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Ein Boot, das zuerst leck ist und dann drei Kinder und ein Liebespaar über einen großen Fluß bringt, eine Schicht roter Nagellack auf den Fingern eines Schreiners, ein Tausendfüßler im Profil eines Polizistenstiefels - all das sind die kleinen Dinge in diesem Roman. Die großen Dinge sind Indiens Geschichte vor dem Hintergrund von britischem Empire und Unabhängigkeit, aberauch das unerbittliche Kastensystem und der Konflikt der großen Religionen. Der Gott der kleinen Dinge ist der Gott dessen, was verloren geht, nicht der Gott der Geschichte, der die kleinen Dinge grausam in ihren Lauf zwingt.…mehr

Produktbeschreibung
Ein Boot, das zuerst leck ist und dann drei Kinder und ein Liebespaar über einen großen Fluß bringt, eine Schicht roter Nagellack auf den Fingern eines Schreiners, ein Tausendfüßler im Profil eines Polizistenstiefels - all das sind die kleinen Dinge in diesem Roman. Die großen Dinge sind Indiens Geschichte vor dem Hintergrund von britischem Empire und Unabhängigkeit, aberauch das unerbittliche Kastensystem und der Konflikt der großen Religionen. Der Gott der kleinen Dinge ist der Gott dessen, was verloren geht, nicht der Gott der Geschichte, der die kleinen Dinge grausam in ihren Lauf zwingt. Voller Sprachmagie erzählt Roy von einer Familie, die an verbotener Liebe zerbricht.
Autorenporträt
Arundhati Roy Die Inderin Arundhati Roy landete im Jahr 1997 mit ihrem Debütroman "Der Gott der kleinen Dinge" einen Welterfolg. Das Buch wurde in über 30 Ländern veröffentlicht und mit dem Booker-Preis ausgezeichnet. Ihr Preisgeld sowie die Tantiemen an einigen Ausgaben ihres Romans in indischen Sprachen stellte Roy für den Widerstand gegen den Narmada-Staudamm zur Verfügung. Arundhati Roy lebt in Neu-Delhi.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Mausgrauer Mann im Petticoat
Abenteuer auf dem Weg zum Postamt und in der Liebe: Arundhati Roys "Gott der kleinen Dinge" / Von Philipp Blom

Der indische Schriftsteller Amit Chaudhuri sagte einmal, er vermisse Indien, weil ihm im ruhigen, wohlorganisierten Leben Großbritanniens der Sinn fürs Abenteuer fehle. "Hier geht man einfach zum Automaten. Wenn ich in Indien eine Briefmarke kaufen gehe", meinte er, "dann ist das eine Expedition, die fünf Stunden dauern kann, und am Ende habe ich wirklich ein Gefühl, etwas errungen zu haben, wenn ich sie endlich in Händen halte." Einen angloindischen Roman zu lesen ist in vielerlei Hinsicht ein solches Abenteuer, in dem der Alltag epische Qualitäten annimmt und kein Detail der Aufmerksamkeit des Schreibenden - und damit des Lesers - entgeht. Wenn es einen Gott gäbe, der über diese Welt präsidiert, so müßte es ein sehr aufmerksamer Gott sein.

Der auch im Ausland erfolgreichen englischsprachigen Literatur des modernen, unabhängigen Indien wird häufig der repräsentative Charakter abgesprochen; dies ebendeshalb, weil sie in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren und häufig von Autoren geschrieben wird, die außerhalb ihres Heimatlandes leben wie Salman Rushdie und Vikram Seth. Zudem wird englischsprachige Literatur nur von etwa drei Prozent der indischen Bevölkerung gelesen. Zwar verweist Rushdie darauf, daß Indien als kulturelle Einheit niemals bestanden habe und die englische Kolonialherrschaft nur die letzte einer langen Reihe von Eroberungen gewesen sei. Doch bleibt die englischsprachige Literatur Indiens dennoch eine Literatur des Gespaltenseins.

Der Ton dieser Literatur, in der angloindische Selbstsuche und Sprachverliebtheit sich mischen, wurde im Jahre 1948 von G. V. Dersani gesetzt, dessen Roman "All about H. Hatterr" wie folgt beginnt: "Der Name ist H. Hatterr, und ich fahre fort... Biologisch bin ich halb und halb unserer Gattung. Einer meiner Eltern war europäisch, christlich von Konfession, Kaufmann, Meermann (Seemann). Von welchem Teil des Kontinents? Ich wünschte, ich könnte es sagen. Die andere war orientalisch, eine malayische-halbinselbewohnende Dame, stetig, nicht reisend, nicht christlich, menschlich (nicht Meerjungfrau). Von welchem Teil der Halbinsel? Könnt' ich auch nicht sagen."

Unter den Werken der heutigen Generation angloindischer Schriftsteller sind für deutschsprachige Leser noch viele Schätze zu heben. Zwar war Salman Rushdie schon ein Begriff, bevor Ayatollah Chomeini ihn zu lebenslangem Versteckspiel mit seinen Mördern zwang, andere Autoren aber haben sich in Deutschland anders als in Großbritannien und den Vereinigten Staaten noch nicht fest etablieren können. Das gilt etwa für Vikram Seth, Vikram Chandra, Anita Desai, Amit Chaudhuri, Amitav Ghosh und Rohinton Mistry.

Der erste Roman von Arundhati Roy ist nun in deutscher Übersetzung gleich in hoher Auflage und mit großem Werbeaufwand erschienen. Sein Titel spricht von jener Faszination der Details, die einen Briefmarkenkauf in Indien zum Abenteuer werden lassen können: "Der Gott der kleinen Dinge". Im Zentrum des Buches, einem Gewebe aus individuellem Aufbegehren und kulturellem Zwang, stehen die Zwillinge Estha und Rahel, die "nur eine siamesische Seele" haben und aus deren kindlicher Perspektive die emotionalen Verstrickungen von drei Generationen nachgezeichnet werden. Der Besuch der Cousine aus England endet in einer Tragödie und die Liebe von Ammu, der Mutter der Zwillinge, zu einem Unberührbaren mit dessen Ermordung durch die Polizei. Wie der Familienbetrieb steht auch die Familie selbst nahe am Zusammenbruch, und das Verrotten der Früchte in den Fabrikhallen steht für den Zerfall von Beziehungen und für die Enttäuschung zwischen Menschen, die es längst aufgegeben haben, miteinander zu sprechen.

Die Handlung des Ganzen ließe sich in einem Satz zusammenfassen, aber ebendies will der Roman nicht zulassen. Die Geschichte der Reise einer englischen Frau nach Indien zu ihrem früheren Mann und damit in eine persönliche Vergangenheit, in der sie noch Hoffnung hatte, ist nur Ansatz und Anhaltspunkt für das Ausspinnen von Erzählungen, Hintergründen und Meditationen, die jede Alltäglichkeit zu einem Wunder machen und deren Zeitebenen und Handlungsstränge in oft virtuoser Architektur ineinander verschachtelt sind, so daß der Kern der Handlung - der Besuch bei der indischen Familie und seine Folgen - erst allmählich in einem Gewebe von Rückblenden, Andeutungen und Erinnerungen erkennbar wird.

Die Stränge, die sich in diesem Knoten treffen, sind allesamt Geschichten von gescheiterter Liebe: die Liebe der Großtante zu einem Priester, derentwillen sie zeitweilig zur Nonne wurde (nur um ihren Irrtum zu spät einzusehen), und ihre spätere, langsam zerfallende Ehe, die verbrauchte Liebe des Onkels zu seiner geschiedenen englischen Frau, die Liebe Ammus zu Velutha, dem Paria, und ihre eigene gescheiterte Ehe, die Liebe der Zwillinge zueinander, die sich mit dem Älterwerden lockert. Velutha, dem seine Liebe zu Ammu zum Verhängnis wird, erscheint in diesem Gewebe der Beziehungen als ein ruhender Pol, der die zerstörerischen Konventionen nicht achtet und damit eine brutale Reaktion der gesellschaftlichen Ordnung geradezu herausfordert.

In einer Passage, in der die Zwillinge den Mord Veluthas durch die Polizei miterleben, zeigen sich Stärken und Schwächen des Romans gleichermaßen: "Die Zwillinge waren zu jung, um zu wissen, daß die Polizisten lediglich die Handlanger der Geschichte waren . . . Angetrieben von Gefühlen, die urzeitlich und paradoxerweise zugleich völlig unpersönlich waren. Gefühle der Verachtung, geboren aus einer formlosen, uneingestandenen Angst - der Angst der Zivilisation vor der Natur, der Angst der Männer vor den Frauen, der Angst der Macht vor der Machtlosigkeit . . . eine klinische Demonstration . . . des Strebens der menschlichen Natur nach Überlegenheit. Nach Struktur. Nach Ordnung. Nach einem unangefochtenen Monopol."

Während die Szene insgesamt in ihrem simplifizierenden Kontrast zwischen der Schönheit des Tatortes und der Primitivität der Polizisten ("Schnell noch gepißt", heißt es, bevor sie ihr Opfer ergreifen) zum Melodramatischen tendiert, ist die erzählerische Führung des Ereignisses, bei dem ein Paria erschlagen wird, weil er mit einer Frau einer anderen Kaste ein Verhältnis hatte, psychologisch eine kleine Meisterleistung. Die zerrüttenden Ereignisse und Erinnerungen um den Besuch der Cousine Sophie aus England prägen das spätere Leben der Zwillinge. Während Rahel nach Amerika emigriert und erst nach einer gescheiterten Ehe und einer Zeit voller Demütigungen den Weg in das Haus ihrer Familie zurückfindet, verstummt ihr "siamesischer Seelenzwilling" Estha, auf sich allein gestellt, völlig und lebt ein Leben in Stille, das erst durch ihre Rückkehr wieder entfacht wird.

Was allen Figuren bleibt, sind Erinnerungen, ist viel Zeit, die Unmöglichkeit ihrer Liebe zu bedauern. Dennoch gelingt es Roy, die Bitterkeit nicht überhandnehmen zu lassen, da sich ihre Sprache mit den Figuren zur Schönheit der kleinen Dinge flüchtet. Diese Flucht ist die Erlösung, die der Roman anbietet und vor der er zugleich warnt: "In diesem kurzen Moment blickte Velutha auf und sah Dinge, die er noch nie gesehen hatte. Dinge, die bislang verboten gewesen waren, verdunkelt von den Scheuklappen der Geschichte. Einfache Dinge. Zum Beispiel sah er, daß Rahels Mutter eine Frau war." Velutha, der Paria, folgt dieser Einsicht und findet durch seine Liebe zu Ammu den Tod.

Wie ihre Figuren will auch die Autorin den eisernen Zwang der Konvention durch den anarchistischen Reichtum der Details untergraben. Die Beobachtungen und die scheinbare Unbefangenheit der Sprache gehören zu Stärken dieses Buches: "An der Wand . . . hing ein gütiger, maushaariger Kalender-Jesus, der Lippenstift und Rouge aufgetragen hatte; durch seine Kleidung glühte ein grelles, juwelenbesetztes Herz. Das untere Viertel des Kalenders (der Teil mit den Tagen und Monaten) war gebauscht wie ein Rock. Jesus in einem Mini. Zwölf Schichten Petticoat für zwölf Monate des Jahres."

Nicht selten freilich erliegt die Autorin der Versuchung, ins Formelhafte abzugleiten, und so wird in den schwächeren Passagen ihre Sprache vorhersehbar. Sätze und Absätze werden dann zusehends kürzer: "Brechen ab. Wo der Sinn nicht abbricht. Sind einfach. Zu persiflieren. Ein. Fach." Solche Manierismen helfen dem Text nicht immer, zumal sie zeigen, daß sich Roy noch nicht wirklich von ihren literarischen Vorbildern, besonders von Salman Rushdie, gelöst hat.

Auch führt die beständige Suche nach neuen, unverbrauchten Bildern unweigerlich dazu, daß die Verständlichkeit immer wieder unter dem Originalitätsanspruch der Autorin leidet. Trotz solcher Einschränkungen wird in diesem Roman eine eigene literarische Stimme erkennbar, deren Reichtum jedoch in der deutschen Fassung oft geschmälert wird. In einem Text, in dem die Details so sehr im Zentrum stehen, ist das besonders zu bedauern: Unnötige Eindeutschungen reiben sich mit Stellen, an denen die Übertragung zu nahe am englischen Text bleibt, wodurch Sprachspiele zerstört werden und Resonanzen verlorengehen. (Man kann die umgangssprachliche Wendung "dead as a doorknob" wohl kaum mit "tot wie ein Türknopf" übersetzen.)

Der Gott der kleinen Dinge, die das Leben der Romanfiguren so nachhaltig bestimmen, ist kein hinduistischer, sondern ein persönlicher Gott, der Ammu im Traum erscheint. Er ist zudem nicht nur ein Gott der Dinge, sondern zugleich und vor allem ein Gott des Verlustes. Aus dieser Verbindung der Freude am Alltäglichen und der Macht des Verlustes geht die innere Dynamik des Romans hervor. Sie macht ihn zu einem großen Ganzen, in dem sich der Genuß des Augenblicks und die Last der Erinnerung die Waage halten.

Arundhati Roy: "Der Gott der kleinen

Dinge". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube. Blessing Verlag, München 1997. 381 S., geb., 42,90 DM.

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[...] ihre Sprache glitzert vor sinnlich gesättigter Wahrnehmung, eine Eruption von sprachverliebter Intelligenz [...]. Philipp Bloom Die Zeit 20231125