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Über Sinn und Aufbau der kultischen Handlungen und Texte, die als Gottesdienst oder Messe im Zentrum religiöser Praxis des Christentums stehen, ist viel geschrieben und spekuliert worden - meistens in theoretisch-theologischer Absicht. Christian Lehnert, selbst Theologe, wählt für seine Annäherung an dieses Zentralgeschehen des Kults einen besonderen, seinen eigenen Weg: den des Dichters. In der für ihn typischen Gattungsmischung von Reflexion, Schau und Erzählung, bei der die verschiedensten sprachlichen Register von kristallklarer bis hin zu expressiver Prosa gezogen werden, nähert sich…mehr

Produktbeschreibung
Über Sinn und Aufbau der kultischen Handlungen und Texte, die als Gottesdienst oder Messe im Zentrum religiöser Praxis des Christentums stehen, ist viel geschrieben und spekuliert worden - meistens in theoretisch-theologischer Absicht. Christian Lehnert, selbst Theologe, wählt für seine Annäherung an dieses Zentralgeschehen des Kults einen besonderen, seinen eigenen Weg: den des Dichters. In der für ihn typischen Gattungsmischung von Reflexion, Schau und Erzählung, bei der die verschiedensten sprachlichen Register von kristallklarer bis hin zu expressiver Prosa gezogen werden, nähert sich Lehnert den feststehenden Formen des kultischen Vollzugs, deren Bedeutung vielen längst verloren ist: Kyrie, Gloria, Glaubensbekenntnis, Abendmahl ... Auf diesem Weg führen seine Beobachtungen und Meditationen in eine energetische Erfahrung der "Leere", die sich auf mystisches Gotteserlebnis zurückbesinnt und landläufige Verständnisroutinen durchbricht. Kritisch und polemisch fordert Lehnertdabei den Konservativismus und seine erstarrte Religionspraxis ebenso heraus wie die charismatischen, liberalen oder esoterischen "Bewegungen", die glauben, das Christentum auf dessen "Totenfeld" beerben zu können.

"Deutlicher als je zeigt sich die notwendig ungewordene Gestalt des Christentums, seine Unabgeschlossenheit, seine Strömungsform hin auf etwas, das immer aussteht, und dieses wird erst zeigen, was das Christentum seit jeher war - seine Schönheit und Liebe."
Autorenporträt
Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen im Suhrkamp Verlag Gedichtbücher und Prosabände, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Deutschen Preis für Nature Writing (2018).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2017

Auf in die Wahrheit der Verluste!
Kämpferisch, aber ohne Verbiesterung erkundet Christian Lehnert den christlichen Gottesdienst und
dessen innere Unmöglichkeit. Dem Dichter ist ein theologisches Buch geglückt, das man lesen sollte
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Kaum etwas ist heutzutage so schwer zu finden wie ein lesenswertes theologisches Buch. Interessante Fragestellungen gäbe es mehr als genug. Aber die meisten Theologen, so hat der große polnische Dichter Czesław Miłosz einmal gesagt, tun nichts anderes, als alle religiösen Aussagen zu einer glatten Kugel abzurunden, die sich leicht hin- und herrollen lässt, die man aber nicht fassen kann. Dabei könnten sie sich von der modernen Lyrik inspirieren lassen. Denn diese sei „ein Zusammentragen von Daten über die letzten Dinge im menschlichen Dasein“ und habe dabei eine eigene Sprache ausgebildet, „die auch von den Theologen benutzt werden könnte – oder eben nicht“.
Die allermeisten Theologen haben dieses Angebot ausgeschlagen – zu ihrem eigenen Schaden. Sie klammern sich an hergebrachte Begriffs- und Denkschablonen, rollen ihre Abstraktionen hin und her, obwohl diese längst ihre einstige Macht verloren haben: verrostete Schlüssel, die in kein Schloss mehr passen.
Einige wenige aber gibt es, die es wagen, mit einer radikalen gedanklichen Offenheit und einer unverbrauchten poetischen Sprache einen neuen Zugang zur Sache mit Gott zu finden. Der wichtigste von ihnen ist Christian Lehnert, der beides zugleich ist: evangelischer Theologe und moderner Lyriker. In inzwischen sieben Bänden hat er die Möglichkeiten ausgelotet, geistliche Gedichte zu schreiben, die doch auf der Höhe der literarischen Gegenwart sind. Vor vier Jahren ging er in seinem Großessay „Korinthische Brocken“ – durchaus gut-protestantisch – zurück zu den Quellen und suchte in den paulinischen Briefen nach einer immer noch lebendigen Glut. Das ergab eine zunächst sperrige, dann aber begeisternde Lektüre (SZ vom 23. Dezember 2013). In seinem neuen Buch nun wendet Lehnert sich – gut-romantisch – der Liturgie zu. Schritt für Schritt geht er die wichtigsten Stationen der lateinischen Messe entlang und stellt seine Gedanken über den Gottesdienst und das Gebet in 82 ein- bis zweiseitigen Miniaturessays vor. Dabei verbindet er persönliche Erinnerungen, freie Assoziationen, theologisches Nachdenken mit historischen Tiefenbohrungen und Geschichten aus seiner pastoralen Praxis als Liturg und Seelsorger. Doch so unterschiedlich die einzelnen Teile auch sind, fallen sie nicht auseinander, sondern bilden zusammen ein fein gesponnenes Textgewebe. Das liegt natürlich an Lehnerts Sprache, die konzentriert und einfach ist, aber auch voller Überraschungen.
Mit der Freiheit eines Menschen, der in der DDR und dort in einer religionslosen Familie aufgewachsen ist, für den die Beschäftigung mit dem christlichen Glauben also immer schon eine höchst eigensinnige Entscheidung gewesen ist, nimmt Lehnert die Krise des Gottesdienstes wahr: seinen Bedeutungsverlust, seine inhaltliche Auszehrung, die ungezählten Stilprobleme. Doch bleibt er dabei nicht stehen. Denn viel mehr noch interessiert ihn dessen innere Unmöglichkeit. Der Gottesdienst soll etwas darstellen und eröffnen, was es gar nicht gibt und was manchmal dennoch da ist. Diese Grundparadoxie umkreist Lehnert in immer neuen Anläufen. Im Gottesdienst geht es um die Begegnung mit einem flüchtigen Gott ohne Namen, einem Niemand, der in seiner Abwesenheit anwesend ist, der sich zeigt, indem er sich entzieht. Alles hängt an dieser Widersinnigkeit. Ihr eine Gestalt zu geben, für sie ein offenes Gefäß zu sein, ist die Aufgabe des Gottesdienstes. Er „ist seiner Natur nach innerlich zerrissen“.
Darum hat der kirchliche Niedergang sein Gutes. Denn er legt endlich frei, worum es im Kern geht: nicht um traditionelle Symbolmacht, öffentliche Anerkennung, allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Erfreulich frech stellt Lehnert sich der verbreiteten kirchlichen Depressivität ebenso entgegen wie einer aufgesetzten Reformeuphorie: „Gelobt seien die Statistiken des Niedergangs! Auf in die Wahrheit der Verluste!“ Denn jetzt endlich kann der Gottesdienst sein, was er eigentlich ist: etwas Verborgenes und innerlich Unmögliches. Das, worum es geht, „steht nicht vor Augen, sondern muss gegen den Sog der Aufmerksamkeit und gegen den Zug der erklärenden Vernunft gefunden werden.“
Danach sucht Lehnert tastend, fragend, bohrend, dabei unbekümmert um kirchliche Konventionen, jedoch mit einer fast ehrfürchtigen Sensibilität gegenüber dem historisch Ursprünglichen. Es läge nahe, dies „mystisch“ zu nennen, doch wäre auch das nur ein weiteres Etikett, von dem man sich besser frei machen sollte. Denn alle begrifflichen Festlegungen verhindern nur, dass man sich ungeschützt für die paradoxe Erfahrung Gottes bereit macht.
„Die Liturgie deutet die Weglosigkeit einer Wanderung ins Offene an, wo jeder selbst seinen Weg erkennen muss.“ Sie ist „ein Schlaf – der Traum darin wird gegeben oder nicht“. An diesem Traum aber hängt für Lehnert nichts weniger als die eigene Menschlichkeit. Kämpferisch, jedoch ohne verbiesterten Kulturpessimismus stellt er die Humanität des christlichen Kultus gegen die trans- und posthumanistischen Ideologien einer durchtechnisierten Gegenwart. Angesichts deren spiritueller und ethischer Armut erweist sich der uralte und immer schon unmögliche Gottesdienst als eine Angelegenheit für all diejenigen, die von ihrer Menschlichkeit nicht lassen mögen.
Lehnert besitzt einen besonderen musikalischen Sinn für das Wilde in der Theologie und das existenziell Abgründige im Glauben. Ist das einseitig? Wie steht es um Erfahrungen religiöser Beheimatung und eines schlichten Gottvertrauens, aber auch um die mühseligen und doch notwendigen Fragen einer alltäglichen christlichen Lebensführung oder einer verlässlichen kirchlichen Normalität? Bezeichnenderweise fehlt bei Lehnerts Gang durch die klassischen Elemente der Messe das, was für viele das wichtigste am Gottesdienst ist: der Segen. Aber gerade mit seinen Zuspitzungen stiftet Lehnert eine dringend benötigte Verstörung für alle, die in den Gottesdienst gehen, und die, die es nicht tun. Eigentlich ist das ein Wunder: ein theologisches Buch, das man wirklich gelesen haben sollte.
Der Gottesdienst soll etwas
darstellen, was es gar nicht gibt
und was manchmal doch da ist
Am vergangenen Sonntag wurde das neue Altarbild der Dresdner Annenkirche mit einem Festgottesdienst übergeben. Das Werk der Künstlerin Marlene Dumas zeigt einen großen Lebensbaum und Motive auf großen Scheiben. Zu sehen ist auch ein überfülltes Flüchtlingsboot.
Foto: Matthias Schumann / epd
Christian Lehnert: Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Suhrkamp, Berlin 2017, 237 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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»Dass Lehnert nicht nur Seelsorger, sondern vor allem Dichter ist, macht sein Buch zu etwas besonders Kostbarem.« Sebastian Kleinschmidt DIE ZEIT 20170810