst fällig.
KARL SCHLÖGEL.
Marci Shore: "Der Geschmack von Asche". Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa.
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. Verlag C. H. Beck, München 2014. 376 S., geb., 26,95 [Euro].
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