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Ungarn drei Jahre nach dem Volksaufstand 1956: Angesichts eines besiegten und stumm gewordenen Volkes kämpfen die Kommunisten um jede jugendliche Seele, weil die Jugend "von der Ideologie des alten Regimes nicht mehr unmittelbar infiziert werden konnte". Von einer solchen Seele erzählt der Roman von György Dalos. Durch Zufall wird der sensible 15-jährige Gymnasiast Gabor Kolosz, für viele Lehrer ein fragwürdiges Element und schlechter Schüler, durch seinen Solosopran auf einer Schulfeier zum Mittelpunkt des Gymnasiums und zum Streitobjekt des Lehrerkollegiums. Er, der auf der Suche nach Gott…mehr

Produktbeschreibung
Ungarn drei Jahre nach dem Volksaufstand 1956:
Angesichts eines besiegten und stumm gewordenen Volkes kämpfen die Kommunisten um jede jugendliche Seele, weil die Jugend "von der Ideologie des alten Regimes nicht mehr unmittelbar infiziert werden konnte".
Von einer solchen Seele erzählt der Roman von György Dalos. Durch Zufall wird der sensible 15-jährige Gymnasiast Gabor Kolosz, für viele Lehrer ein fragwürdiges Element und schlechter Schüler, durch seinen Solosopran auf einer Schulfeier zum Mittelpunkt des Gymnasiums und zum Streitobjekt des Lehrerkollegiums. Er, der auf der Suche nach Gott und der Wahheit ist, gerät aber auch ins Fadenkreuz völlig divergierender weltanschaulicher Interessen. Zwei Lehrer bemühen sich um ihn und versuchen, ihn auf "ihren rechten Weg" zu bringen.
Istvan Ludasi, der Schuldirektor, ist überzeugter Kommunist und setzt allesdaran, aus Gabor einen aufrechten Anhänger des Kommunismus zu schmieden. Sein Gegenspieler in der Schule ist Dr. Reszö Paulik, der aktenkundige Konterrevolutionär und bekennende Christ. Er ist bestrebt, dem Heranwachsenden den Weg zu Gott zu weisen.

Der Autor benutzt die Figur des Jungen als eine Art Mittelsmann, der die Argumente der politischen Gegenspieler jeweils in den Einzelgesprächen überbringt, wobei sich die Kontrahenten nicht im klaren sind, was durch ihren derart verdeckten Kampf in dem durch Gewissenskonflikte beherrschten Innenleben des Jugendlichen angerichtet wird.
Autorenporträt
György Dalos, geb. 1943 in Budapest in einer jüdischen Familie, gehörte zur demokratischen Opposition Ungarns und lebte in den achtziger Jahren nach Aufenthalten in Berlin in Wien und Budapest. György Dalos wurde vielfach in Deutschland und Ungarn ausgezeichnet und war bis 1999 der Direktor des ungarischen Kulturinstituts in Berlin und im selben Jahr literarischer Leiter des Ungarn-Schwerpunkts während der Frankfurter Buchmesse. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 1995 der "Adelbert-von-Chamisso-Preis", 2000 die "Goldene Plakette der Republik Ungarn" und 2010 der "Preis der Leipziger Buchmesse für Europäische Verständigung".
György Dalos lebt als Autor in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Die letzten Tage des Herrn
György Dalos über Tod und Teufel / Von Kristina Maidt-Zinke

Der liebe Gott persönlich, hatte György Dalos angekündigt, werde in seinem neuen Roman die Hauptrolle spielen. Vermutlich kann nur jemand, der in der jüdischen Tradition beheimatet ist, so gelassen darauf vertrauen, dass der Allmächtige den Spaß mitmacht. Bis zum Finale hat es überdies den Anschein, als müsse der Herr sich den Part des inkognito agierenden Drahtziehers mit seinem Widersacher teilen, der hier die Gestalt der kommunistischen Heilsbotschaft angenommen hat. Aber da es nichts Neues unter der Sonne gibt, wird auch diesmal offenbar, dass es sich bei den Kontrahenten um ein und denselben Darsteller in einer Doppelrolle handelt. Kein Wunder, dass Gott, wenn er sich endlich zeigt, sofort auf seine Terminprobleme hinweist: Er sei "sehr beschäftigt". Sein Auftritt, entsprechend kurz, ist gleichwohl das Aufregendste an dieser Geschichte, die dem Leser über weite Strecken geradezu mönchische Geduld abverlangt.

Als Dalos vor neun Jahren seinen Roman "Die Beschneidung" veröffentlichte, wurde von Kritikerseite der Wunsch laut, er möge das Schicksal des Budapester Schülers Robi Singer, der im Winter vor dem Volksaufstand von 1956 einen tragikomischen Selbstfindungsprozess absolviert, erzählerisch weiterverfolgen. Der Autor, der an dem vergrübelten jüdischen Halbwaisenjungen einen guten Teil der eigenen Biographie abgearbeitet hatte, ist der Aufforderung auf seine Art nachgekommen: Sein neuer Antiheld, der nicht minder schwerblütige Gábor Kolosz, der sich jedoch, anders als Robi, in seiner jüdischen Identität fest verwurzelt fühlt, besucht auf demselben Gymnasium die Parallelklasse. Am nämlichen Institut lernt Dalos' drittes Alter Ego, der sprachbegabte Tamás Cohen, der uns 1994 als Protagonist der Gesellschaftssatire "Der Versteckspieler" begegnete. Man schreibt das Jahr 1959; das ungarische Volk, besiegt und ruhiggestellt, lebt in geordneten Verhältnissen. Aber den Menschen, der Jugend fehlen, zum Kummer des frisch gebackenen Gymnasialdirektors István Ludasi, "Begeisterung, Kreativität und die Bereitschaft zur Initiative".

Robi litt unter seiner Leibesfülle, Gábor ist kleinwüchsig und mager. Gábor heißt nicht Singer, aber er singt. Da seine körperliche Entwicklung sich in jeder Hinsicht verzögert hat, besitzt er mit fünfzehn noch einen glockenreinen Sopran. Als er bei einer Schulfeier für den vom Stimmbruch ereilten Solisten einspringt, so widerwillig, wie es seiner schulärztlich bescheinigten "zurückgezogenen Natur" entspricht, ereignet sich ein kleines Wunder: Sowjetischer Liedkitsch und mit Händel-Klängen versüßte sozialistische Kampfpoesie mutieren in der Kehle des Außenseiters und notorischen Versagers Kolosz zu einer Engelsmusik, die Mitschüler, Lehrer und Ehrengäste von den Sitzen reißt.

Das kollektive Delirium hat Folgen. Der linientreue Genosse Direktor, wohl ahnend, dass nicht Gábors Musikalität das Publikum bezaubert hat, sondern seine suggestive Vortragskunst, wittert die Chance, den Knaben zum Propagandainstrument abzurichten. An dem Zögling will Ludasi ein Exempel im Sinne seines Idols Anton Semjonowitsch Makarenko statuieren, indem er einen "Jungkommunisten ersten Ranges" aus ihm schnitzt. Zugleich erwacht in Dr. Reszö Paulik, einem bekennenden Katholiken, den man wegen politischer Unzuverlässigkeit vom Lehrer für Literatur und Geschichte zum Hilfsgesanglehrer degradiert hat, der Drang, den jungen Juden für das Christentum zu gewinnen und ihn dem Kommunismus zu entfremden. Beide Pädagogen bemühen sich eifrig um den Pubertierenden. Und siehe da, Gábor Kolosz blüht auf, was Makarenkos Theorie zumindest im Ansatz bestätigt: Dass er, der verspottete, als Niete abgestempelte Eigenbrötler, plötzlich umworben und ermutigt wird, setzt ungeahnte Kräfte in ihm frei, die sich zwischen dem schulischen Druck und der trostlosen Atmosphäre des Elternhauses nicht entfalten konnten.

Mit seinem Vater, einem ehemaligen Arzt, der das Lager Mauthausen überlebt und sich danach vom Leben innerlich verabschiedet hat, und seiner cholerisch-tyrannischen Mutter haust Gábor in einer Einzimmerwohnung. Jeden Tag muss er das Mittagessen für den Vater in einem undichten Henkelmann aus der Armenküche der jüdischen Gemeinde abholen, was er selten schafft, ohne die letzte Stunde zu schwänzen. Um den schwer depressiven Dr. Dániel Kolosz zu schonen, hat er dessen Unterschrift unter seinen schlechten Noten gefälscht und sich ein Disziplinarverfahren eingehandelt. "Auf der schiefen Ebene gibt es keinen Halt", warnt der Turnlehrer den Unsportlichen. Mitten im Absturz fangen ihn Paulik und Ludasi auf, weil sie aus eigensüchtigen Motiven einen erbitterten Kampf um seine Seele führen. Gábor Kolosz, klug genug, um sich von beiden Seiten intellektuelle Anregung zu holen, wird zum Medium des ideologischen Konflikts, der unter Ungarns gewaltsam geglätteter Oberfläche schwelt, und verfolgt dabei doch seinen eigenen Weg: Er möchte mit Gott, von dessen Existenz er überzeugt ist, persönlichen Kontakt aufnehmen, um mit ihm über die Ungerechtigkeit der Welt zu debattieren - oder aber einen unwiderlegbaren Beweis für die Nichtexistenz Gottes finden.

György Dalos entwickelt diese Konstellation mit dokumentarischer Detailfreude und essayistischer Brillanz, lässt indes die Qualitäten des Erzählers hinter denen des Historikers und politischen Publizisten fast verschwinden. Die Figuren sind Thesenträger, weit davon entfernt, die Prinzipien oder Widersprüche, für die sie stehen, sinnlich-lebendig zu verkörpern. Dafür lässt der Autor den beiden Weltanschauungen, die hier im Streit liegen, größtmögliche Gerechtigkeit widerfahren: Jede Seite darf ihre Argumente ausführlich darlegen, jeder der beiden Standpunkte wirkt ebenso einleuchtend wie fragwürdig. Nebenbei hat Dalos eine systemübergreifende Schulsatire geschrieben, denn die Ängste und Schikanen, die es an dem Budapester Gymnasium auszuhalten gilt, waren in jenen Jahren auch für westliche Bildungsanstalten typisch, genau wie die lebensfremden Lehrbücher, an denen Gábor verzweifelt, bis er durch Zufall seine seltsame Sonderbegabung entdeckt: Er kann jeden beliebigen Text in kürzester Zeit auswendig lernen und so bezwingend vortragen, als hätte er ihn selbst geschrieben.

Dass er ausgerechnet diesem Talent, das für jeden Sinn und Unsinn dienstbar zu machen ist, seinen Aufstieg vom Schlusslicht zum Musterschüler verdankt, würzt die diskrete Ideologiekritik des Autors mit zusätzlicher Ironie. Andererseits stellt Dalos das Sozialismus-Projekt in Gestalt des engagierten Direktors Ludasi verführerisch genug dar, um Gábors Entscheidung plausibel zu machen: Nachdem er dem lieben Gott das Ultimatum gestellt hat, sich innerhalb von zehn Tagen - "vier Tage mehr, als für den gesamten Schöpfungsakt zur Verfügung gestanden hatten" - zu zeigen, worauf der Herr sich natürlich nicht einlässt, beantragt er die Aufnahme in den Kommunistischen Jugendverband und marschiert bei der Mai-Demonstration in der ersten Reihe.

Und was tut Gott? Er erscheint, wie es seine Gewohnheit ist, als niemand mehr mit ihm rechnet, und sät zugleich tausend neue Zweifel an seinem Vorhandensein. Im Augenblick seines Auftauchens wird der Leser, der bis dahin an der Leine des Lehrstücks hing, abrupt in die Freiheit eigener Spekulation, vielleicht sogar Meditation entlassen. Wer an dieser Stelle genauso überraschend sichtbar wird, ist György Dalos in seiner Eigenschaft als Erzähler: Hier bündelt er die wenigen ergreifenden Szenen des Romans, die Gábors todtraurigem Vater gewidmet sind, zu einer rätselhaften Vision. Dieser Schluss versöhnt mit dem, was zuweilen wie trockener Geschichtsunterricht daherkommt, und wirft ein sanftes Licht auf den Kampf zweier Weltanschauungen, die antiquiert anmuten mögen, aber noch längst nicht erledigt sind.

György Dalos: "Der Gottsucher". Eine Geschichte. Aus dem Ungarischen übersetzt von György Dalos und Elsbeth Zylla. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 172 S., geb., 34,- DM.

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