'Der Glöckner von Notre-Dame', die Geschichte von Quasimodo und Esmeralda, Victor Hugos Meisterwerk der französischen Romantik, ist eine Liebeserklärung an die Stadt Paris. Es dürfte sich hierbei um den größten historischen Roman der Romantik handeln.Das Kolorit des späten Mittelalters ist in der Schilderung von Massenszenen und in der von einzelnen Lebensbereichen, auch in der Zeichnung historischer Persönlichkeiten wie des dämonischen Ludwig XI. gegenwärtig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.19971831
Victor Hugo "Der Glöckner von Notre-Dame"
Goethe las den Roman noch (oder schon; und fand ihn abscheulich), er wurde gleich im Erscheinungsjahr übersetzt, in den Jahren 1836, 47 und 64 gab es Veroperungen, und zum Beweis seiner wirklichen Unverweslichkeit seit 1905 regelmäßig alle zwei, drei Jahre eine Verfilmung, bis heute. Victor Hugo, damals neunundzwanzig, Liebhaber großer Attitüden, Vergewaltiger allen Geschmacks im Namen des Erhabenen, beschwört in seinem Buch das Spätmittelalter. Er beschwört gruselig-dunkel eine Großstadt der Vormoderne, ein Paris, dessen gotische Größe er fackelsüchtig illuminiert. Er läßt (Anwalt aller Außenseiter, aber sie müssen ans Herz gehn) einen Verwachsenen eine feengleiche Zigeunerin lieben, die ihrerseits das Begehren jenes Priesters weckt, der den Verwachsenen zum Glöckner gemacht hat (ähnlich tragisch verwickelt - aber rein aus romantischem Kalkül - ist später dann die schöne Esmeralda nicht bloß die Tochter einer berühmten Hure, sondern entdeckt in einer Einsiedlerin, zu der sie geflüchtet ist, eben diese Mutter wieder, fehlt bloß, daß der Dichter selber ihr Vater war). Der Priester bringt die sein Begehren frustrierende Zigeunerin an den Galgen, sein Glöckner stürzt ihn dafür oben vom Turm hinab, selber geht er dann zur toten Zigeunerin, und so ruhn sie dann Bein an Bein, eine grausig-schöne Parodie der Goetheschen Wahlverwandten - hier Goethes letzter Satz: ". . . und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen." Und hier Hugos: "Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das er umschlang, zerfiel es in Staub." Hundertmal legt man das Buch weg bis zu diesem Schluß, aber immer wieder liest man weiter, nicht weil es gut wäre, denn das ist es nicht, aber es bannt das arme lesende Gemüt. Man bringt sich nicht weg von dem Buch; nun gut, sagt man sich endlich, nun gut: ein Roman eben - und ist jetzt gewappnet gegen alle weiteren Schandtaten dieses scheußlichen Genres. (Victor Hugo: "Der Glöckner von Notre-Dame". Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hugo Meier; mit Anmerkungen und zeitgenössischen Illustrationen. Manesse Verlag, Zürich 1986. 773 S., geb., 47,70 DM; in anderen Übersetzungen auch bei Insel, Diogenes, dtv.) R.V.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Victor Hugo "Der Glöckner von Notre-Dame"
Goethe las den Roman noch (oder schon; und fand ihn abscheulich), er wurde gleich im Erscheinungsjahr übersetzt, in den Jahren 1836, 47 und 64 gab es Veroperungen, und zum Beweis seiner wirklichen Unverweslichkeit seit 1905 regelmäßig alle zwei, drei Jahre eine Verfilmung, bis heute. Victor Hugo, damals neunundzwanzig, Liebhaber großer Attitüden, Vergewaltiger allen Geschmacks im Namen des Erhabenen, beschwört in seinem Buch das Spätmittelalter. Er beschwört gruselig-dunkel eine Großstadt der Vormoderne, ein Paris, dessen gotische Größe er fackelsüchtig illuminiert. Er läßt (Anwalt aller Außenseiter, aber sie müssen ans Herz gehn) einen Verwachsenen eine feengleiche Zigeunerin lieben, die ihrerseits das Begehren jenes Priesters weckt, der den Verwachsenen zum Glöckner gemacht hat (ähnlich tragisch verwickelt - aber rein aus romantischem Kalkül - ist später dann die schöne Esmeralda nicht bloß die Tochter einer berühmten Hure, sondern entdeckt in einer Einsiedlerin, zu der sie geflüchtet ist, eben diese Mutter wieder, fehlt bloß, daß der Dichter selber ihr Vater war). Der Priester bringt die sein Begehren frustrierende Zigeunerin an den Galgen, sein Glöckner stürzt ihn dafür oben vom Turm hinab, selber geht er dann zur toten Zigeunerin, und so ruhn sie dann Bein an Bein, eine grausig-schöne Parodie der Goetheschen Wahlverwandten - hier Goethes letzter Satz: ". . . und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen." Und hier Hugos: "Als man sein Gerippe von demjenigen trennen wollte, das er umschlang, zerfiel es in Staub." Hundertmal legt man das Buch weg bis zu diesem Schluß, aber immer wieder liest man weiter, nicht weil es gut wäre, denn das ist es nicht, aber es bannt das arme lesende Gemüt. Man bringt sich nicht weg von dem Buch; nun gut, sagt man sich endlich, nun gut: ein Roman eben - und ist jetzt gewappnet gegen alle weiteren Schandtaten dieses scheußlichen Genres. (Victor Hugo: "Der Glöckner von Notre-Dame". Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hugo Meier; mit Anmerkungen und zeitgenössischen Illustrationen. Manesse Verlag, Zürich 1986. 773 S., geb., 47,70 DM; in anderen Übersetzungen auch bei Insel, Diogenes, dtv.) R.V.
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