Europas Kriege haben die Welt verändert. Kriege erzwangen seine Vorherrschaft in der Welt, Kriege beendeten sie. Kriege waren die Geburtshelfer von Nationen und Nationalstaaten, Kriege verhalfen Revolutionen zum Erfolg. Warum die Menschen immer wieder auf Krieg und Gewalt setzten, um ihre Ziele zu erreichen, davon handelt das Buch des renommierten Historikers Dieter Langewiesche.
Dass der Krieg eine historische Gestaltungskraft ersten Ranges ist, gehört zu den unbequemsten Wahrheiten der Geschichte. Und sie ist weiterhin aktuell. Nicht nur gibt es immer noch Kriege auf der Welt, selbst "humanitäre Interventionen" oder der Kampf gegen den Terror kommen ohne kriegerische Einsätze nicht aus. Warum aber greifen Menschen und Staaten überhaupt zum Mittel des Krieges? Wie haben Kriege Wandel ermöglicht oder verhindert? War der Krieg im europäischen Laboratorium der Staats- und Gesellschaftsordnungen sogar unverzichtbar? Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Fragen und legt nun eine grundlegende Analyse vor, in der es nicht um Pulverdampf und Schlachtenlärm geht, sondern um den Ort des Krieges in der Geschichte der Moderne.
Dass der Krieg eine historische Gestaltungskraft ersten Ranges ist, gehört zu den unbequemsten Wahrheiten der Geschichte. Und sie ist weiterhin aktuell. Nicht nur gibt es immer noch Kriege auf der Welt, selbst "humanitäre Interventionen" oder der Kampf gegen den Terror kommen ohne kriegerische Einsätze nicht aus. Warum aber greifen Menschen und Staaten überhaupt zum Mittel des Krieges? Wie haben Kriege Wandel ermöglicht oder verhindert? War der Krieg im europäischen Laboratorium der Staats- und Gesellschaftsordnungen sogar unverzichtbar? Der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit diesen Fragen und legt nun eine grundlegende Analyse vor, in der es nicht um Pulverdampf und Schlachtenlärm geht, sondern um den Ort des Krieges in der Geschichte der Moderne.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Wolfgang Schneider bangt um den Frieden nach der Lektüre von Dieter Langewiesches Versuch, Gewalt und Kriege als Motor der Geschichte abzubilden. Diese "verdrängte" Wahrheit kann ihm der Historiker sachlich und ruhig ins Gedächtnis rufen. Globalhistorisch stellt er dabei die Idee des neuen asymmetrischen Krieges in Frage, so Schneider. Begriffe wie Nation, Revolution und Kolonialismus werden im Buch laut Rezensent ausführlich erörtert. Die Hoffnung des Autors, weitreichende Kooperationen mögen den Krieg weiterhin verhindern, teilt Schneider natürlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2019Eine halbierte Moderne
„Der gewaltsame Lehrer“: Dieter Langewiesche fragt, warum Menschen immer wieder auf Krieg setzten
Lange Zeit wurde Geschichte als die Geschichte von Kriegen und Feldherren erzählt. Schüler mussten Gefechte und Truppenbewegungen auswendig lernen, und das öffentliche Gedenken orientierte sich an Generälen, siegreichen Schlachten und immer mehr auch an heldenhaft gefallenen Soldaten. „Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König“, so hatte schon Heraklit argumentiert.
Spätestens seit den 1970er-Jahren wurde Geschichte vielfach zur Revolutionsgeschichte, der Alltag kam in den Blick, die Arbeiter tauchten auf – und hatten die sich nicht mit Manneskraft und, tja, mit Gewalt die Freiheit erkämpft? Die neuen Meistererzählungen wandelten sich von Schlachten- zu Barrikaden-Gesängen, die demokratischen Zeiten bedurften neuer Gründungsmythen. Die Kriegshelden verblassten. Von Königgrätz zur Bastille, von Moltke zu Liebknecht. Nun hat Dieter Langewiesche ein Buch über den Krieg als Lehrmeister vorgelegt. Kehrt hier ein Altmeister, einer der großen Historiker des Landes, zu den alten Erzählungen zurück?
Natürlich nicht. Langewiesche argumentiert umsichtig, und mit Bedacht präsentiert er die Kriegsnarrative. Immer wieder verweist er auf Ausnahmen, auf entscheidende Entwicklungen, die ohne Krieg auskamen. In seinem voluminösen Werk über „Europas Kriege in der Moderne“, so der Untertitel, kommt der Tübinger Historiker gleichwohl zu dem Schluss, dass etwas dran sei an der Behauptung vom Krieg als Vater aller Dinge. Kein Fortschritt ohne Krieg, diese Vorstellung habe der Moderne vom 18. Jahrhundert bis heute den Stempel aufgedrückt, ob uns das gefalle oder nicht. Langewiesche bietet keine Kriegsbeschreibungen. Er sucht nach Antworten auf die Frage, warum Menschen immer wieder zum Mittel des Kriegs gegriffen haben, um die Welt zu verändern.
In einem einleitenden Teil legt er die ideengeschichtlichen Zusammenhänge von Kant bis zu den bewaffneten humanitären Interventionen im 21. Jahrhundert dar. In vier weiteren Kapiteln plausibilisiert Langewiesche seine These jeweils anhand eines großen Areals, in dem Krieg die moderne Welt geprägt, vorangebracht oder doch entscheidend verändert habe: der Krieg als Gestalter der globalen Ordnung, als Garant für die erfolgreiche Revolution, als Vater der Nation und schließlich als Begründer und als Totengräber der Kolonialreiche. Deutlich werden in den Ausführungen die grausamen Seiten des Krieges, aber auch – seit der Moderne – seine vielfache Verwobenheit mit Revolutionen.
Besonderes lohnend ist das Kapitel über Nation und Nationalismus, eines der zentralen Forschungsgebiete Langewiesches. Tatsächlich gründen die meisten Nationen auf Kriegen. Die Nation aber gehört zu den erfolgreichsten Institutionen der Moderne, sie ist ein europäischer Exportschlager. Ihre Attraktivität bringt Langewiesche treffend auf den Punkt – und allein für diese Einsicht ist das Buch wichtig in einer Zeit, in der Intellektuelle oft nur die Schattenseiten dieses Konzepts zu sehen vermögen: Nation ist ein „Gleichheitsvehikel“; Nation ist ein offenes Konzept, das Veränderungen zulässt und damit Fortschritt fördert; dazu gehört, dass Nation als „Zentralisierungsmaschine“ fungiert, die einen effektiven Staat und Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht.
Langewiesche kann also anhand der Nation einleuchtend das Narrativ von Fortschritt und Krieg aufzeigen. Dabei haben häufig erst die Geschichten von nationaler Identität diese Verbindung geschaffen, durchaus nicht immer in Übereinstimmung mit den historischen Gegebenheiten, wie der Historiker betont. So deuteten etwa die deutschen Liberalen die „Freiheitskriege“ gegen Napoleon später in eine Volkserhebung um, damit sie für das vermeintlich national kämpfende Mannesvolk Verfassung und Mitbestimmung am Staatsgeschehen einfordern konnten.
Auch sonst ist das Buch voll kluger Einsichten. Das 19. Jahrhundert konnte deswegen das europäische Jahrhundert werden, so eine zentrale These, weil Europa mit dem „gehegten Krieg“ einen „Sonderweg des Krieges“ ging. Ein bewaffneter Konflikt lieferte die Zivilbevölkerung nicht mehr der Gewalt aus; Krieg wurde zu einem Geschäft zwischen Kriegern und zwischen staatlichen Armeen. Das eröffnete Ressourcen für wirtschaftlichen Fortschritt und koloniale Projekte. Bedenkenswert ist auch Langewiesches Interpretation von 1917. Die unverhoffte Proklamation von „Demokratie“ als Kriegslegitimation und Kriegsziel durch die Alliierten sei ein Widerruf des 19. Jahrhunderts gewesen, in dem die Staatenlenker gelernt hatten, um des Friedens willen die unterschiedlichen Herrschaftsformen zu tolerieren.
Eine große Stärke der Studie ist gewiss ihr globaler Horizont. Die fortschrittsoptimistische Aufbruchszeit um 1900 etwa zeigt im globalen Kontext ihr dunkles Gesicht. Während Europa in lang anhaltendem Frieden blühte, betrieben die europäischen Kolonialherren auf anderen Kontinenten grausame Kriege. Briten, Italiener, Deutsche, Belgier, sie alle richteten Massaker an der indigenen Bevölkerung an und ordneten „Vernichtung“ ganzer Völker in ihr Vokabular und ihren Alltag ein.
Doch wird hier nicht die Argumentationskette brüchig? Wie kriegslüstern waren die Menschen vor dem Ersten Weltkrieg? Schon Langewiesches Argumentation für die Zeit um 1800 wirkt nicht gänzlich überzeugend. Ausgerechnet Kant muss hier als Fürsprecher des Krieges herhalten, und die Abscheu des intellektuellen Europas gegen die revolutionäre Gewalt findet kaum Berücksichtigung. Gerade auch das Entsetzen der Zeitgenossen über die revolutionären Kriege Frankreichs, auf das der Germanist Hans-Jürgen Schings hingewiesen hat, bleibt unterbelichtet. Für die Vorkriegszeit um 1900 aber unterschlägt Langewiesche die aufkeimende Friedensbewegung, die zivilgesellschaftlichen Aufbrüche, die lebensweltliche Selbstverständlichkeit des Friedens für die europäische Bevölkerung.
Vor allem aber stellt sich die Frage, welche Kriege im zwanzigsten Jahrhundert das Wohl der Menschheit eher befördert und welche es eher zerstört haben. Und können sich die heutigen militärischen Interventionen im Namen der Humanität als Fortsetzung des alten Glaubens an den Krieg interpretieren lassen – oder sind sie nicht vielmehr ein Ausdruck dessen, dass eine aufkeimende Weltgesellschaft versucht, Krieg und Gewalt zu bannen?
Überhaupt: Kausalität ist ein scheues Reh. Gewiss waren Kriege wichtig und oft entscheidend. Aber lässt sich dasselbe nicht auch von der Liebe sagen? Oder vom Geld oder der Sehnsucht nach Macht? Isnt’t it the economy? Hatten vielleicht all die europäischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts recht, die in der Revolution Verderbnis sahen und in Reformen das Heil suchten?
Lässt sich nicht mit ebenso viel Scharfsinn argumentieren, der Antriebsmotor für die entscheidenden Neuerungen im 19. Jahrhundert seien Reformen gewesen, während Revolutionen meist in der Reaktion endeten, ob mit erfolgreichem Krieg wie in Frankreich, als sich Napoleon die Tyrannenkrone aufsetzte, oder ohne Krieg wie 1848? Für die heutige Zeit tendiert die Transformationsforschung ohnehin zu der Einsicht, dass Krieg und Revolutionen eher zu Diktaturen, Reformen hingegen eher zu Demokratien führen, die wir wohl aufseiten des Fortschritts verbuchen können. Langewiesche selbst zitiert den Historiker James Sheehan, der von der Friedenszeit nach 1945 als von einer „unsichtbaren Revolution“ spricht – also: von einer tief greifenden, gewaltfreien Reform.
Am Schluss seines Buches schließlich weist der Autor auf die großen Chancen hin, die Europa, dieses schönste Kind der neuen Zeit, bietet. Wäre es dann nicht wichtig gewesen, die These vom Krieg als großem Lehrmeister fundamental zu relativieren? Haben nicht die Sehnsucht und das Bemühen um Frieden eine ebenso lange und mindestens so effektive Geschichte in der Moderne wie der Krieg? Die Fixierung auf den Krieg, der hier häufig die Revolution impliziert, gestaltet sich also selbst in Dieter Langewiesches abwägender Studie als Problem. Reformen und gewaltferne Triebkräfte ausblendend und auf einen Faktor setzend entgeht ihm nicht zuletzt die Hälfte der Menschheit. Sieht man von wenigen und wenig überzeugenden Sätzen über die Frauen ab, so verblüfft das Buch mit einer stupenden Geschlechterblindheit.
Wie kann man über Krieg schreiben, ohne über Männlichkeitsvorstellungen und die Exklusion von Frauen zu reflektieren? Wie lassen sich Kriege- und Revolutionsmotive analysieren, ohne im Blick zu haben, dass es hier immer auch um Geschlechterordnungen und -hierarchien geht? Es gibt hierzu eine Fülle an Forschung von Karen Hagemann über Ute Frevert und Sonja Levsen bis hin zu Joshua S. Goldstein. Die Geschichte der Frauen ist viel eher einer Geschichte der Reformen, häufig eine Geschichte der Domestizierung von Politik – eine Erfolgsgeschichte, die nicht in Langewiesches martialisches Fortschrittsnarrativ passt. Die Feststellung, dass die Hälfte der Menschheit fehlt, ist keine moralische Kritik, sondern der Hinweis auf ein faszinierendes Phänomen.
An einer Stelle schreibt Langewiesche von den „Bewegungsbegriffen“, die sich aus dem modernen Glauben ergaben, dass Geschichte gestaltbar und Fortschritt machbar sei: Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, „auch Darwinismus und Feminismus“, der wirkmächtigste von allen Fortschrittsbegriffen aber sei wohl der Nationalismus. Ja? Doch wie erstaunlich, wie revolutionär ist der Aufstieg der Frauen zu gleichberechtigten Menschen.
Mit dem Bruch der alten Geschlechterordnung, in der Frauen als die Anderen und Minderwertigen gelten, löst sich die wohl tiefste und älteste Struktur menschlicher Gesellschaften auf. Es bleibt eine spannende Forschungsfrage, warum die meisten Moderneerzählungen und viele Menschheitsgeschichten ohne diese Umwälzung präsentiert werden. Das gelehrte, in vielerlei Hinsicht lesenswerte Buch von Dieter Langewiesche zeigt beispielhaft, wie und warum heute noch Frauen aus der Menschheit ausgeblendet werden können.
HEDWIG RICHTER
Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2019. 512 Seiten, 32 Euro.
Die Nation war
„Gleichheitsvehikel“ und
„Zentralisierungsmaschine“
Wie erstaunlich, wie revolutionär
ist der Aufstieg der Frauen
zu gleichberechtigten Menschen
Als der Krieg zum Volkskrieg wurde: Ferdinand Hodlers
„Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg von 1813“
in der Aula der Universität Jena.
Foto: picture alliance / Universität
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Der gewaltsame Lehrer“: Dieter Langewiesche fragt, warum Menschen immer wieder auf Krieg setzten
Lange Zeit wurde Geschichte als die Geschichte von Kriegen und Feldherren erzählt. Schüler mussten Gefechte und Truppenbewegungen auswendig lernen, und das öffentliche Gedenken orientierte sich an Generälen, siegreichen Schlachten und immer mehr auch an heldenhaft gefallenen Soldaten. „Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König“, so hatte schon Heraklit argumentiert.
Spätestens seit den 1970er-Jahren wurde Geschichte vielfach zur Revolutionsgeschichte, der Alltag kam in den Blick, die Arbeiter tauchten auf – und hatten die sich nicht mit Manneskraft und, tja, mit Gewalt die Freiheit erkämpft? Die neuen Meistererzählungen wandelten sich von Schlachten- zu Barrikaden-Gesängen, die demokratischen Zeiten bedurften neuer Gründungsmythen. Die Kriegshelden verblassten. Von Königgrätz zur Bastille, von Moltke zu Liebknecht. Nun hat Dieter Langewiesche ein Buch über den Krieg als Lehrmeister vorgelegt. Kehrt hier ein Altmeister, einer der großen Historiker des Landes, zu den alten Erzählungen zurück?
Natürlich nicht. Langewiesche argumentiert umsichtig, und mit Bedacht präsentiert er die Kriegsnarrative. Immer wieder verweist er auf Ausnahmen, auf entscheidende Entwicklungen, die ohne Krieg auskamen. In seinem voluminösen Werk über „Europas Kriege in der Moderne“, so der Untertitel, kommt der Tübinger Historiker gleichwohl zu dem Schluss, dass etwas dran sei an der Behauptung vom Krieg als Vater aller Dinge. Kein Fortschritt ohne Krieg, diese Vorstellung habe der Moderne vom 18. Jahrhundert bis heute den Stempel aufgedrückt, ob uns das gefalle oder nicht. Langewiesche bietet keine Kriegsbeschreibungen. Er sucht nach Antworten auf die Frage, warum Menschen immer wieder zum Mittel des Kriegs gegriffen haben, um die Welt zu verändern.
In einem einleitenden Teil legt er die ideengeschichtlichen Zusammenhänge von Kant bis zu den bewaffneten humanitären Interventionen im 21. Jahrhundert dar. In vier weiteren Kapiteln plausibilisiert Langewiesche seine These jeweils anhand eines großen Areals, in dem Krieg die moderne Welt geprägt, vorangebracht oder doch entscheidend verändert habe: der Krieg als Gestalter der globalen Ordnung, als Garant für die erfolgreiche Revolution, als Vater der Nation und schließlich als Begründer und als Totengräber der Kolonialreiche. Deutlich werden in den Ausführungen die grausamen Seiten des Krieges, aber auch – seit der Moderne – seine vielfache Verwobenheit mit Revolutionen.
Besonderes lohnend ist das Kapitel über Nation und Nationalismus, eines der zentralen Forschungsgebiete Langewiesches. Tatsächlich gründen die meisten Nationen auf Kriegen. Die Nation aber gehört zu den erfolgreichsten Institutionen der Moderne, sie ist ein europäischer Exportschlager. Ihre Attraktivität bringt Langewiesche treffend auf den Punkt – und allein für diese Einsicht ist das Buch wichtig in einer Zeit, in der Intellektuelle oft nur die Schattenseiten dieses Konzepts zu sehen vermögen: Nation ist ein „Gleichheitsvehikel“; Nation ist ein offenes Konzept, das Veränderungen zulässt und damit Fortschritt fördert; dazu gehört, dass Nation als „Zentralisierungsmaschine“ fungiert, die einen effektiven Staat und Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht.
Langewiesche kann also anhand der Nation einleuchtend das Narrativ von Fortschritt und Krieg aufzeigen. Dabei haben häufig erst die Geschichten von nationaler Identität diese Verbindung geschaffen, durchaus nicht immer in Übereinstimmung mit den historischen Gegebenheiten, wie der Historiker betont. So deuteten etwa die deutschen Liberalen die „Freiheitskriege“ gegen Napoleon später in eine Volkserhebung um, damit sie für das vermeintlich national kämpfende Mannesvolk Verfassung und Mitbestimmung am Staatsgeschehen einfordern konnten.
Auch sonst ist das Buch voll kluger Einsichten. Das 19. Jahrhundert konnte deswegen das europäische Jahrhundert werden, so eine zentrale These, weil Europa mit dem „gehegten Krieg“ einen „Sonderweg des Krieges“ ging. Ein bewaffneter Konflikt lieferte die Zivilbevölkerung nicht mehr der Gewalt aus; Krieg wurde zu einem Geschäft zwischen Kriegern und zwischen staatlichen Armeen. Das eröffnete Ressourcen für wirtschaftlichen Fortschritt und koloniale Projekte. Bedenkenswert ist auch Langewiesches Interpretation von 1917. Die unverhoffte Proklamation von „Demokratie“ als Kriegslegitimation und Kriegsziel durch die Alliierten sei ein Widerruf des 19. Jahrhunderts gewesen, in dem die Staatenlenker gelernt hatten, um des Friedens willen die unterschiedlichen Herrschaftsformen zu tolerieren.
Eine große Stärke der Studie ist gewiss ihr globaler Horizont. Die fortschrittsoptimistische Aufbruchszeit um 1900 etwa zeigt im globalen Kontext ihr dunkles Gesicht. Während Europa in lang anhaltendem Frieden blühte, betrieben die europäischen Kolonialherren auf anderen Kontinenten grausame Kriege. Briten, Italiener, Deutsche, Belgier, sie alle richteten Massaker an der indigenen Bevölkerung an und ordneten „Vernichtung“ ganzer Völker in ihr Vokabular und ihren Alltag ein.
Doch wird hier nicht die Argumentationskette brüchig? Wie kriegslüstern waren die Menschen vor dem Ersten Weltkrieg? Schon Langewiesches Argumentation für die Zeit um 1800 wirkt nicht gänzlich überzeugend. Ausgerechnet Kant muss hier als Fürsprecher des Krieges herhalten, und die Abscheu des intellektuellen Europas gegen die revolutionäre Gewalt findet kaum Berücksichtigung. Gerade auch das Entsetzen der Zeitgenossen über die revolutionären Kriege Frankreichs, auf das der Germanist Hans-Jürgen Schings hingewiesen hat, bleibt unterbelichtet. Für die Vorkriegszeit um 1900 aber unterschlägt Langewiesche die aufkeimende Friedensbewegung, die zivilgesellschaftlichen Aufbrüche, die lebensweltliche Selbstverständlichkeit des Friedens für die europäische Bevölkerung.
Vor allem aber stellt sich die Frage, welche Kriege im zwanzigsten Jahrhundert das Wohl der Menschheit eher befördert und welche es eher zerstört haben. Und können sich die heutigen militärischen Interventionen im Namen der Humanität als Fortsetzung des alten Glaubens an den Krieg interpretieren lassen – oder sind sie nicht vielmehr ein Ausdruck dessen, dass eine aufkeimende Weltgesellschaft versucht, Krieg und Gewalt zu bannen?
Überhaupt: Kausalität ist ein scheues Reh. Gewiss waren Kriege wichtig und oft entscheidend. Aber lässt sich dasselbe nicht auch von der Liebe sagen? Oder vom Geld oder der Sehnsucht nach Macht? Isnt’t it the economy? Hatten vielleicht all die europäischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts recht, die in der Revolution Verderbnis sahen und in Reformen das Heil suchten?
Lässt sich nicht mit ebenso viel Scharfsinn argumentieren, der Antriebsmotor für die entscheidenden Neuerungen im 19. Jahrhundert seien Reformen gewesen, während Revolutionen meist in der Reaktion endeten, ob mit erfolgreichem Krieg wie in Frankreich, als sich Napoleon die Tyrannenkrone aufsetzte, oder ohne Krieg wie 1848? Für die heutige Zeit tendiert die Transformationsforschung ohnehin zu der Einsicht, dass Krieg und Revolutionen eher zu Diktaturen, Reformen hingegen eher zu Demokratien führen, die wir wohl aufseiten des Fortschritts verbuchen können. Langewiesche selbst zitiert den Historiker James Sheehan, der von der Friedenszeit nach 1945 als von einer „unsichtbaren Revolution“ spricht – also: von einer tief greifenden, gewaltfreien Reform.
Am Schluss seines Buches schließlich weist der Autor auf die großen Chancen hin, die Europa, dieses schönste Kind der neuen Zeit, bietet. Wäre es dann nicht wichtig gewesen, die These vom Krieg als großem Lehrmeister fundamental zu relativieren? Haben nicht die Sehnsucht und das Bemühen um Frieden eine ebenso lange und mindestens so effektive Geschichte in der Moderne wie der Krieg? Die Fixierung auf den Krieg, der hier häufig die Revolution impliziert, gestaltet sich also selbst in Dieter Langewiesches abwägender Studie als Problem. Reformen und gewaltferne Triebkräfte ausblendend und auf einen Faktor setzend entgeht ihm nicht zuletzt die Hälfte der Menschheit. Sieht man von wenigen und wenig überzeugenden Sätzen über die Frauen ab, so verblüfft das Buch mit einer stupenden Geschlechterblindheit.
Wie kann man über Krieg schreiben, ohne über Männlichkeitsvorstellungen und die Exklusion von Frauen zu reflektieren? Wie lassen sich Kriege- und Revolutionsmotive analysieren, ohne im Blick zu haben, dass es hier immer auch um Geschlechterordnungen und -hierarchien geht? Es gibt hierzu eine Fülle an Forschung von Karen Hagemann über Ute Frevert und Sonja Levsen bis hin zu Joshua S. Goldstein. Die Geschichte der Frauen ist viel eher einer Geschichte der Reformen, häufig eine Geschichte der Domestizierung von Politik – eine Erfolgsgeschichte, die nicht in Langewiesches martialisches Fortschrittsnarrativ passt. Die Feststellung, dass die Hälfte der Menschheit fehlt, ist keine moralische Kritik, sondern der Hinweis auf ein faszinierendes Phänomen.
An einer Stelle schreibt Langewiesche von den „Bewegungsbegriffen“, die sich aus dem modernen Glauben ergaben, dass Geschichte gestaltbar und Fortschritt machbar sei: Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, „auch Darwinismus und Feminismus“, der wirkmächtigste von allen Fortschrittsbegriffen aber sei wohl der Nationalismus. Ja? Doch wie erstaunlich, wie revolutionär ist der Aufstieg der Frauen zu gleichberechtigten Menschen.
Mit dem Bruch der alten Geschlechterordnung, in der Frauen als die Anderen und Minderwertigen gelten, löst sich die wohl tiefste und älteste Struktur menschlicher Gesellschaften auf. Es bleibt eine spannende Forschungsfrage, warum die meisten Moderneerzählungen und viele Menschheitsgeschichten ohne diese Umwälzung präsentiert werden. Das gelehrte, in vielerlei Hinsicht lesenswerte Buch von Dieter Langewiesche zeigt beispielhaft, wie und warum heute noch Frauen aus der Menschheit ausgeblendet werden können.
HEDWIG RICHTER
Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2019. 512 Seiten, 32 Euro.
Die Nation war
„Gleichheitsvehikel“ und
„Zentralisierungsmaschine“
Wie erstaunlich, wie revolutionär
ist der Aufstieg der Frauen
zu gleichberechtigten Menschen
Als der Krieg zum Volkskrieg wurde: Ferdinand Hodlers
„Auszug deutscher Studenten in den Freiheitskrieg von 1813“
in der Aula der Universität Jena.
Foto: picture alliance / Universität
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2019Die revolutionäre Nation bewährt sich im Kampf
Gewaltsam sind nicht nur seine Mittel, sondern auch seine Wirkung: Dieter Langewiesche erkundet die historische Gestaltungskraft des Krieges in der Moderne.
Im Januar 1793 machte Christoph Martin Wieland sich Gedanken über die außenpolitische Situation, die durch die Französische Revolution entstanden war: " Nur eine anhaltende Verwicklung der Nation in die Gefahren und Erfolge anhaltender Kriegsoperationen" werde den Republikanern "so viel Zeit und innere Sicherheit verschaffen, als sie zur Gewinnung einer festeren Konsistenz ihres noch so lockeren politischen Vereins nötig haben." Ähnlich sah man das jenseits des Rheins. Jacques Pierre Brissot, Wortführer der Girondisten, gab sich in einer später gern zitierten Äußerung überzeugt, "dass ein Volk, das nach zehn Jahrhunderten der Sklaverei die Freiheit errungen hat, Krieg führen muss. Es muss Krieg führen, um die Freiheit auf unerschütterliche Grundlagen zu stellen; es muss Krieg führen, um die Freiheit von den Lastern des Despotismus reinzuwaschen; und es muss schließlich Krieg führen, um aus seinem Schoß jene Männer zu entfernen, die die Freiheit verderben könnten."
Nicht viel anders dachten die Briten. Ihr Land solle "a warlike nation" sein, darin waren sie sich am siegreichen Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 einig, und so hielt man es auch 150 Jahre später. Das Empire hatte immer irgendwo zu kämpfen, und so schrieb ein britischer Offizier stolz 1905: "Großbritannien ist nie im Frieden." Dass der Krieg eine historisch konstruktive Rolle spielen kann oder soll, das ist uns heute ganz fremd. Aber der Stolz auf kriegerische Gesinnung ist wie der Krieg selbst historisch fast der Normalfall. Dem nachzugehen, wie es der emeritierte Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in seinem Buch tut, hat darin seine Berechtigung.
Langewiesche setzt mit dem achtzehnten Jahrhundert ein. Die stehenden Heere haben sich zu diesem Zeitpunkt schon herausgebildet. Deren Kosten bedeuteten eine völlig neue Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, sie waren nur mit einer leistungsfähigen Steuerverwaltung aufzubringen. So trieb das Kriegswesen Institutionalisierung und Rationalisierung des modernen Staates entscheidend voran. Das hat den Autor weniger interessiert, wie auch die Bedeutung des Kriegswesens für die politische Verfassung. Teilnahme am Krieg bedeutet Teilhabe an der Macht; das ist ein wichtiger Grund, warum Frauen so spät erst das Wahlrecht erhalten.
Der Autor hat etwas anderes im Blick: die Staaten verändernde Rolle des Kriegswesens in Revolution, Nationalstaatsbildung und Kolonialpolitik. "Krieg als Gestaltungskraft", so lasse sich die Idee seines Buches charakterisieren; der Titel, der Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides entnommen, spreche den "Gestaltungswillen" an und die Frage, in welchen Bereichen die Vorstellung "ohne Krieg kein Fortschritt" wirksam geworden sei.
Für die Revolution liegt der Fall klar. Sie kommt aus dem Willen, "Fortschrittsschranken" zu durchbrechen, dazu braucht es Gewalt. So ist es in der Englischen Revolution im siebzehnten Jahrhundert, auf die kurz zurückgeblickt wird, in der Amerikanischen, Französischen und natürlich in der Russischen Revolution. Die revolutionäre Sache bildet eine "Sondermoral" (Tocqueville) aus, deshalb denken Revolutionäre so oft bellizistisch, Engels und Lenin sind berühmte Beispiele. Der Krieg räumt die überständigen Verhältnisse ab und arbeitet als Schwungrad für die neue Sache. Deshalb auch wollten die deutschen Revolutionäre 1848 den Krieg gegen Dänemark um Schleswig und Holstein (Marx und Engels stimmten zu), und deshalb waren die Nachbarn aus Gründen der Revolutionseindämmung strikt dagegen. Zum Krieg kam es nicht, das hat der Revolution ungeheuer geschadet.
Und auch der Nationalstaat bildete sich nicht ohne Krieg heraus. Unter allen ideologischen Angeboten wirkte keines so verheißungsvoll wie das der Nation und ihres Staates. Der Nationalstaat verspricht seinen Bürgern faire Chancen auf Teilhabe, Langewiesche nennt es die "konkurrenzlose Attraktivität" der Nation als "Ressourcengemeinschaft". Der Krieg passt dazu, eben aus dem alten Grundsatz: Wer kämpft, ist frei, er darf mitbestimmen.
Dass die Kolonialpolitik sich des Krieges bedient, versteht sich von selbst. Bemerkenswert ist dabei aber, dass der Krieg wiederum im Dienste eines Ideals steht: "Uplifting mankind", wie es Theodore Roosevelt ausdruckt. Aber auch feinere Geister wie John St. Mill oder Tocqueville dachten so. Der Wiener Kongress 1814/15 hatte Europa ein Jahrhundert relativen Friedens beschert, Kriege waren hier kurz gewesen und eingehegt: Duellsituationen der Heere. Damit hatten sich die europäischen Mächte freie Hand in Übersee verschafft. Die Kriege dort bedeuteten entsetzliche Verluste für die indigene Bevölkerung. Bekannt ist die Strafaktion deutscher Truppen gegen die Herero, als diese 1904 in die Omaheke-Wüste getrieben wurden, wo sie elend umkamen. War es Völkermord? Unser Autor ist vorsichtig, er spricht von einem "genozidalen Zug" aus einer "dramatischen Überforderung" in einem Moment der Schwäche. Ein Sonderfall war es jedenfalls nicht. Die deutsche Politik stieß bei den europäischen Konkurrenten weniger auf moralische Empörung als auf Erstaunen über den Mangel an Professionalität.
Haben die Kolonialkriege die Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts vorbereitet? Langewiesche hält sich auch hier mit seinem Urteil zurück. Aber er zitiert Tocqueville, der die Kolonialherrschaft bejahte und die damit verbundenen Kriege und dem doch davor graute: "Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird." Langewiesche gibt aber auch zu bedenken, dass das Übermaß europäischer Gewalt nicht allein aus dem Rassismus zu erklären sei. Die indigenen Gesellschaften, auf die die Kolonialmächte trafen, waren oft höchst kriegerisch. Wo in Europa die Schlacht als Duell professioneller Soldaten gesehen und ihr Ausgang politisch anerkannt wurde, neigten viele Stämme dazu, den Kampf weiterzuführen, irregulär nach europäischem Verständnis.
Langewiesches Buch ist ein merkwürdiger Fall. Es stellt viel Material zusammen, das wenig bekannt ist und zu denken gibt. Aber die Linie, die sein Titel verspricht, ist ein Problem. Als Thukydides den Krieg einen "gewaltsamen Lehrer" nannte, in der sogenannten Pathologie (III, 82), hatte das eine klare Bedeutung: Gewaltsam ist dieser Lehrer nicht nur in seinen Mitteln, sondern in seiner Wirkung. Er zerstört die alten Vorstellungen von Klugheit und Rechtlichkeit und setzt neue durch, solche der Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Unbedachtheit. Der Krieg lenkt die menschlich-moralische Entwicklung, aber er lenkt sie zum Bösen.
So klar ist Langewiesches Bild nicht, kann es allerdings auch nicht sein. Es ist nicht so klar im moralischen Urteil und auch nicht in der Frage, wo und inwieweit der Krieg Treiber der Entwicklung ist (wie bei Thukydides) oder Folge. Das hat mit der Komplexität von Gegenstand und Zeitraum zu tun, doch auch mit des Autors Neigung zu größeren Ab- und Ausschweifungen, beispielsweise zu den Vorzügen des Nationalstaats und den Gründen seiner Durchsetzung. Dergleichen kann den Leser gelegentlich ungeduldig stimmen, aber dann findet er wieder etwas Interessantes. Ohne den Nutzen produktiver Verwirrung wird er dieses Buch nicht lesen.
STEPHAN SPEICHER
Dieter Langewiesche:
"Der gewaltsame Lehrer". Europas Kriege in der Moderne.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
512 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gewaltsam sind nicht nur seine Mittel, sondern auch seine Wirkung: Dieter Langewiesche erkundet die historische Gestaltungskraft des Krieges in der Moderne.
Im Januar 1793 machte Christoph Martin Wieland sich Gedanken über die außenpolitische Situation, die durch die Französische Revolution entstanden war: " Nur eine anhaltende Verwicklung der Nation in die Gefahren und Erfolge anhaltender Kriegsoperationen" werde den Republikanern "so viel Zeit und innere Sicherheit verschaffen, als sie zur Gewinnung einer festeren Konsistenz ihres noch so lockeren politischen Vereins nötig haben." Ähnlich sah man das jenseits des Rheins. Jacques Pierre Brissot, Wortführer der Girondisten, gab sich in einer später gern zitierten Äußerung überzeugt, "dass ein Volk, das nach zehn Jahrhunderten der Sklaverei die Freiheit errungen hat, Krieg führen muss. Es muss Krieg führen, um die Freiheit auf unerschütterliche Grundlagen zu stellen; es muss Krieg führen, um die Freiheit von den Lastern des Despotismus reinzuwaschen; und es muss schließlich Krieg führen, um aus seinem Schoß jene Männer zu entfernen, die die Freiheit verderben könnten."
Nicht viel anders dachten die Briten. Ihr Land solle "a warlike nation" sein, darin waren sie sich am siegreichen Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 einig, und so hielt man es auch 150 Jahre später. Das Empire hatte immer irgendwo zu kämpfen, und so schrieb ein britischer Offizier stolz 1905: "Großbritannien ist nie im Frieden." Dass der Krieg eine historisch konstruktive Rolle spielen kann oder soll, das ist uns heute ganz fremd. Aber der Stolz auf kriegerische Gesinnung ist wie der Krieg selbst historisch fast der Normalfall. Dem nachzugehen, wie es der emeritierte Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in seinem Buch tut, hat darin seine Berechtigung.
Langewiesche setzt mit dem achtzehnten Jahrhundert ein. Die stehenden Heere haben sich zu diesem Zeitpunkt schon herausgebildet. Deren Kosten bedeuteten eine völlig neue Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, sie waren nur mit einer leistungsfähigen Steuerverwaltung aufzubringen. So trieb das Kriegswesen Institutionalisierung und Rationalisierung des modernen Staates entscheidend voran. Das hat den Autor weniger interessiert, wie auch die Bedeutung des Kriegswesens für die politische Verfassung. Teilnahme am Krieg bedeutet Teilhabe an der Macht; das ist ein wichtiger Grund, warum Frauen so spät erst das Wahlrecht erhalten.
Der Autor hat etwas anderes im Blick: die Staaten verändernde Rolle des Kriegswesens in Revolution, Nationalstaatsbildung und Kolonialpolitik. "Krieg als Gestaltungskraft", so lasse sich die Idee seines Buches charakterisieren; der Titel, der Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides entnommen, spreche den "Gestaltungswillen" an und die Frage, in welchen Bereichen die Vorstellung "ohne Krieg kein Fortschritt" wirksam geworden sei.
Für die Revolution liegt der Fall klar. Sie kommt aus dem Willen, "Fortschrittsschranken" zu durchbrechen, dazu braucht es Gewalt. So ist es in der Englischen Revolution im siebzehnten Jahrhundert, auf die kurz zurückgeblickt wird, in der Amerikanischen, Französischen und natürlich in der Russischen Revolution. Die revolutionäre Sache bildet eine "Sondermoral" (Tocqueville) aus, deshalb denken Revolutionäre so oft bellizistisch, Engels und Lenin sind berühmte Beispiele. Der Krieg räumt die überständigen Verhältnisse ab und arbeitet als Schwungrad für die neue Sache. Deshalb auch wollten die deutschen Revolutionäre 1848 den Krieg gegen Dänemark um Schleswig und Holstein (Marx und Engels stimmten zu), und deshalb waren die Nachbarn aus Gründen der Revolutionseindämmung strikt dagegen. Zum Krieg kam es nicht, das hat der Revolution ungeheuer geschadet.
Und auch der Nationalstaat bildete sich nicht ohne Krieg heraus. Unter allen ideologischen Angeboten wirkte keines so verheißungsvoll wie das der Nation und ihres Staates. Der Nationalstaat verspricht seinen Bürgern faire Chancen auf Teilhabe, Langewiesche nennt es die "konkurrenzlose Attraktivität" der Nation als "Ressourcengemeinschaft". Der Krieg passt dazu, eben aus dem alten Grundsatz: Wer kämpft, ist frei, er darf mitbestimmen.
Dass die Kolonialpolitik sich des Krieges bedient, versteht sich von selbst. Bemerkenswert ist dabei aber, dass der Krieg wiederum im Dienste eines Ideals steht: "Uplifting mankind", wie es Theodore Roosevelt ausdruckt. Aber auch feinere Geister wie John St. Mill oder Tocqueville dachten so. Der Wiener Kongress 1814/15 hatte Europa ein Jahrhundert relativen Friedens beschert, Kriege waren hier kurz gewesen und eingehegt: Duellsituationen der Heere. Damit hatten sich die europäischen Mächte freie Hand in Übersee verschafft. Die Kriege dort bedeuteten entsetzliche Verluste für die indigene Bevölkerung. Bekannt ist die Strafaktion deutscher Truppen gegen die Herero, als diese 1904 in die Omaheke-Wüste getrieben wurden, wo sie elend umkamen. War es Völkermord? Unser Autor ist vorsichtig, er spricht von einem "genozidalen Zug" aus einer "dramatischen Überforderung" in einem Moment der Schwäche. Ein Sonderfall war es jedenfalls nicht. Die deutsche Politik stieß bei den europäischen Konkurrenten weniger auf moralische Empörung als auf Erstaunen über den Mangel an Professionalität.
Haben die Kolonialkriege die Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts vorbereitet? Langewiesche hält sich auch hier mit seinem Urteil zurück. Aber er zitiert Tocqueville, der die Kolonialherrschaft bejahte und die damit verbundenen Kriege und dem doch davor graute: "Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird." Langewiesche gibt aber auch zu bedenken, dass das Übermaß europäischer Gewalt nicht allein aus dem Rassismus zu erklären sei. Die indigenen Gesellschaften, auf die die Kolonialmächte trafen, waren oft höchst kriegerisch. Wo in Europa die Schlacht als Duell professioneller Soldaten gesehen und ihr Ausgang politisch anerkannt wurde, neigten viele Stämme dazu, den Kampf weiterzuführen, irregulär nach europäischem Verständnis.
Langewiesches Buch ist ein merkwürdiger Fall. Es stellt viel Material zusammen, das wenig bekannt ist und zu denken gibt. Aber die Linie, die sein Titel verspricht, ist ein Problem. Als Thukydides den Krieg einen "gewaltsamen Lehrer" nannte, in der sogenannten Pathologie (III, 82), hatte das eine klare Bedeutung: Gewaltsam ist dieser Lehrer nicht nur in seinen Mitteln, sondern in seiner Wirkung. Er zerstört die alten Vorstellungen von Klugheit und Rechtlichkeit und setzt neue durch, solche der Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Unbedachtheit. Der Krieg lenkt die menschlich-moralische Entwicklung, aber er lenkt sie zum Bösen.
So klar ist Langewiesches Bild nicht, kann es allerdings auch nicht sein. Es ist nicht so klar im moralischen Urteil und auch nicht in der Frage, wo und inwieweit der Krieg Treiber der Entwicklung ist (wie bei Thukydides) oder Folge. Das hat mit der Komplexität von Gegenstand und Zeitraum zu tun, doch auch mit des Autors Neigung zu größeren Ab- und Ausschweifungen, beispielsweise zu den Vorzügen des Nationalstaats und den Gründen seiner Durchsetzung. Dergleichen kann den Leser gelegentlich ungeduldig stimmen, aber dann findet er wieder etwas Interessantes. Ohne den Nutzen produktiver Verwirrung wird er dieses Buch nicht lesen.
STEPHAN SPEICHER
Dieter Langewiesche:
"Der gewaltsame Lehrer". Europas Kriege in der Moderne.
C. H. Beck Verlag,
München 2019.
512 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine beeindruckende Synthese seiner langjährigen Arbeit zu den Themen Nation und Nationalstaat."
Historische Zeitschrift, Karen Hagemann
"Bis 1945 bedeutete die Gründung und Absicherung eines Nationalstaates stets, Krieg als politisches Mittel zu bejahen und einzusetzen. Warum dies so war, ja sein musste, was dieser Zusammenhang sowie der Krieg insgesamt bewirkten und warum sich dies nach dem Zweiten Weltkrieg derart radikal änderte, all dies wird in diesem brillanten Buch mittels der stringenten Gedankenführung und schnörkellosen Sprache seines Autors beeindruckend dargestellt."
Militärgeschichtliche Zeitschrift, Martin Moll
"In globaler Perspektive beschreibt der Autor souverän auch den Funktionswandel von Kriegen - ohne die Hoffnung aufzugeben, die Welt könne einmal ohne sie bestehen."
Damals - Das historische Buch des Jahres 2019 - Platz 1 Kategorie Denkanstöße
"So souverän, wie hier durch kluge Argumentation eine Metaebene gegenüber dem verbissenen Streit der wissenschaftlichen und politischen Kontrahenten gewonnen wird, ist auch der Umgang mit der gesamten Stoffmasse, die Langewiesche in seinem opus magnum bewältigt."
sehepunkte, Frank Becker
"Eine umfassende Analyse."
Neue Zürcher Zeitung, Thomas Speckmann
"Ein extrem lesenswertes und zum Weiterdenken anregendes Buch."
Cicero Online, Florian Keisinger
"Eine differenzierte Analyse europäischer Kriege, ihrer Typen und Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert."
Tagesspiegel, Tilmann Asmus Fischer
"Augenöffnend!"
Deutschlandfunk Kultur, Wolfgang Schneider
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"Bis 1945 bedeutete die Gründung und Absicherung eines Nationalstaates stets, Krieg als politisches Mittel zu bejahen und einzusetzen. Warum dies so war, ja sein musste, was dieser Zusammenhang sowie der Krieg insgesamt bewirkten und warum sich dies nach dem Zweiten Weltkrieg derart radikal änderte, all dies wird in diesem brillanten Buch mittels der stringenten Gedankenführung und schnörkellosen Sprache seines Autors beeindruckend dargestellt."
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Tagesspiegel, Tilmann Asmus Fischer
"Augenöffnend!"
Deutschlandfunk Kultur, Wolfgang Schneider