Ende August 1961: In einem kleinen Krankenhauszimmer erwacht Rita Seidel aus ihrer Ohnmacht. Und mit dem Erwachen wird auch die Vergangenheit wieder lebendig. Da ist die Erinnerung an den Betriebsunfall und vor allem die Erinnerung an Manfred Herrfurth. Zwei Jahre sind vergangen, seit sie dem Chemiker in die Stadt folgte, um an seiner Seite und mit ihm gemeinsam ein glückliches Leben zu beginnen. Wann hat die Trennung begonnen? Hat sie die ersten Anzeichen einer Entfremdung übersehen? Denken, Grübeln, Fiebern - Tage und Nächte hindurch! "Ich gebe Dir Nachricht, wenn Du kommen sollst. Ich lebe nur für den Tag, da Du wieder bei mir bist." Manfred ist von einem Chemikerkongreß in Westberlin nicht zurückgekehrt in dem festen Glauben, daß Rita ihm folgen wird. Sie muß eine Entscheidung treffen, die sie in eine tiefe Krise stürzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2000Im Dauerlauf durch die innere Aufsichtsbehörde
Festhalten an der Chronologie eines Milieus: Die Werke Christa Wolfs · Von Peter Demetz
Christa Wolf, viel gerühmt und oft gescholten, gehört zu jenen raren Schriftstellerinnen, denen es nie an gleich gestimmten Leserinnen, aufmerksamen Kritikern pro und contra, Ehrungen und internationalen Literaturpreisen mangelte, und selbst die Auseinandersetzungen, die sie nach dem Fall der Mauer betrafen, hat sie mit einer Geduld überlebt, die an jenen Gleichmut grenzt, der schon Vieles erlebt hat. Die Frage ist nur, wen sie alle meinen, die DDR-Nostalgiker in Ost und West, die erzürnten älteren Linken (ich verstehe sie sehr gut), die ihr die Gespräche mit der Stasi nicht verzeihen wollen, die amerikanischen Verteidigerinnen der marxistischen Feministin oder die Bewahrer der alterwürdigen deutschen Innerlichkeit, die jetzt als Rammbock gegen die kapitalistische Technologie herhalten muss. Schwer zu entscheiden; sie selbst hat ihre Rollenspiele eifrig gefördert, indem sie sich bald als Stille im Lande in ihre Kate in Mecklenburg zurückzog, bald (während ihre Mitbürger in den brandenburgischen Schrebergärten saßen) kosmopolitisch zwischen Moskau, Athen, Zürich, Ohio und Los Angeles reiste und einen in der Moderne längst traditionellen Zweifel an der Sprache kultivierte, der sie mit einigem Erfolg daran hinderte, die Dinge bei Namen zu nennen.
Ist sie noch eine lebendige Frau, oder ein abstraktes Symbol des Widerstandes oder der Feigheit? Hat man sie nicht mit Ansprüchen, Erwartungen und politischen Projektionen überfordert, anstatt sie ruhig und gelassen zu lesen? Wir sind jetzt in der Lage, solche Fragen aus einigem Abstand überprüfen zu können, denn der Luchterhand Verlag hat sich entschlossen, eine zwölfbändige Werkausgabe ihrer erzählenden und essayistischen Schriften in chronologischer Folge herauszugeben. Die ersten vier Bände, präsentiert von Sonja Hilzinger, reichen vom Jahre 1959 bis 1980, und die ganze Edition soll bis Herbst 2001 abgeschlossen sein. Es ist aber eines, eine Werk- und Lese-Ausgabe aus guten Gründen chronologisch zu ordnen, und ein anderes, die Bücher in chronologischer Pedanterie auf den Markt zu bringen und die Leserschaft, auch der jüngsten Generation, wieder ins DDR-Museum zu drängen, und ihr einen Blick auf die spätere Prosa, zum Beispiel im "Sommerstück", zunächst vorzuenthalten. Die Herausgeberin ist sich dessen bewusst, dass sie, im Einverständnis mit der Autorin, einen willkürlichen Anfang setzt, indem sie die Aufsätze und Rezensionen, mit welchen die Leipziger Germanistin ihre Karriere begann, als rückwärts gewandte Zensorin wegen ihrer "ausgesprochenen Zeitbezogenheit" von der Veröffentlichung ausschließt. Wenn man nicht verstünde, dass die Herausgeberin, mit einer noblen Umschreibung, die parteipolitische Hörigkeit der jungen Autorin meint, die ihre schreibenden Kollegen damals jener kleinbürgerlichen Haltungen und ideologischer Fehler bezichtigte, die ihr später ihre Genossen an den Kopf werfen sollten. Zeitbezogen sind alle ihre Arbeiten, aber es kommt darauf an, wie. Wenn nicht die frühen Aufsätze, warum die "Moskauer Novelle", aus der Gartenlaube der Partei, oder der "Geteilte Himmel", in dem die Brigadegeschichte über den dubiosen Liebesroman triumphiert?
Jedenfalls führt die erneute Publikation der ersten Bücher wieder vor Augen, dass Christa Wolfs Entwicklung, wenn es eine ist, wenig Stetigkeit hat, eher fruchtbare Brüche, Verwerfungen und Diskontinuitäten. Gewiss; im "Geteilten Himmel" wie in "Nachdenken über Christa T." berichtet die Erzählerin über die Lebensschwierigkeiten junger Frauen, aber nichts deutet, innerhalb des ersten Romans, auf den jähen Wechsel zu einer intimeren Perspektive, und, im zweiten, auf die überraschende Wendung gegen eine allzu genau organisierte Gesellschaft hin. Die widersprüchliche Konstante der beiden ersten Romane liegt in einem geradezu metaphysischen Entweder-Oder der zentralen Figuren Rita und Christa T. Es wäre ja schön, wenn der Marxismus nichts anderes gefordert hätte als die edle "Selbstverwirklichung des Menschen", und nicht auch die Diktatur des Proletariats. Während Rita sich selber verwirklicht, indem sie die Parteilosungen als ihre Lebenswahrheit akzeptiert, geht Christa T. den entgegengesetzten Weg in die ländliche und private Zurückgezogenheit mit Mann und Kindern; sie hat, lange bevor die Leukämie sie dahinrafft, reine, aber merkwürdig, gelähmte Hände.
Die Katastrophe der frühen Romane sind die leblosen Liebesgeschichten, denn Christa Wolf ist eine scheue Autorin, die solche Affären nicht gerne erfindet, und mit Frauen, Männern, Leidenschaft und Gewalt mehr Glück hat, wenn sie sich auf literarische Vorlagen stützen darf, in der deutschen Romantik oder im archaischen Griechenland. Sie bewundert die "wilde Frau" des Mythos, ist aber keine, und was Rita und Christa T. "in puncto Liebe" erleben, hätte die prüde Leserschaft wilhelminischer Familienzeitschriften nicht gestört.
Die Herausgeberin hat jedem der Bände ein interpretierendes Nachwort, Kommentare über Entstehung, Stufen der Arbeit, Veröffentlichung und Rezeption, und instruktive Bibliographien beigefügt, und ich finde ihre besonderen Meriten nicht so sehr in der Interpretation (denn die bemüht sich, ein Körnchen feministischen Goldes auch noch dort zu entdecken, wo anderen nur das staatspolitische Felsgerölle entgegenstarrt) als in den Kommentaren über die Manuskriptstufen, die sie im Einzelnen charakterisiert, und die Verlags- und Ministerialmaschinerie, die auch Christa Wolfs Manuskripte durchlaufen mussten, ehe sie in die Druckerei gingen.
Also: zumindest fünf Arbeitsstufen für den "Geteilten Himmel", vier Fassungen des "Nachdenkens über Christa T.", die Gutachten der Verlagslektoren, das nachgelieferte Kapitel, das die Aufsichtsbehörden günstiger stimmen sollte. Die Autoren und Autorinnen, auch die loyalen, hatten kein leichtes Leben, und neben den kafkaesken Zügen fehlen auch die tragikomischen nicht, so im Falle des satirischen "kleinen Ausflugs nach H.(eldenstadt)", wo nämlich die positiven Helden des Sozialistischen Realismus im Ausgedinge leben - Gutachten über Gutachten, eine Ablehnung durch den Kulturminister, tapferer Vorstoß einer unermüdlichen Verlagslektorin, lange ohne Ergebnisse, ehe man den Text, in einer Fassung aus dem Jahre 1971, neun Jahre später im Westen und nach weiteren neun Jahren auch in Weimar publizierte. Man hätte ihn längst publizieren können, aber es fiel niemanden auf, dass die Satire (nicht Christa Wolfs Stärke) sich durch ihre pädagogischen Neigungen selbst zerstörte und die Leserschaft eher gelangweilt als zum Nachdenken über die Vergangenheit angeregt hätte.
Christa Wolf stand, als Autorin, immer im Mittelpunkt deutsch-deutscher Konflikte und Hoffnungen, und sie steht für viele immer noch dort, solange die Arbeitslosenrate in den neuen Bundesländern höher liegt als in den alten, und viele Deutsche ihre Gründe haben, an ein Biedermeier zurückzudenken, in dem die Leute freundlich zusammenrückten (wie zur Zeit Metternichs: immer ein Spitzel im Hause) und die Brigaden die einzelnen Waggonfenster mit dem Schraubenzieher einbauten. Mit Schwarz-Weiß Kontrasten ist es nicht getan, denn Christa Wolf war eine Verbündete des Regimes, eine sanfte Dissidentin in einem Lande ohne Opposition, und zugleich ein Opfer des Regimes. Ich will sie mit diesem Worte nicht mit jemanden vergleichen, der in Bautzen saß oder den man in den Westen verkaufte. Ihre Erfahrungen als Autorin sind von eigener Art. Indem sie sich, als Sozialistin und im inneren Dissens, zu definieren suchte, akzeptierte sie die ideologischen und parteipolitischen Voraussetzungen der Diskussion und bewegte sich auf ihrer provinziellen Ebene (das drückt das Niveau).
Die vorliegenden Aufsätze und Erzählungen (1960 bis 1980) enthalten die unerlässlichen Zeugnisse ihres theoretischen Gegendenkens im vorgegebenen Rahmen und der flatternden Aufschwünge im selbst gewählten Käfig; die wichtigen Arbeiten über Anna Seghers, in der sich eine Tochter von der Mutter zu emanzipieren beginnt, die theoretische Schlüsselbestimmung ihrer "subjektiven Authentizität" im Widerstand gegen die dogmatische "Widerspiegelung", den "Selbstversuch" (Stoff für eine gute Komödie), Träume "Unter den Linden" - anderes, wie "Juninachmittag", eine Gartenidylle mit West-Flugzeugen in der Luft darüber, hat ihre Tugend wieder einzig in Bezug auf die kulturpolitischen Situation von 1967, und das ist mehr als dreißig Jahre her.
Was bleibt? Eine gewisse Müdigkeit, Christa Wolfs Bücher, die mit gutem Recht ihre Gegenwart beanspruchen, nur im Hinblick auf den historischen Kontext, die Parteiforderungen, das zehnte oder elfte Plenum zu begründen und sie so als historische Dokumente ihrer Kunst zu berauben. Die Frage, ob sie sich in der Gesellschaft Margaret Atwoods, Simon de Beauvoirs, Dacia Marainis, Doris Lessings oder der Pragerin Daniela Hodrova befindet, Feministin oder nicht, ist allein aus ihren Büchern zu beurteilen, nicht aus ihren Hintergründen, Kontexten, Absichten oder Wurzeln. Zwölf Bände, die ein abgeschlossenes Werk suggerieren, genügen nicht.
Ich bewundere die Energie, mit welcher sie sich aus den Trümmern des DDR-Staates herauszuarbeiten trachtet, der sie mitzureißen drohte; den Freimut, mit dem sie von einer gewissen "Selbstironie" zu sprechen beginnt; das Interview mit Todd Vitlin (New York Times, 4. April 1993) oder das klarsichtige Prosastück "Begegnungen 3rd Street" im 500. Heft der "Neuen deutschen Literatur", in dem sie alte und neue Erfahrungen, auch als Stipendiatin der Getty Foundation in Los Angeles, genauer und ohne die üblichen Umschweife abwägt - Antizipationen, so hoffe ich, eines neuen Buches über ihr Lebensmuster, Nachdenken über Christa Wolf, ganz ohne Selbstzensur und ihre geradezu krankhafte Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Das wäre dann der dreizehnte Band, ganz authentische Subjektivität, und wahrhaftig ein Grundbuch unserer Epoche.
Christa Wolf: "Werke". Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger. Luchterhand Verlag, München 1999.
Band 1: "Der geteilte Himmel". 306 S., geb., 48,- DM.
Band 2: "Nachdenken über Christa T.". 238 S., geb., 38,- DM.
Band 3: "Erzählungen 1960 bis 1980". 598 S., geb., 48,- DM.
Band 4: "Essays / Gespräche / Reden / Briefe. 1959 bis 1974". 494 S., geb., 48,- DM.
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Festhalten an der Chronologie eines Milieus: Die Werke Christa Wolfs · Von Peter Demetz
Christa Wolf, viel gerühmt und oft gescholten, gehört zu jenen raren Schriftstellerinnen, denen es nie an gleich gestimmten Leserinnen, aufmerksamen Kritikern pro und contra, Ehrungen und internationalen Literaturpreisen mangelte, und selbst die Auseinandersetzungen, die sie nach dem Fall der Mauer betrafen, hat sie mit einer Geduld überlebt, die an jenen Gleichmut grenzt, der schon Vieles erlebt hat. Die Frage ist nur, wen sie alle meinen, die DDR-Nostalgiker in Ost und West, die erzürnten älteren Linken (ich verstehe sie sehr gut), die ihr die Gespräche mit der Stasi nicht verzeihen wollen, die amerikanischen Verteidigerinnen der marxistischen Feministin oder die Bewahrer der alterwürdigen deutschen Innerlichkeit, die jetzt als Rammbock gegen die kapitalistische Technologie herhalten muss. Schwer zu entscheiden; sie selbst hat ihre Rollenspiele eifrig gefördert, indem sie sich bald als Stille im Lande in ihre Kate in Mecklenburg zurückzog, bald (während ihre Mitbürger in den brandenburgischen Schrebergärten saßen) kosmopolitisch zwischen Moskau, Athen, Zürich, Ohio und Los Angeles reiste und einen in der Moderne längst traditionellen Zweifel an der Sprache kultivierte, der sie mit einigem Erfolg daran hinderte, die Dinge bei Namen zu nennen.
Ist sie noch eine lebendige Frau, oder ein abstraktes Symbol des Widerstandes oder der Feigheit? Hat man sie nicht mit Ansprüchen, Erwartungen und politischen Projektionen überfordert, anstatt sie ruhig und gelassen zu lesen? Wir sind jetzt in der Lage, solche Fragen aus einigem Abstand überprüfen zu können, denn der Luchterhand Verlag hat sich entschlossen, eine zwölfbändige Werkausgabe ihrer erzählenden und essayistischen Schriften in chronologischer Folge herauszugeben. Die ersten vier Bände, präsentiert von Sonja Hilzinger, reichen vom Jahre 1959 bis 1980, und die ganze Edition soll bis Herbst 2001 abgeschlossen sein. Es ist aber eines, eine Werk- und Lese-Ausgabe aus guten Gründen chronologisch zu ordnen, und ein anderes, die Bücher in chronologischer Pedanterie auf den Markt zu bringen und die Leserschaft, auch der jüngsten Generation, wieder ins DDR-Museum zu drängen, und ihr einen Blick auf die spätere Prosa, zum Beispiel im "Sommerstück", zunächst vorzuenthalten. Die Herausgeberin ist sich dessen bewusst, dass sie, im Einverständnis mit der Autorin, einen willkürlichen Anfang setzt, indem sie die Aufsätze und Rezensionen, mit welchen die Leipziger Germanistin ihre Karriere begann, als rückwärts gewandte Zensorin wegen ihrer "ausgesprochenen Zeitbezogenheit" von der Veröffentlichung ausschließt. Wenn man nicht verstünde, dass die Herausgeberin, mit einer noblen Umschreibung, die parteipolitische Hörigkeit der jungen Autorin meint, die ihre schreibenden Kollegen damals jener kleinbürgerlichen Haltungen und ideologischer Fehler bezichtigte, die ihr später ihre Genossen an den Kopf werfen sollten. Zeitbezogen sind alle ihre Arbeiten, aber es kommt darauf an, wie. Wenn nicht die frühen Aufsätze, warum die "Moskauer Novelle", aus der Gartenlaube der Partei, oder der "Geteilte Himmel", in dem die Brigadegeschichte über den dubiosen Liebesroman triumphiert?
Jedenfalls führt die erneute Publikation der ersten Bücher wieder vor Augen, dass Christa Wolfs Entwicklung, wenn es eine ist, wenig Stetigkeit hat, eher fruchtbare Brüche, Verwerfungen und Diskontinuitäten. Gewiss; im "Geteilten Himmel" wie in "Nachdenken über Christa T." berichtet die Erzählerin über die Lebensschwierigkeiten junger Frauen, aber nichts deutet, innerhalb des ersten Romans, auf den jähen Wechsel zu einer intimeren Perspektive, und, im zweiten, auf die überraschende Wendung gegen eine allzu genau organisierte Gesellschaft hin. Die widersprüchliche Konstante der beiden ersten Romane liegt in einem geradezu metaphysischen Entweder-Oder der zentralen Figuren Rita und Christa T. Es wäre ja schön, wenn der Marxismus nichts anderes gefordert hätte als die edle "Selbstverwirklichung des Menschen", und nicht auch die Diktatur des Proletariats. Während Rita sich selber verwirklicht, indem sie die Parteilosungen als ihre Lebenswahrheit akzeptiert, geht Christa T. den entgegengesetzten Weg in die ländliche und private Zurückgezogenheit mit Mann und Kindern; sie hat, lange bevor die Leukämie sie dahinrafft, reine, aber merkwürdig, gelähmte Hände.
Die Katastrophe der frühen Romane sind die leblosen Liebesgeschichten, denn Christa Wolf ist eine scheue Autorin, die solche Affären nicht gerne erfindet, und mit Frauen, Männern, Leidenschaft und Gewalt mehr Glück hat, wenn sie sich auf literarische Vorlagen stützen darf, in der deutschen Romantik oder im archaischen Griechenland. Sie bewundert die "wilde Frau" des Mythos, ist aber keine, und was Rita und Christa T. "in puncto Liebe" erleben, hätte die prüde Leserschaft wilhelminischer Familienzeitschriften nicht gestört.
Die Herausgeberin hat jedem der Bände ein interpretierendes Nachwort, Kommentare über Entstehung, Stufen der Arbeit, Veröffentlichung und Rezeption, und instruktive Bibliographien beigefügt, und ich finde ihre besonderen Meriten nicht so sehr in der Interpretation (denn die bemüht sich, ein Körnchen feministischen Goldes auch noch dort zu entdecken, wo anderen nur das staatspolitische Felsgerölle entgegenstarrt) als in den Kommentaren über die Manuskriptstufen, die sie im Einzelnen charakterisiert, und die Verlags- und Ministerialmaschinerie, die auch Christa Wolfs Manuskripte durchlaufen mussten, ehe sie in die Druckerei gingen.
Also: zumindest fünf Arbeitsstufen für den "Geteilten Himmel", vier Fassungen des "Nachdenkens über Christa T.", die Gutachten der Verlagslektoren, das nachgelieferte Kapitel, das die Aufsichtsbehörden günstiger stimmen sollte. Die Autoren und Autorinnen, auch die loyalen, hatten kein leichtes Leben, und neben den kafkaesken Zügen fehlen auch die tragikomischen nicht, so im Falle des satirischen "kleinen Ausflugs nach H.(eldenstadt)", wo nämlich die positiven Helden des Sozialistischen Realismus im Ausgedinge leben - Gutachten über Gutachten, eine Ablehnung durch den Kulturminister, tapferer Vorstoß einer unermüdlichen Verlagslektorin, lange ohne Ergebnisse, ehe man den Text, in einer Fassung aus dem Jahre 1971, neun Jahre später im Westen und nach weiteren neun Jahren auch in Weimar publizierte. Man hätte ihn längst publizieren können, aber es fiel niemanden auf, dass die Satire (nicht Christa Wolfs Stärke) sich durch ihre pädagogischen Neigungen selbst zerstörte und die Leserschaft eher gelangweilt als zum Nachdenken über die Vergangenheit angeregt hätte.
Christa Wolf stand, als Autorin, immer im Mittelpunkt deutsch-deutscher Konflikte und Hoffnungen, und sie steht für viele immer noch dort, solange die Arbeitslosenrate in den neuen Bundesländern höher liegt als in den alten, und viele Deutsche ihre Gründe haben, an ein Biedermeier zurückzudenken, in dem die Leute freundlich zusammenrückten (wie zur Zeit Metternichs: immer ein Spitzel im Hause) und die Brigaden die einzelnen Waggonfenster mit dem Schraubenzieher einbauten. Mit Schwarz-Weiß Kontrasten ist es nicht getan, denn Christa Wolf war eine Verbündete des Regimes, eine sanfte Dissidentin in einem Lande ohne Opposition, und zugleich ein Opfer des Regimes. Ich will sie mit diesem Worte nicht mit jemanden vergleichen, der in Bautzen saß oder den man in den Westen verkaufte. Ihre Erfahrungen als Autorin sind von eigener Art. Indem sie sich, als Sozialistin und im inneren Dissens, zu definieren suchte, akzeptierte sie die ideologischen und parteipolitischen Voraussetzungen der Diskussion und bewegte sich auf ihrer provinziellen Ebene (das drückt das Niveau).
Die vorliegenden Aufsätze und Erzählungen (1960 bis 1980) enthalten die unerlässlichen Zeugnisse ihres theoretischen Gegendenkens im vorgegebenen Rahmen und der flatternden Aufschwünge im selbst gewählten Käfig; die wichtigen Arbeiten über Anna Seghers, in der sich eine Tochter von der Mutter zu emanzipieren beginnt, die theoretische Schlüsselbestimmung ihrer "subjektiven Authentizität" im Widerstand gegen die dogmatische "Widerspiegelung", den "Selbstversuch" (Stoff für eine gute Komödie), Träume "Unter den Linden" - anderes, wie "Juninachmittag", eine Gartenidylle mit West-Flugzeugen in der Luft darüber, hat ihre Tugend wieder einzig in Bezug auf die kulturpolitischen Situation von 1967, und das ist mehr als dreißig Jahre her.
Was bleibt? Eine gewisse Müdigkeit, Christa Wolfs Bücher, die mit gutem Recht ihre Gegenwart beanspruchen, nur im Hinblick auf den historischen Kontext, die Parteiforderungen, das zehnte oder elfte Plenum zu begründen und sie so als historische Dokumente ihrer Kunst zu berauben. Die Frage, ob sie sich in der Gesellschaft Margaret Atwoods, Simon de Beauvoirs, Dacia Marainis, Doris Lessings oder der Pragerin Daniela Hodrova befindet, Feministin oder nicht, ist allein aus ihren Büchern zu beurteilen, nicht aus ihren Hintergründen, Kontexten, Absichten oder Wurzeln. Zwölf Bände, die ein abgeschlossenes Werk suggerieren, genügen nicht.
Ich bewundere die Energie, mit welcher sie sich aus den Trümmern des DDR-Staates herauszuarbeiten trachtet, der sie mitzureißen drohte; den Freimut, mit dem sie von einer gewissen "Selbstironie" zu sprechen beginnt; das Interview mit Todd Vitlin (New York Times, 4. April 1993) oder das klarsichtige Prosastück "Begegnungen 3rd Street" im 500. Heft der "Neuen deutschen Literatur", in dem sie alte und neue Erfahrungen, auch als Stipendiatin der Getty Foundation in Los Angeles, genauer und ohne die üblichen Umschweife abwägt - Antizipationen, so hoffe ich, eines neuen Buches über ihr Lebensmuster, Nachdenken über Christa Wolf, ganz ohne Selbstzensur und ihre geradezu krankhafte Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Das wäre dann der dreizehnte Band, ganz authentische Subjektivität, und wahrhaftig ein Grundbuch unserer Epoche.
Christa Wolf: "Werke". Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger. Luchterhand Verlag, München 1999.
Band 1: "Der geteilte Himmel". 306 S., geb., 48,- DM.
Band 2: "Nachdenken über Christa T.". 238 S., geb., 38,- DM.
Band 3: "Erzählungen 1960 bis 1980". 598 S., geb., 48,- DM.
Band 4: "Essays / Gespräche / Reden / Briefe. 1959 bis 1974". 494 S., geb., 48,- DM.
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