Band 4 der Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers enthält sein bekanntestes, in mehrere Sprachen übersetztes Werk Der Gestaltkreis sowie Aufsätze und Vorträge, die als direkte Vorarbeiten, Vertiefungen oder Ergänzungen der »Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen« anzusehen sind. Diese Beiträge aus den Jahren 1931 bis 1948 haben ihren jeweiligen Schwerpunkt teils im experimentellen, teils im theoretischen bzw. im philosophischen Bereich und spiegeln so die Spannweite des Hauptwerkes, das 1949 erstmals veröffentlicht wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.1998Es kehrt an das, was Kranke quält
Sich ewig der Gesunde nichts: Viktor von Weizsäcker wollte sich damit nicht abfinden
Unter achtundvierzig Heilkundigen, die das 1991 bei Beck erschienene Sammelwerk "Klassiker der Medizin" aufführt, ist Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) der Jüngste. Er hat wichtige Impulse für die klinische Medizin und ihre theoretischen Grundlagen gegeben, ist aber - anders als seine Zeitgenossen Karl Jaspers und Sigmund Freud - kaum über die Medizin hinaus populär geworden.
Weizsäcker gilt als Mitbegründer der Psychosomatik. Er wollte die Medizin aus ihrer Beschränkung auf mechanistisch-naturwissenschaftliche Prinzipien herauslösen. In der Hoffnung auf eine christliche Erneuerung des Denkens und Handelns hat er Grundlagen einer anthropologischen Medizin entworfen und in seiner "Pathosophie" philosophische Überlegungen zum Wesen von gesund und krank und zur "Theorie des Menschen" entfaltet. Der vorliegende vierte Band der auf zehn Bände angelegten Gesammelten Schriften enthält als Kernstück das wohl bekannteste Werk von Weizsäckers, seine Arbeiten über den "Gestaltkreis". Sie sind hauptsächlich in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden.
Wenn man von einer Flußbrücke herab auf fließendes Wasser schaut, erkennt man zunächst, daß es strömt. Häufig entsteht dann jedoch - scheinbar ohne besondere Ursache - der Eindruck, das Wasser stehe plötzlich still und man selbst bewege sich mit der Brücke entgegen der Wasserströmung. Weizsäcker und seine Schüler führten zu diesen Alltagserfahrungen des optokinetischen Schwindels neurophysiologische Experimente durch. Aus den Versuchsergebnissen zogen sie die Idee vom "Gestaltkreis". Mit der "Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" entwickelte Weizsäcker jedoch nicht nur ein Konzept zum Verhältnis von Motorik und Sensorium. Er entwarf ein Programm von Beobachtungsweisen und Denkmodellen, das dazu beitragen sollte, Wechselwirkungen "von Psyche und Soma", "von Subjekt und Objekt", "von Freiheit und Notwendigkeit" zu ergründen und "das Subjekt in die Biologie" einzuführen.
"Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen", lautete der erste Satz der Gestaltkreislehre. Die Neurophysiologie stützte sich damals hauptsächlich auf die Modelle der Reflexlehre mit den zwei Variablen Reiz und Bewegung sowie der Sinnesphysiologie mit den Kriterien Reiz und Empfindung. Die durch Interpretationen der Quantentheorie ausgelösten Erschütterungen der Physik hatten weder die Biologie noch die Medizin erreicht. Weizsäcker begann mit einer Reform der Wahrnehmungslehre. Er postulierte eine "kohärente Beziehung" eines jeden Lebewesens zu seiner Umwelt, in der eine Orientierung erst durch beides, Wahrnehmung und Sich-Bewegen, ermöglicht wird.
Aus der Erfahrung langjähriger klinischer Tätigkeit leitete Weizsäcker ab, daß nur ein System, welches alle drei Parameter - Reiz, Empfindung, Bewegung - enthält, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung beschreiben könne. Die beständige Veränderung und Durchdringung der Anschauungsorte, das Wechselspiel von Bewegung und Wahrnehmung war es, was Weizsäcker als "Gestaltkreis" im Sinnbild einer kreisförmig geschlossenen Abhängigkeit, als dynamisches Gleichgewicht zu veranschaulichen suchte. Ähnliche Kreismodelle entwickelten damals Jakob von Uexküll mit dem "Funktionskreis" (1920), Piaget mit der "sensomotorischen Zirkulärreaktion" (1936) und Wiener mit dem "Regelkreis" (1943). Die heute in den medizinischen Fächern gängigen Kreismodelle und "negativen Feedback-Mechanismen" gehen zumindest terminologisch auf diese Konzeptionen zurück - wenngleich sie selten das Subjekt einbeziehen.
Für die klinische Praxis forderte Weizsäcker, die Lehre von den gesunden und krankhaften Funktionen des Menschen nicht allein naturgesetzlich aufzubauen, sondern immer auch als "eine Kette von Erfahrungen, eigentlich eine Erzählung von Erfahrenem" zu verstehen. Er erschloß die sozialen Dimensionen der Krankheit und integrierte psychoanalytische Ansätze in die Deutung des Krankheitsvorgangs, um dessen "Organsprache zu entziffern". Denn in der Beurteilung eines Kranken werden Ärzte nicht zuletzt dadurch beeinflußt, daß sie das Kranksein bereits am eigenen Leib erfahren haben und deshalb womöglich so auf die Leiden anderer reagieren, "wie sie selbst davon betroffen waren, und so, statt die Vorgänge zu zergliedern, eine ältere eigene Vorstellung intellektuell von außen an sie anheften". Wie viele typische Beschwerden sich auch zu einer Krankheit fügen mögen: Durch die "objektive" Feststellung bestimmter Symptomenkomplexe wird die Wahrnehmung einer Krankheit nur unzureichend beschrieben. Der Kranke sagt "Ich bin krank" und nicht "Es ist krank".
Die grundsätzlich verschiedene Wahrnehmung Gesunder und Kranker hat Weizsäcker immer wieder beschäftigt. Beim Arzt verläßt das kranke Individuum den früheren subjektiven Zustand, indem es die eigene Schwäche objektiviert. Bereits während der ersten Kontakte zwischen Arzt und Patient machen die Symptome einen Ordnungs- und Bedeutungswandel durch, und das Ich, "sei es des Kranken, sei es des Arztes, sei es des Beobachteten, sei es des Beobachters", wird künstlich eliminiert.
Weizsäckers Wirkungsgeschichte war zwiespältig. Einerseits kann der Einfluß seiner Theorien auf Psychosomatik und anthropologische Medizin kaum überschätzt werden. Andererseits ist die Beschäftigung mit seinen Werken bisher recht lückenhaft gewesen: zu einer grundlegenden Veränderung der Medizin im Sinne Weizsäckers ist es erst recht nicht gekommen. Manche seiner Texte - insbesondere die physiologisch-neurologischen Detailschilderungen - sind nicht leicht zu erschließen. Die Sprache ist dicht und alles andere als gefällig. Zum Verständnis seiner eigenwilligen Spezialnomenklatur leistet ein Glossar im Apparat hilfreiche Dienste. Als Weizsäcker Freuds "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" las, sagte er: "Wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tun." Das gleiche mag für die Rezeption seiner eigenen Arbeiten gelten. WERNER BARTENS
Viktor von Weizsäcker: "Der Gestaltkreis". Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Gesammelte Schriften, Band 4. Bearbeitet von Dieter Janz, Wilhelm Rimpau und Walter Schindler unter Mitwirkung von Peter Achilles und Mechthilde Kütemeyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 679 S., geb., 78,- DM.
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Sich ewig der Gesunde nichts: Viktor von Weizsäcker wollte sich damit nicht abfinden
Unter achtundvierzig Heilkundigen, die das 1991 bei Beck erschienene Sammelwerk "Klassiker der Medizin" aufführt, ist Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) der Jüngste. Er hat wichtige Impulse für die klinische Medizin und ihre theoretischen Grundlagen gegeben, ist aber - anders als seine Zeitgenossen Karl Jaspers und Sigmund Freud - kaum über die Medizin hinaus populär geworden.
Weizsäcker gilt als Mitbegründer der Psychosomatik. Er wollte die Medizin aus ihrer Beschränkung auf mechanistisch-naturwissenschaftliche Prinzipien herauslösen. In der Hoffnung auf eine christliche Erneuerung des Denkens und Handelns hat er Grundlagen einer anthropologischen Medizin entworfen und in seiner "Pathosophie" philosophische Überlegungen zum Wesen von gesund und krank und zur "Theorie des Menschen" entfaltet. Der vorliegende vierte Band der auf zehn Bände angelegten Gesammelten Schriften enthält als Kernstück das wohl bekannteste Werk von Weizsäckers, seine Arbeiten über den "Gestaltkreis". Sie sind hauptsächlich in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden.
Wenn man von einer Flußbrücke herab auf fließendes Wasser schaut, erkennt man zunächst, daß es strömt. Häufig entsteht dann jedoch - scheinbar ohne besondere Ursache - der Eindruck, das Wasser stehe plötzlich still und man selbst bewege sich mit der Brücke entgegen der Wasserströmung. Weizsäcker und seine Schüler führten zu diesen Alltagserfahrungen des optokinetischen Schwindels neurophysiologische Experimente durch. Aus den Versuchsergebnissen zogen sie die Idee vom "Gestaltkreis". Mit der "Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen" entwickelte Weizsäcker jedoch nicht nur ein Konzept zum Verhältnis von Motorik und Sensorium. Er entwarf ein Programm von Beobachtungsweisen und Denkmodellen, das dazu beitragen sollte, Wechselwirkungen "von Psyche und Soma", "von Subjekt und Objekt", "von Freiheit und Notwendigkeit" zu ergründen und "das Subjekt in die Biologie" einzuführen.
"Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen", lautete der erste Satz der Gestaltkreislehre. Die Neurophysiologie stützte sich damals hauptsächlich auf die Modelle der Reflexlehre mit den zwei Variablen Reiz und Bewegung sowie der Sinnesphysiologie mit den Kriterien Reiz und Empfindung. Die durch Interpretationen der Quantentheorie ausgelösten Erschütterungen der Physik hatten weder die Biologie noch die Medizin erreicht. Weizsäcker begann mit einer Reform der Wahrnehmungslehre. Er postulierte eine "kohärente Beziehung" eines jeden Lebewesens zu seiner Umwelt, in der eine Orientierung erst durch beides, Wahrnehmung und Sich-Bewegen, ermöglicht wird.
Aus der Erfahrung langjähriger klinischer Tätigkeit leitete Weizsäcker ab, daß nur ein System, welches alle drei Parameter - Reiz, Empfindung, Bewegung - enthält, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung beschreiben könne. Die beständige Veränderung und Durchdringung der Anschauungsorte, das Wechselspiel von Bewegung und Wahrnehmung war es, was Weizsäcker als "Gestaltkreis" im Sinnbild einer kreisförmig geschlossenen Abhängigkeit, als dynamisches Gleichgewicht zu veranschaulichen suchte. Ähnliche Kreismodelle entwickelten damals Jakob von Uexküll mit dem "Funktionskreis" (1920), Piaget mit der "sensomotorischen Zirkulärreaktion" (1936) und Wiener mit dem "Regelkreis" (1943). Die heute in den medizinischen Fächern gängigen Kreismodelle und "negativen Feedback-Mechanismen" gehen zumindest terminologisch auf diese Konzeptionen zurück - wenngleich sie selten das Subjekt einbeziehen.
Für die klinische Praxis forderte Weizsäcker, die Lehre von den gesunden und krankhaften Funktionen des Menschen nicht allein naturgesetzlich aufzubauen, sondern immer auch als "eine Kette von Erfahrungen, eigentlich eine Erzählung von Erfahrenem" zu verstehen. Er erschloß die sozialen Dimensionen der Krankheit und integrierte psychoanalytische Ansätze in die Deutung des Krankheitsvorgangs, um dessen "Organsprache zu entziffern". Denn in der Beurteilung eines Kranken werden Ärzte nicht zuletzt dadurch beeinflußt, daß sie das Kranksein bereits am eigenen Leib erfahren haben und deshalb womöglich so auf die Leiden anderer reagieren, "wie sie selbst davon betroffen waren, und so, statt die Vorgänge zu zergliedern, eine ältere eigene Vorstellung intellektuell von außen an sie anheften". Wie viele typische Beschwerden sich auch zu einer Krankheit fügen mögen: Durch die "objektive" Feststellung bestimmter Symptomenkomplexe wird die Wahrnehmung einer Krankheit nur unzureichend beschrieben. Der Kranke sagt "Ich bin krank" und nicht "Es ist krank".
Die grundsätzlich verschiedene Wahrnehmung Gesunder und Kranker hat Weizsäcker immer wieder beschäftigt. Beim Arzt verläßt das kranke Individuum den früheren subjektiven Zustand, indem es die eigene Schwäche objektiviert. Bereits während der ersten Kontakte zwischen Arzt und Patient machen die Symptome einen Ordnungs- und Bedeutungswandel durch, und das Ich, "sei es des Kranken, sei es des Arztes, sei es des Beobachteten, sei es des Beobachters", wird künstlich eliminiert.
Weizsäckers Wirkungsgeschichte war zwiespältig. Einerseits kann der Einfluß seiner Theorien auf Psychosomatik und anthropologische Medizin kaum überschätzt werden. Andererseits ist die Beschäftigung mit seinen Werken bisher recht lückenhaft gewesen: zu einer grundlegenden Veränderung der Medizin im Sinne Weizsäckers ist es erst recht nicht gekommen. Manche seiner Texte - insbesondere die physiologisch-neurologischen Detailschilderungen - sind nicht leicht zu erschließen. Die Sprache ist dicht und alles andere als gefällig. Zum Verständnis seiner eigenwilligen Spezialnomenklatur leistet ein Glossar im Apparat hilfreiche Dienste. Als Weizsäcker Freuds "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" las, sagte er: "Wenn Könige bauen, haben die Kärrner zu tun." Das gleiche mag für die Rezeption seiner eigenen Arbeiten gelten. WERNER BARTENS
Viktor von Weizsäcker: "Der Gestaltkreis". Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Gesammelte Schriften, Band 4. Bearbeitet von Dieter Janz, Wilhelm Rimpau und Walter Schindler unter Mitwirkung von Peter Achilles und Mechthilde Kütemeyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 679 S., geb., 78,- DM.
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