Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.1998Naturwunder besteigt man nicht, man bewundert sie
Erster am Seil, zweiter auf dem Buchmarkt: Anatoli Boukreevs Schilderung der Everest-Katastrophe
Daß diese Gegendarstellung ihren Zweck erreichen wird, muß man bezweifeln. Jon Kracauers auf Buchformat gestreckte Reportage "In eisige Höhen" (F.A.Z. vom 24. März 1998) hat sich inzwischen alleine in Deutschland 200000mal verkauft und prägt das Bild von der Katastrophe, die sich im Mai 1996 auf dem Mount Everest ereignete. Damals kamen zwölf Bergsteiger ums Leben. Kracauer nahm als Journalist an der "Adventure-Consultants"-Expedition teil, sprang dem Tod um Haaresbreite von der Schippe und verfaßte bald darauf seine Darstellung, die bei den Überlebenden und den Angehörigen der Toten nicht immer Anklang fand. Besonders kritisch schildert Kracauer die Rolle von Anatoli Boukreev, der erster Bergführer in der "Mountain Madness"-Expedition war. Manche lasen die Geschichte gar als eine Art Fortsetzung des Kalten Krieges, wonach der Russe am Bergunglück der Amerikaner schuld war. Mit seinem Koautor G. Weston DeWalt versucht Boukreev nun seine Rolle ins rechte Licht zu rücken.
Naturgemäß muß auch dieses Buch die ganze Geschichte des ebenso tragischen wie fahrlässigen Scheiterns erzählen. Es ist darstellerisch eine Gratwanderung, die oft genug in die Abgründe der Banalität blickt. Einerseits setzt G. Weston DeWalts Buch Kracauers Darstellung voraus, andererseits kann man gerade dort, wo es auf die Details ankommt, konkrete Bezugnahmen nur erahnen. So erhält man eine schlecht geschriebene abweichende Version, die sich über die andere Erzählperspektive, die sie einnimmt, rechtfertigen soll.
Gerade hier liegt aber ein Hauptmangel des Buchs. DeWalt hat Boukreev, der im Dezember 1997 durch eine Lawine am Annapurna ums Leben kam, mehrfach interviewt. Diese Fragmente fügen sich jedoch zu keiner eigenen Geschichte, so daß viel dazwischen aufgefüllt werden muß, was dem Autor aber nicht besonders glücklich gelingt. Der Ich-Erzähler ist mal Boukreev selbst, mal wird aber auch von Boukreev in der dritten Person geredet. Am Ende schüttet das Buch auch noch ungekürzte Tonbandprotokolle und Briefwechsel über den Leser aus, der ein gewisses detektivisches Interesse und Toleranz in Stildingen mitbringen sollte, um seine Lektüre im Wachzustand zu Ende zu bringen.
Deutlich wird bei Kracauer wie bei G. Weston DeWalt vor allem eines: Der Russe Boukreev pflegte einen anderen Stil als die meisten seiner (westlichen) Kollegen. Die kommerziellen Everest-Unternehmen versprechen den oft nur mäßig qualifizierten Kunden sicheren Erfolg. Diese Klientel will bei Laune gehalten und am Händchen den Berg hinaufgeführt werden. Die Everest-Besteigung wurde als bis zu 75000 Dollar teure Dienstleistung angeboten. Wen wundert's, daß unzufriedene Klienten gerne ihre Bergführer verklagten, wenn ihnen der Gipfel unzugänglich blieb?
Boukreev war weder ein großer Kommunikator, noch wollte er jeden Schritt seiner Schützlinge überwachen. Daraus resultiert eine ganz andere Perspektive auf das Verhältnis von Risiko und Eigenverantwortung bei einem Unterfangen, das bereits statistisch eine hohe Wahrscheinlichkeit tödlichen Scheiterns birgt. Selbst wenn man nicht so "mordsmäßig unqualifiziert" war, wie Kracauer manche Teilnehmer beschreibt, genügt eine kleine Abweichung vom Erwarteten - sei sie verschuldet oder unverschuldet -, um eine Katastrophe auszulösen. Daher sollte man vorsichtig sein, wenn man - wie Kracauer - Kausalbeziehungen zwischen den Eigenwilligkeiten der Teilnehmer und dem schrecklichen Ende der Expedition suggeriert.
Boukreev konnte am Berg hervorragend für sich selbst sorgen. Er staunte über den Nonsens, den die Kunden trieben und über die Unfähigkeit seines Expeditionsleiters, dem Einhalt zu gebieten. In der entscheidenden Nacht am Gipfel hat ihm diese Distanz zum Herdentrieb der Gruppe das Leben gerettet. Als die Kunden immer noch trödelnd und viel zu spät den Aufstieg fortsetzten, ging er bereits zurück ins Lager IV. Später, als die Katastrophe in vollem Gang war, mobilisierte er in ganz erstaunlicher Weise seine Kraftreserven, ging zurück in den Sturm und rettete drei Menschen das Leben. Dafür wurde er noch vor seinem Tod vom amerikanischen Alpine Club ausgezeichnet. Die Chance, dank der Unterschiedlichkeit der Bergsteigertypen auch verschiedene Geschichten des Unglücks zu erzählen, hat das Buch nicht genutzt. MILOS VEC
Anatoli Boukreev, G. Weston DeWalt: "Der Gipfel". Tragödie am Mount Everest. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Rothmann. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998. 300 S., Abb., br., 14,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erster am Seil, zweiter auf dem Buchmarkt: Anatoli Boukreevs Schilderung der Everest-Katastrophe
Daß diese Gegendarstellung ihren Zweck erreichen wird, muß man bezweifeln. Jon Kracauers auf Buchformat gestreckte Reportage "In eisige Höhen" (F.A.Z. vom 24. März 1998) hat sich inzwischen alleine in Deutschland 200000mal verkauft und prägt das Bild von der Katastrophe, die sich im Mai 1996 auf dem Mount Everest ereignete. Damals kamen zwölf Bergsteiger ums Leben. Kracauer nahm als Journalist an der "Adventure-Consultants"-Expedition teil, sprang dem Tod um Haaresbreite von der Schippe und verfaßte bald darauf seine Darstellung, die bei den Überlebenden und den Angehörigen der Toten nicht immer Anklang fand. Besonders kritisch schildert Kracauer die Rolle von Anatoli Boukreev, der erster Bergführer in der "Mountain Madness"-Expedition war. Manche lasen die Geschichte gar als eine Art Fortsetzung des Kalten Krieges, wonach der Russe am Bergunglück der Amerikaner schuld war. Mit seinem Koautor G. Weston DeWalt versucht Boukreev nun seine Rolle ins rechte Licht zu rücken.
Naturgemäß muß auch dieses Buch die ganze Geschichte des ebenso tragischen wie fahrlässigen Scheiterns erzählen. Es ist darstellerisch eine Gratwanderung, die oft genug in die Abgründe der Banalität blickt. Einerseits setzt G. Weston DeWalts Buch Kracauers Darstellung voraus, andererseits kann man gerade dort, wo es auf die Details ankommt, konkrete Bezugnahmen nur erahnen. So erhält man eine schlecht geschriebene abweichende Version, die sich über die andere Erzählperspektive, die sie einnimmt, rechtfertigen soll.
Gerade hier liegt aber ein Hauptmangel des Buchs. DeWalt hat Boukreev, der im Dezember 1997 durch eine Lawine am Annapurna ums Leben kam, mehrfach interviewt. Diese Fragmente fügen sich jedoch zu keiner eigenen Geschichte, so daß viel dazwischen aufgefüllt werden muß, was dem Autor aber nicht besonders glücklich gelingt. Der Ich-Erzähler ist mal Boukreev selbst, mal wird aber auch von Boukreev in der dritten Person geredet. Am Ende schüttet das Buch auch noch ungekürzte Tonbandprotokolle und Briefwechsel über den Leser aus, der ein gewisses detektivisches Interesse und Toleranz in Stildingen mitbringen sollte, um seine Lektüre im Wachzustand zu Ende zu bringen.
Deutlich wird bei Kracauer wie bei G. Weston DeWalt vor allem eines: Der Russe Boukreev pflegte einen anderen Stil als die meisten seiner (westlichen) Kollegen. Die kommerziellen Everest-Unternehmen versprechen den oft nur mäßig qualifizierten Kunden sicheren Erfolg. Diese Klientel will bei Laune gehalten und am Händchen den Berg hinaufgeführt werden. Die Everest-Besteigung wurde als bis zu 75000 Dollar teure Dienstleistung angeboten. Wen wundert's, daß unzufriedene Klienten gerne ihre Bergführer verklagten, wenn ihnen der Gipfel unzugänglich blieb?
Boukreev war weder ein großer Kommunikator, noch wollte er jeden Schritt seiner Schützlinge überwachen. Daraus resultiert eine ganz andere Perspektive auf das Verhältnis von Risiko und Eigenverantwortung bei einem Unterfangen, das bereits statistisch eine hohe Wahrscheinlichkeit tödlichen Scheiterns birgt. Selbst wenn man nicht so "mordsmäßig unqualifiziert" war, wie Kracauer manche Teilnehmer beschreibt, genügt eine kleine Abweichung vom Erwarteten - sei sie verschuldet oder unverschuldet -, um eine Katastrophe auszulösen. Daher sollte man vorsichtig sein, wenn man - wie Kracauer - Kausalbeziehungen zwischen den Eigenwilligkeiten der Teilnehmer und dem schrecklichen Ende der Expedition suggeriert.
Boukreev konnte am Berg hervorragend für sich selbst sorgen. Er staunte über den Nonsens, den die Kunden trieben und über die Unfähigkeit seines Expeditionsleiters, dem Einhalt zu gebieten. In der entscheidenden Nacht am Gipfel hat ihm diese Distanz zum Herdentrieb der Gruppe das Leben gerettet. Als die Kunden immer noch trödelnd und viel zu spät den Aufstieg fortsetzten, ging er bereits zurück ins Lager IV. Später, als die Katastrophe in vollem Gang war, mobilisierte er in ganz erstaunlicher Weise seine Kraftreserven, ging zurück in den Sturm und rettete drei Menschen das Leben. Dafür wurde er noch vor seinem Tod vom amerikanischen Alpine Club ausgezeichnet. Die Chance, dank der Unterschiedlichkeit der Bergsteigertypen auch verschiedene Geschichten des Unglücks zu erzählen, hat das Buch nicht genutzt. MILOS VEC
Anatoli Boukreev, G. Weston DeWalt: "Der Gipfel". Tragödie am Mount Everest. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Rothmann. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998. 300 S., Abb., br., 14,90 DM.
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