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Von Atheisten im heutigen Wortsinn wissen wir seit etwa 1650, seit clandestin erste atheistische Manuskripte zu zirkulieren begannen. Schon lange vorher aber - und lange danach - wurde über den Atheismus nachgedacht und geschrieben. Theologen, Philosophen, Naturforscher, Staatsdenker und Dichter warnten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vor den Gefahren des Unglaubens. Aber das ist nicht alles: Betrachtet man Autoren und Texte genauer, so fällt auf, dass viele Personen, die gegen Atheisten, Freigeister oder Gottlose schrieben, ansonsten höchst moderne Ansichten vertraten. Manche wurden sogar…mehr

Produktbeschreibung
Von Atheisten im heutigen Wortsinn wissen wir seit etwa 1650, seit clandestin erste atheistische Manuskripte zu zirkulieren begannen. Schon lange vorher aber - und lange danach - wurde über den Atheismus nachgedacht und geschrieben. Theologen, Philosophen, Naturforscher, Staatsdenker und Dichter warnten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vor den Gefahren des Unglaubens. Aber das ist nicht alles: Betrachtet man Autoren und Texte genauer, so fällt auf, dass viele Personen, die gegen Atheisten, Freigeister oder Gottlose schrieben, ansonsten höchst moderne Ansichten vertraten. Manche wurden sogar selbst als Atheisten angegriffen. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei der Gottlosigkeit gar nicht um eine präzise Bezeichnung handelt, sondern um eine Feindvorstellung, die ganz verschiedenen Zwecken dienen konnte - selbst der Verteidigung von Toleranz und Wissenschaft. Diese These wird an Texten von Luther bis Leibniz, von Bacon bis Brockes, von Grotius bis Gottsched in zahlreichen Einzelanalyen untersucht. So entsteht eine Diskursgeschichte des Unglaubens und ein neues Bild vom Umgang mit Heterodoxie und Dissidententum in der Frühen Neuzeit.

We know of atheists in today's literal sense since about 1650, when clandestine atheistic manuscripts first began to circulate. But atheism was thought and written about already long before - and would continue that way for long after the fact. Consequentially, theologians, philosophers, naturalists, political thinkers and poets from the 16th to the 18th century felt compelled to warn of the dangers of unbelief. But that's not all: Upon taking a closer look at authors and texts, it will be noticed that many people who wrote against atheists, freethinkers or so-called godless people otherwise held highly modern views. Some were even attacked as atheists themselves. This gives rise to the suspicion that "godlessness" is anything but a precise and unequivocal term, but a rather vague concept of the enemy that could servevery different purposes - even the defense of tolerance and science. This thesis is examined in numerous individual analyses on texts from Luther to Leibniz, from Bacon to Brockes, from Grotius to Gottsched. The result is a discourse history of unbelief and a new picture of how heterodoxy and religious dissenters were dealt with in the early modern period.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2020

Atheisten sind unverzichtbar

Ohne das Feindbild des Ungläubigen ist mit der Religion kein Staat zu machen: Björn Spiekermann legt eine exzellente Studie über den Vorwurf der Gottlosigkeit in der Frühen Neuzeit vor.

Dass die Moderne als ein vornehmlich säkulares Zeitalter gelten kann - auch wenn viele meinen, die postsäkulare Epoche sei längst angebrochen -, ist weitgehend Konsens. Aber wie steht es mit der Frühen Neuzeit, der Phase zwischen Reformation und dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts? Hier scheiden sich die Geister: Die einen sehen einen steten Anstieg des Unglaubens und verweisen etwa auf den Descartes-Freund Marin Mersenne, der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts allein in Paris 50 000 Atheisten zählen zu können meinte. Die anderen fragen streng danach, wo denn bitte eine strikte und argumentativ abgestützte Leugnung Gottes vorgetragen wurde, und kommen nur auf ganz wenige Texte und Autoren, und auch das erst seit 1650 - Stichwort Spinoza. Was also nun: ganz viele oder fast gar keine Atheisten?

Das Buch von Björn Spiekermann setzt anders an. Es fragt von vornherein nur nach der Wahrnehmung, nach dem Phantasma, dem Feindbild: Wann und warum wurde jemand als "gottlos" empfunden, denunziert, beschimpft oder angeklagt? Dies mag zunächst wie ein Zurückweichen vor der "echten" Fragestellung aussehen, entpuppt sich aber schnell als ungemein fruchtbares Manöver, das auch Rückschlüsse auf die reale Entwicklung erlaubt. Denn Spiekermann stellt provozierend fest: "Der Ungläubige bildet den Gegenpol, das personifizierte Andere der Religion und entspringt folglich mit ihr selbst, ohne einer historischen Konkretisierung überhaupt zu bedürfen." Also: Theologen haben sich jederzeit über Gottlose beklagen können, ja müssen, auch wenn es um sie herum gar keine Gottlosen gab. Was sich ändert, sind die Terminologie und die Stoßrichtung der Anklagen, und die bieten einen fruchtbaren Gegenstand für historische Untersuchungen. So kann der Autor etwa feststellen, dass um 1600 der Atheismusvorwurf auf katholischer Seite meist synonym mit dem des "Politicus" war, weil die Entscheidung, in den Prozessen der Staatsbildung auf Religion zu verzichten, das entscheidende moralische Band der Gesellschaft zerschneiden würde. So etwas wie Konfessionstoleranz und Machtpolitik jenseits der kirchlichen Kontrolle verteufelte man als Machiavellismus und warf es schnell in einen Topf mit Gottlosigkeit.

Da solche Auseinandersetzungen noch vor der Zeit liegen, in der echte Gottesleugner auftraten, gilt es für den Autor als erwiesen, dass die Polemik im sechzehnten Jahrhundert nicht ein tatsächliches Ansteigen von Unglauben widerspiegelt - etwa als Reaktion auf die neuen Naturwissenschaften, die kritische Philologie, die naturalistische Philosophie -, sondern rein der Feindbildlogik entspringt und religionspolitische Funktionen erfüllt hat. Als der Ernstfall eintrat, lag das Stereotyp längst vor. Auf fast achthundert dicht und gelehrt argumentierenden Seiten führt Spiekermann aus, wie das Feindbild auch semantisch wie ein Chamäleon seine Farben änderte; vom Epikureer und Religionsspötter ist die Rede, vom Politiker, dann zunehmend vom Atheisten, später vom Freidenker bis hin zum Freigeist. Spiekermanns Durchgang durch diese Metamorphosen findet sein Finale mit Herders konziliantem Plädoyer, jeder kritisch Denkende sei doch eigentlich nichts anderes als ein Freigeist.

Eines der überraschenden Ergebnisse ist dabei, dass es gar nicht so sehr die "Orthodoxen" der Konfessionskirchen waren, die am entschiedensten gegen Atheisten anschrieben, sondern gerade die reformerisch und mehr oder weniger pietistisch gesinnten Christen, die, so Spiekermann, ihre Anliegen auf einen nicht kirchlich gebundenen, sondern an Vernunft und Tugend orientierten Religionsbegriff gründeten und nicht auf Gott als Begründungsinstanz verzichten konnten. Diese "nichtorthodoxe Unglaubenskritik", die selbst von solchen praktiziert wurde, die selbst im Geruch der Heterodoxie standen, ist nicht auf das Motto "Dem Frommen ist alles und jeder unfromm" zu reduzieren. Sie umfasst eine Mehrzahl der großen Denker und Literaten von Bodin, Bacon und Grotius über Spener, Pufendorf und Leibniz bis zu Wolff, Gottsched und Haller.

Immer ist der Atheismusvorwurf mit einem moralischen Vorwurf hinterlegt gewesen. Seit Paulus ging man wie selbstverständlich davon aus, dass jeder Mensch eine ganz natürliche Gotteserkenntnis in sich habe; deshalb müsse jede Form von Atheismus automatisch die Unterdrückung dieser Gotteserkenntnis sein, eine Unterdrückung, die nur aus moralischer Schwäche resultieren könne. Das hat den Diskurs nachhaltig imprägniert, indem es ihn von erkenntnistheoretischen Fragen wegzog und der Moralkritik und Gesellschaftskritik öffnete. Schon bei Luther, der über die ungläubigen "Epikureer" herzog, war der Vorwurf ein Instrument der innerkirchlichen Disziplinierung. In dieses Horn stieß auch 1639 der niederländische Theologe Gisbert Voetius, als er sein Augenmerk auf den "indirekten Atheismus", vor allem auf den "praktischen", legte, der sich durch schlechte Taten zeige und aus ihnen detektivisch erschlossen werden könne. Ein ganzes Jahrhundert hat diese von vielen liberalen Intellektuellen beklagte "Konsequenzenmacherei" die Debatten vergiftet. Aber als Instrument der Wahrnehmung gesellschaftlicher Missstände schien sie unverzichtbar.

Ein anderes Ergebnis dieses beeindruckenden Buchs besteht in der Erkenntnis, dass die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts keineswegs den Sieg des Unglaubens und das Überflüssigwerden der christlichen Apologetik bedeutet hat; vielmehr zieht sich - trotz des Auftretens von Pierre Bayle und anderen Skeptikern - die Kritik an der Gottlosigkeit, die am Ende des Dreißigjährigen Krieges mächtig an Fahrt aufgenommen hatte, bis zum Ende des Aufklärungsjahrhunderts ungebrochen hin. Die anthropologischen Erklärungen der wechselseitigen Bedingtheit von moralischer Korruption und Atheismus wurden nur umso eifriger ausgearbeitet und auf den begrifflich neuesten Stand gebracht - gerade auch von Aufklärern wie Thomasius, Gundling und Wolff. Zu anschlussfähig war das alte Modell.

Das bedeutet dann auch: Aus der Sicht der Frühen Neuzeit stand der Atheismus zuallermeist nicht auf Seiten der Vernunft, sondern der Unvernunft, der Macht der Affekte. Das, so Spiekermann zu Recht, möge auch die Forschung zur Radikalaufklärung beherzigen. Es gilt also einiges von vorschnellen Gleichsetzungen, wie der Vernunftgläubigkeit mit Aufklärung, zu revidieren, und es gilt, die hartnäckigen Kontinuitäten im Diskurs zu erkennen. Diese longue durée in allen ihren Facetten zu verstehen, dazu hat Spiekermanns bedeutende Studie ein zuverlässiges Kompendium an die Hand gegeben.

MARTIN MULSOW

Björn Spiekermann:

"Der Gottlose".

Geschichte eines

Feindbilds in der Frühen Neuzeit.

Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2020. 772 S., geb., 79,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der hier rezensierende Historiker und Philosoph Martin Mulsow bekommt mit Björn Spiekermanns Studie ein brauchbares Kompendium zur Geschichte eines Feindbildes. Wie der Ungläubige durch die Zeiten hindurch definiert wurde und von wem, zeigt Spiekermann laut Rezensent auf fruchtbare Weise, gelehrt und immer wieder verblüffend. So erfährt Mulsow, dass die reformierten Christen schärfere Kritiker der Gottlosigkeit waren als ihre orthodoxen Kollegen der Konfessionskirchen, und dass die Aufklärung mitnichten den Sieg der Gottlosigkeit bedeutete.

© Perlentaucher Medien GmbH