Faszinierende Familiensaga und dramatische Liebesgeschichte in einem, das ist der neue Roman von Amitav Gosh. "Der Doktor Schiwago des Fernen Osten" (INDEPENDENT ON SUNDAY) fand mit seinem farbenprächtigen Epos über Liebe und Krieg in einem exotischen Land auf der ganzen Welt begeisterte Leser und war auch bei den Kritikern ein Riesenerfolg. Dieser erste große Roman über das geheimnisumwitterte Birma erzählt die Geschichte des jungen Rajkumar, der in einer Imbissbude auf dem Markt von Mandalay 1885 Zeuge des Einmarsches der britischen Truppen wird. Entsetzt beobachtet er die Plünderung des Glaspalastes und muss mit ansehen, wie die Königsfamilie ins Exil gejagt wird. Im Gefolge sieht er die Dienerin Dolly und ist von ihrer Schönheit so bezaubert, dass er ihr Gesicht nie mehr vergisst ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2001Wo steckt der Dschungelfotograf?
Amitav Ghoshs Globalroman aus Hinterindien
Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta geboren, in Dhaka und Colombo aufgewachsen, Student in Neu-Delhi und Oxford, Praktikum als Sozialanthropologe in Ägypten, Professor an der Columbia-Universität in New York - diesen Lebenslauf darf man mit Fug und Recht international nennen. Nachdem der Romancier 1988 seinen zweiten Roman "Schattenlinien" vorgelegt hatte, konnte man den Eindruck haben, einem neuen Schriftstellertypus zu begegnen: dem dichtenden Global Player. In seinen von Phantasie überquellenden Büchern pendelten die Figuren zwischen Asien und Europa, Geographie und Weltgeschichte lieferten den genau recherchierten Rahmen, Orient und Okzident schienen sich zu begegnen. Doch bereits in dem 1996 publizierten Roman "Das Calcutta Chromosom", in dem der Autor mit Elementen des Krimis und der Science-fiction arbeitet, mußte man zweifeln, ob der Mann tatsächlich das Zeug zum asiatischen García Márquez besitze.
In seinem neuen Roman benutzt Ghosh das Muster der Familiensaga. Er bettet sie in die Geschichte Birmas ein, dem ein Teil seiner Familie entstammt. Der Zeitbogen reicht von der Vertreibung des letzten Königs 1885 über die japanische Invasion 1941 zur heutigen Militärdiktatur. Man kann dem Romancier die Bewunderung nicht versagen, wie er die reiche Geschichte Hinterindiens und Bengalens in einen epischen Strom verwandelt, der den Leser sanft, doch nicht ohne Spannung mit sich trägt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Rajkumar und Dolly, der sagenhaft reiche Mann und die sagenhaft schöne Frau. Sie erblicken einander zum erstenmal bei der Plünderung des königlichen Palastes von Mandalay, beide Kinder, beide Waisen, er ein indischer Gassenjunge, der in einer Garküche aushilft, sie birmesisches Kindermädchen der Königin. Bei dem zwölfjährigen Tellerwäscher ist es Liebe auf den ersten Blick. Rajkumar, der mit Teakholz Unsummen verdient, findet die spröde Schöne Jahre später im Exil des Königspaars wieder. Literarisch ist die Schilderung des verschlafenen indischen Küstenstädtchens Ratnagiri der beste Teil des Buchs.
Gekonnt fängt Ghosh die Stimmung der Kolonialstadt ein, die Verzweiflung des indischen Statthalters der Briten, die Verkommenheit des königlichen Haushalts, dessen Verfall sich die weißgepuderte, auf strenge Sitten achtende Königin vergebens entgegenzustemmen versucht. Rajkumar und Dolly heiraten, haben Kinder, werden - jetzt im Kautschukhandel - noch reicher. Indes, die Weltgeschichte läßt ein dauerhaftes Glück nicht zu. Bei einem Bombenangriff der Japaner auf Rangun verliert Rajkumar seinen Lieblingssohn und den gesamten Besitz.
Ghosh stellt seiner Hauptfamilie zwei weitere an die Seite: eine amerikanisch versippte chinesische und eine bengalische. Der zweite Teil des Romans ist mit den diversen Heiraten unter den Abkömmlingen der befreundeten Familien erfüllt, die sich unheilschwanger vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in Asien sowie der indischen Unabhängigkeitsbewegung abspielen. Die Protagonisten sind indessen nicht die blitzschnell miteinander verehelichten jungen Paare, sondern die verwitwete bengalische Freiheitskämpferin Uma und ihr Neffe Arjun, der als Offizier in der britischen Armee dient. Mit dieser Nebenfigur, die ein Schlaglicht auf die Geschichte des britischen Kolonialismus wirft, gelingt Ghosh die überzeugendste Figur des ganzen Buchs. Sein Vater, dem der Roman gewidmet ist, lieferte dafür das Vorbild. Der Militärkodex des Empires wird in Arjuns Geschichte zum Vehikel einer menschlichen Tragödie.
Auf den rauhen, klobigen Gründungsvater, die Händler und Soldaten der zweiten Generation folgen, dem Familiensaga-Muster entsprechend, in der dritten Generation die Intellektuellen. Jaya, Rajkumars einzige Enkelin, die über die Geschichte der Fotografie in Indien promoviert hat, macht sich auf die Suche nach ihrem Onkel Dinu, der im Krieg als Fotograf in Malaya verschollen ist. Die wundersame Auffindung des alten Mannes in der Hauptstadt des heutigen Birma erlaubt, die losen Enden der Handlung zu verknüpfen und einen melancholischen Abgesang auf ein Land anzustimmen, in dem nun das einst legendäre Lachen seiner Menschen "von Ängsten geschliffen" ist. Daß das Fotoatelier des Wiedergefundenen denselben Namen trägt wie das einstige Königsschloß, ist eine überdeutliche Metapher für die Geschichte, in der das Glück der Menschen wie Glas bricht. Doch während im königlichen "Glaspalast" die Plünderer Gold und Edelsteine aus den Spiegelsälen brachen, ist Dinus von Spitzeln überwachtes Atelier dennoch ein Ort der Intellektualität und des Gedankenaustauschs. Dies darf man ebenso wie die Audienz vor dem Haus der heiter lachenden Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi als Hoffnungssymbol interpretieren.
Ghosh liebt es, die Geschichtsbeweger beim Namen zu nennen: Hitler und Mussolini, die Königin Victoria und den Marschall Tschiang Kai-schek, das letzte Königspaar Thebaw und Supayalat, die, wie das Nachwort besagt, ganz nach dem Leben modelliert sind. Der Autor verarbeitet eine Unmenge Fakten. Neben der Historie erfährt der Leser, wie einst Teakholz geschlagen und transportiert, wie Kautschuk gewonnen wurde. Die Namen alter Autos, Kameras, Flugzeuge passieren beim Versuch, Zeitkolorit zu vermitteln, Revue. Doch wenig liest man darüber, wie es im Kopf und Herzen der Helden aussieht. Rajkumar und Dolly sind wie Pappfiguren, denen Attribute umgehängt werden. Sie machen keine Entwicklung durch, erleben zwar Schlimmes, aber sie erleiden es nicht. Warum Dolly sich im Alter in ein Kloster zurückzieht, bleibt ihr Geheimnis. Der Blässe der Figuren, auf die sich einzulassen Ghosh offenbar wenig Lust hat, korrespondiert die Platitüde der Lebensweisheiten und wörtlichen Reden. Selbst der Exotismus wirkt aufgesetzt. Er geht über geographische Namen, fremdsprachige Wendungen sowie, was bereits Simmel tat, das Aufzählen von Speisen - hier sind es malayische ("Garnelensambal mit Schraubenpalmenblättern") - nicht hinaus. Der Vorwurf eines wohl über die unvorteilhafte Darstellung des Empires erbosten englischen Kritikers, der Ghosh "Nationalismus" vorhält, geht an der Sache vorbei. Die Romanfiguren sind so gut wie aller Eigenschaften ihrer Herkunft beraubt; sie könnten ebensogut Sudanesen, Uruguayer oder Schweden sein. Die Reduktion auf das allgemein Menschliche macht sie nahezu aseptisch.
Nach dieser Bekanntschaft mit dem "Globalroman" eines internationalen Großschriftstellers sehnt man sich zurück nach einer Literatur der inneren Wahrheit, der Gedanken und Gefühle wichtiger sind als eine dem modernen Tourismus ähnliche aufgesetzte Internationalität.
RENATE SCHOSTACK.
Amitav Ghosh: "Der Glaspalast". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-Längsfeld. Karl Blessing Verlag, München 2001. 608 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amitav Ghoshs Globalroman aus Hinterindien
Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta geboren, in Dhaka und Colombo aufgewachsen, Student in Neu-Delhi und Oxford, Praktikum als Sozialanthropologe in Ägypten, Professor an der Columbia-Universität in New York - diesen Lebenslauf darf man mit Fug und Recht international nennen. Nachdem der Romancier 1988 seinen zweiten Roman "Schattenlinien" vorgelegt hatte, konnte man den Eindruck haben, einem neuen Schriftstellertypus zu begegnen: dem dichtenden Global Player. In seinen von Phantasie überquellenden Büchern pendelten die Figuren zwischen Asien und Europa, Geographie und Weltgeschichte lieferten den genau recherchierten Rahmen, Orient und Okzident schienen sich zu begegnen. Doch bereits in dem 1996 publizierten Roman "Das Calcutta Chromosom", in dem der Autor mit Elementen des Krimis und der Science-fiction arbeitet, mußte man zweifeln, ob der Mann tatsächlich das Zeug zum asiatischen García Márquez besitze.
In seinem neuen Roman benutzt Ghosh das Muster der Familiensaga. Er bettet sie in die Geschichte Birmas ein, dem ein Teil seiner Familie entstammt. Der Zeitbogen reicht von der Vertreibung des letzten Königs 1885 über die japanische Invasion 1941 zur heutigen Militärdiktatur. Man kann dem Romancier die Bewunderung nicht versagen, wie er die reiche Geschichte Hinterindiens und Bengalens in einen epischen Strom verwandelt, der den Leser sanft, doch nicht ohne Spannung mit sich trägt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Rajkumar und Dolly, der sagenhaft reiche Mann und die sagenhaft schöne Frau. Sie erblicken einander zum erstenmal bei der Plünderung des königlichen Palastes von Mandalay, beide Kinder, beide Waisen, er ein indischer Gassenjunge, der in einer Garküche aushilft, sie birmesisches Kindermädchen der Königin. Bei dem zwölfjährigen Tellerwäscher ist es Liebe auf den ersten Blick. Rajkumar, der mit Teakholz Unsummen verdient, findet die spröde Schöne Jahre später im Exil des Königspaars wieder. Literarisch ist die Schilderung des verschlafenen indischen Küstenstädtchens Ratnagiri der beste Teil des Buchs.
Gekonnt fängt Ghosh die Stimmung der Kolonialstadt ein, die Verzweiflung des indischen Statthalters der Briten, die Verkommenheit des königlichen Haushalts, dessen Verfall sich die weißgepuderte, auf strenge Sitten achtende Königin vergebens entgegenzustemmen versucht. Rajkumar und Dolly heiraten, haben Kinder, werden - jetzt im Kautschukhandel - noch reicher. Indes, die Weltgeschichte läßt ein dauerhaftes Glück nicht zu. Bei einem Bombenangriff der Japaner auf Rangun verliert Rajkumar seinen Lieblingssohn und den gesamten Besitz.
Ghosh stellt seiner Hauptfamilie zwei weitere an die Seite: eine amerikanisch versippte chinesische und eine bengalische. Der zweite Teil des Romans ist mit den diversen Heiraten unter den Abkömmlingen der befreundeten Familien erfüllt, die sich unheilschwanger vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs in Asien sowie der indischen Unabhängigkeitsbewegung abspielen. Die Protagonisten sind indessen nicht die blitzschnell miteinander verehelichten jungen Paare, sondern die verwitwete bengalische Freiheitskämpferin Uma und ihr Neffe Arjun, der als Offizier in der britischen Armee dient. Mit dieser Nebenfigur, die ein Schlaglicht auf die Geschichte des britischen Kolonialismus wirft, gelingt Ghosh die überzeugendste Figur des ganzen Buchs. Sein Vater, dem der Roman gewidmet ist, lieferte dafür das Vorbild. Der Militärkodex des Empires wird in Arjuns Geschichte zum Vehikel einer menschlichen Tragödie.
Auf den rauhen, klobigen Gründungsvater, die Händler und Soldaten der zweiten Generation folgen, dem Familiensaga-Muster entsprechend, in der dritten Generation die Intellektuellen. Jaya, Rajkumars einzige Enkelin, die über die Geschichte der Fotografie in Indien promoviert hat, macht sich auf die Suche nach ihrem Onkel Dinu, der im Krieg als Fotograf in Malaya verschollen ist. Die wundersame Auffindung des alten Mannes in der Hauptstadt des heutigen Birma erlaubt, die losen Enden der Handlung zu verknüpfen und einen melancholischen Abgesang auf ein Land anzustimmen, in dem nun das einst legendäre Lachen seiner Menschen "von Ängsten geschliffen" ist. Daß das Fotoatelier des Wiedergefundenen denselben Namen trägt wie das einstige Königsschloß, ist eine überdeutliche Metapher für die Geschichte, in der das Glück der Menschen wie Glas bricht. Doch während im königlichen "Glaspalast" die Plünderer Gold und Edelsteine aus den Spiegelsälen brachen, ist Dinus von Spitzeln überwachtes Atelier dennoch ein Ort der Intellektualität und des Gedankenaustauschs. Dies darf man ebenso wie die Audienz vor dem Haus der heiter lachenden Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi als Hoffnungssymbol interpretieren.
Ghosh liebt es, die Geschichtsbeweger beim Namen zu nennen: Hitler und Mussolini, die Königin Victoria und den Marschall Tschiang Kai-schek, das letzte Königspaar Thebaw und Supayalat, die, wie das Nachwort besagt, ganz nach dem Leben modelliert sind. Der Autor verarbeitet eine Unmenge Fakten. Neben der Historie erfährt der Leser, wie einst Teakholz geschlagen und transportiert, wie Kautschuk gewonnen wurde. Die Namen alter Autos, Kameras, Flugzeuge passieren beim Versuch, Zeitkolorit zu vermitteln, Revue. Doch wenig liest man darüber, wie es im Kopf und Herzen der Helden aussieht. Rajkumar und Dolly sind wie Pappfiguren, denen Attribute umgehängt werden. Sie machen keine Entwicklung durch, erleben zwar Schlimmes, aber sie erleiden es nicht. Warum Dolly sich im Alter in ein Kloster zurückzieht, bleibt ihr Geheimnis. Der Blässe der Figuren, auf die sich einzulassen Ghosh offenbar wenig Lust hat, korrespondiert die Platitüde der Lebensweisheiten und wörtlichen Reden. Selbst der Exotismus wirkt aufgesetzt. Er geht über geographische Namen, fremdsprachige Wendungen sowie, was bereits Simmel tat, das Aufzählen von Speisen - hier sind es malayische ("Garnelensambal mit Schraubenpalmenblättern") - nicht hinaus. Der Vorwurf eines wohl über die unvorteilhafte Darstellung des Empires erbosten englischen Kritikers, der Ghosh "Nationalismus" vorhält, geht an der Sache vorbei. Die Romanfiguren sind so gut wie aller Eigenschaften ihrer Herkunft beraubt; sie könnten ebensogut Sudanesen, Uruguayer oder Schweden sein. Die Reduktion auf das allgemein Menschliche macht sie nahezu aseptisch.
Nach dieser Bekanntschaft mit dem "Globalroman" eines internationalen Großschriftstellers sehnt man sich zurück nach einer Literatur der inneren Wahrheit, der Gedanken und Gefühle wichtiger sind als eine dem modernen Tourismus ähnliche aufgesetzte Internationalität.
RENATE SCHOSTACK.
Amitav Ghosh: "Der Glaspalast". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-Längsfeld. Karl Blessing Verlag, München 2001. 608 S., geb., 48,- DM.
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