Das 19. Jahrhundert gilt Kulturhistorikern als das goldene Zeitalter der französischen Esskultur. Das gute Essen avanciert in der postrevolutionären Gesellschaft zu einem Lebens- und Wissensbereich, dem nunmehr die doppelte Weihe einer "art" und einer "science", künstlerischer Ästhetik und wissenschaftlicher Ratio verliehen wird. Diese Theoriebildung schlägt sich in einer umfangreichen "littérature gastronomique" nieder und drückt sich auch in der Erzählliteratur der Epoche aus, in der Romanciers wie Balzac, Flaubert, Zola und Maupassant dem modernen Gastromythos in zahlreichen Mahlzeitenbeschreibungen Tribut zollen. Die Kennzeichen dieser modernen Esskultur werden von den Romanciers in z. T. identifikatorischer Haltung, z. T. aber auch in desillusionistischer Sicht abgebildet, indem sie den zeitgenössischen "discours gastronomique" in ihre Werke aufnehmen und in spezifischer Weise weiterentwickeln, so dass die Mahlzeitenbeschreibungen der Erzählliteratur als literarischer Beitrag z ur Diskussion über die französische "gastronomie" gewertet werden können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2001Laster und Askese
Karin Becker entwirft einen Kosmos der Speisefolgen
Ein Verdikt liegt auf dem Gebrauch gastronomischer Vergleiche in Rezensionen. Aber selbst wer etwas dagegen hat, ein Buch zu verschlingen oder für ungenießbar zu erklären, greift vor diesem Riesenwerk unwillkürlich zu Messer und Gabel. Karin Becker erzählt die Geschichte von Erzähl- und Kochkunst in einem. Dafür hat sie einen in beiden Hinsichten unübertroffenen Gegenstand ausgesucht: die französische Eßkultur in französischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, die "oft als Inbegriff abendländischer ,Kultur' angesehen wird" (die Kochkunst nämlich). Wer sich nicht daran erinnert, daß auch der literaturkritische "Geschmack" vom Schmecken kommt, der hat keinen.
Die Forderung nach einer "Psycho-Soziologie der Ernährung", die Roland Barthes 1961 erhob, hat in den vergangenen Jahren eine Fülle kulturgeschichtlicher Studien des Essens hervorgebracht. Unter ihnen dürfte die vorliegende eine der umfang- und materialreichsten sein; die siebenhundertfünfzig Seiten sind nach Auskunft des Vorworts bereits deren "leicht gestraffte" Version. (Nur ein Register vermißt man doch.) Ihr erster Teil sondiert anthropologische und ethnologische Grundlegungen des Essens in allen nur erdenklichen Facetten, von der Anthropophagie bis zur Anorexie; der zweite entfaltet ein kulturgeschichtliches Panorama der französischen Eßkultur im bürgerlichen Zeitalter. Der dritte Teil rekonstruiert die Darstellung dieser Kultur in den Romanen Balzacs, Flauberts, Maupassants und Zolas; leider fehlt Proust.
Ihr Vorhaben, auch den "literaturwissenschaftlichen Teil der Arbeit als einen Beitrag zur kulturhistorischen Beschreibung der Epoche" anzulegen, setzt sie mit zweifacher Konsequenz um: Die Epoche wird weniger analysiert als vielmehr systematisch beschrieben; und die literarischen Texte werden dabei nicht so sehr als Kunstwerke wahrgenommen, sondern als Teile eines discours gastronomique. Wer die Romane bis jetzt noch nicht unter diesem Gesichtspunkt gelesen hat (und sich für andere nur am Rande interessiert), kann sich das nach der Lektüre dieser Untersuchung ersparen. Denn hier wird ein Kosmos an Diners, Dejeuners und Teestunden, an Tischsitten und Speisefolgen entfaltet. Von den Markthallen und Preislisten geht es durch die diversen Küchen an die überreich gedeckten Tische. Wir lernen alles über die unterschiedlichen Formen öffentlicher Restaurants und ihrer Entwicklung im Laufe des Jahrhunderts, über Speisesäle und Salons, über private Geselligkeit vom Hochzeitsfest bis zum "erotischen Mahl" im cabinet particulier, das die ansonsten "tabuisierte Trennung von Essen und Erotik überwindet". Wir erfahren, wie die "grandes sauces" den "Essenzen, Fumets und Fonds" weichen müssen, und lernen eine Palette an Früchten, Süßspeisen und Genußmitteln kennen, unendliche Tafeldekorationen und Benimmregeln. Gastronomische Literatur wird ebenso gründlich gemustert wie die schöngeistige (sofern dies wirklich noch ein Unterschied sein sollte).
Auch die Autoren kommen vor allem als Esser ins Spiel - man verfolgt Balzacs Schwanken zwischen Völlerei und Enthaltsamkeit und betrachtet schaudernd jene gourmandise, die Zola als sein größtes Laster beklagt, weil sie ihn in seiner erotischen Entfaltung hemme.
Konsequent will diese Arbeit "Nietzsches Diktum ernst nehmen, wonach das Studium der Küche eines Landes ,Offenbarungen über Kulturen' verspricht". Im Unterschied zu den Studien Gerhard Neumanns, aus denen sie dieses Zitat bezieht, bleiben die Offenbarungen doch weitgehend auf die Eß- und Tischkultur begrenzt. Dort aber sind sie reich und mannigfaltig. Erst kommt das Essen in seiner Fülle soziokulturell ausdifferenzierter Systeme und Rituale, dann kommt die literarische Moral. Nicht nur die literarischen Zusammenhänge werden weitgehend ausgeblendet, auch die semiologische Auswertung bleibt karg.
In seiner Materialfülle und realiengesättigten Anschaulichkeit ist dieses Buch überwältigend. Wenn bei der Lektüre dennoch die Geschmacksnerven nicht auf ihre Kosten kommen, dann liegt das nicht nur an der theoretischen Enthaltsamkeit, der betonten Zurückhaltung gegenüber kulturtheoretischen Spekulationen, sondern an der Askese, die vorherrscht. Die Autorin hat gründlich recherchiert, und sie präsentiert ihre Ergebnisse nüchtern, systematisch und umfassend, wie man es von einer Habilitationsschrift erwartet. Da sie ihre Erkenntnisse "vornehmlich mittels jener Analysekategorien" gewinnt, "die von der interdisziplinären Essensforschung bereitgestellt werden", lösen sich die erörterten Genüsse sprachlich auf in "sachkulturelle Mahlzeitenfaktoren". Selten dürfte über ein so französisches Thema ein deutscheres Buch geschrieben worden sein. Sein Stilideal ähnelt eher jener Diät, die Nietzsche in "Ecce homo" als Heilmittel gegen unverdauliche philosophische Spekulation empfiehlt: "Enthaltung von Alcoholicis", "Café verdüstert", "Thee den ganzen Tag ankränkelnd" - "Wasser thut's". Wer also eine ideale Lektüre für die Fastenzeit sucht: Hier wäre ein Buch von geradezu ausschweifender Askese.
HEINRICH DETERING
Karin Becker: "Der Gourmand, der Bourgeois und der Romancier". Die französische Eßkultur in Literatur und Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000. 754 S., br., 198,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karin Becker entwirft einen Kosmos der Speisefolgen
Ein Verdikt liegt auf dem Gebrauch gastronomischer Vergleiche in Rezensionen. Aber selbst wer etwas dagegen hat, ein Buch zu verschlingen oder für ungenießbar zu erklären, greift vor diesem Riesenwerk unwillkürlich zu Messer und Gabel. Karin Becker erzählt die Geschichte von Erzähl- und Kochkunst in einem. Dafür hat sie einen in beiden Hinsichten unübertroffenen Gegenstand ausgesucht: die französische Eßkultur in französischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, die "oft als Inbegriff abendländischer ,Kultur' angesehen wird" (die Kochkunst nämlich). Wer sich nicht daran erinnert, daß auch der literaturkritische "Geschmack" vom Schmecken kommt, der hat keinen.
Die Forderung nach einer "Psycho-Soziologie der Ernährung", die Roland Barthes 1961 erhob, hat in den vergangenen Jahren eine Fülle kulturgeschichtlicher Studien des Essens hervorgebracht. Unter ihnen dürfte die vorliegende eine der umfang- und materialreichsten sein; die siebenhundertfünfzig Seiten sind nach Auskunft des Vorworts bereits deren "leicht gestraffte" Version. (Nur ein Register vermißt man doch.) Ihr erster Teil sondiert anthropologische und ethnologische Grundlegungen des Essens in allen nur erdenklichen Facetten, von der Anthropophagie bis zur Anorexie; der zweite entfaltet ein kulturgeschichtliches Panorama der französischen Eßkultur im bürgerlichen Zeitalter. Der dritte Teil rekonstruiert die Darstellung dieser Kultur in den Romanen Balzacs, Flauberts, Maupassants und Zolas; leider fehlt Proust.
Ihr Vorhaben, auch den "literaturwissenschaftlichen Teil der Arbeit als einen Beitrag zur kulturhistorischen Beschreibung der Epoche" anzulegen, setzt sie mit zweifacher Konsequenz um: Die Epoche wird weniger analysiert als vielmehr systematisch beschrieben; und die literarischen Texte werden dabei nicht so sehr als Kunstwerke wahrgenommen, sondern als Teile eines discours gastronomique. Wer die Romane bis jetzt noch nicht unter diesem Gesichtspunkt gelesen hat (und sich für andere nur am Rande interessiert), kann sich das nach der Lektüre dieser Untersuchung ersparen. Denn hier wird ein Kosmos an Diners, Dejeuners und Teestunden, an Tischsitten und Speisefolgen entfaltet. Von den Markthallen und Preislisten geht es durch die diversen Küchen an die überreich gedeckten Tische. Wir lernen alles über die unterschiedlichen Formen öffentlicher Restaurants und ihrer Entwicklung im Laufe des Jahrhunderts, über Speisesäle und Salons, über private Geselligkeit vom Hochzeitsfest bis zum "erotischen Mahl" im cabinet particulier, das die ansonsten "tabuisierte Trennung von Essen und Erotik überwindet". Wir erfahren, wie die "grandes sauces" den "Essenzen, Fumets und Fonds" weichen müssen, und lernen eine Palette an Früchten, Süßspeisen und Genußmitteln kennen, unendliche Tafeldekorationen und Benimmregeln. Gastronomische Literatur wird ebenso gründlich gemustert wie die schöngeistige (sofern dies wirklich noch ein Unterschied sein sollte).
Auch die Autoren kommen vor allem als Esser ins Spiel - man verfolgt Balzacs Schwanken zwischen Völlerei und Enthaltsamkeit und betrachtet schaudernd jene gourmandise, die Zola als sein größtes Laster beklagt, weil sie ihn in seiner erotischen Entfaltung hemme.
Konsequent will diese Arbeit "Nietzsches Diktum ernst nehmen, wonach das Studium der Küche eines Landes ,Offenbarungen über Kulturen' verspricht". Im Unterschied zu den Studien Gerhard Neumanns, aus denen sie dieses Zitat bezieht, bleiben die Offenbarungen doch weitgehend auf die Eß- und Tischkultur begrenzt. Dort aber sind sie reich und mannigfaltig. Erst kommt das Essen in seiner Fülle soziokulturell ausdifferenzierter Systeme und Rituale, dann kommt die literarische Moral. Nicht nur die literarischen Zusammenhänge werden weitgehend ausgeblendet, auch die semiologische Auswertung bleibt karg.
In seiner Materialfülle und realiengesättigten Anschaulichkeit ist dieses Buch überwältigend. Wenn bei der Lektüre dennoch die Geschmacksnerven nicht auf ihre Kosten kommen, dann liegt das nicht nur an der theoretischen Enthaltsamkeit, der betonten Zurückhaltung gegenüber kulturtheoretischen Spekulationen, sondern an der Askese, die vorherrscht. Die Autorin hat gründlich recherchiert, und sie präsentiert ihre Ergebnisse nüchtern, systematisch und umfassend, wie man es von einer Habilitationsschrift erwartet. Da sie ihre Erkenntnisse "vornehmlich mittels jener Analysekategorien" gewinnt, "die von der interdisziplinären Essensforschung bereitgestellt werden", lösen sich die erörterten Genüsse sprachlich auf in "sachkulturelle Mahlzeitenfaktoren". Selten dürfte über ein so französisches Thema ein deutscheres Buch geschrieben worden sein. Sein Stilideal ähnelt eher jener Diät, die Nietzsche in "Ecce homo" als Heilmittel gegen unverdauliche philosophische Spekulation empfiehlt: "Enthaltung von Alcoholicis", "Café verdüstert", "Thee den ganzen Tag ankränkelnd" - "Wasser thut's". Wer also eine ideale Lektüre für die Fastenzeit sucht: Hier wäre ein Buch von geradezu ausschweifender Askese.
HEINRICH DETERING
Karin Becker: "Der Gourmand, der Bourgeois und der Romancier". Die französische Eßkultur in Literatur und Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2000. 754 S., br., 198,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Heinrich Detering ist dieser Band "von geradezu ausschweifender Askese", womit er meint, dass die Autorin einerseits umfangreiches Material zur französischen Esskultur und ihrer Erwähnung in der Literatur zusammengetragen hat, andererseits jedoch diese Resultate hier sehr "nüchtern" präsentiert. Die literarischen Werke erscheinen in dieser Darstellung, wie der Leser erfährt, "nicht so sehr als Kunstwerke", sondern vielmehr als "Teile eines discours gastronomique", so dass man bei Flaubert und Balzac (leider nicht bei Proust, wie der Rezensent bedauert) so allerhand erfährt über Tischsitten, Markthallen, Tafeldekorationen und Süßspeisen. In dieser Hinsicht findet Detering diese Studie sehr ergiebig, doch vermisst er ein Eingehen auf die "literarischen Zusammenhänge" und eine "semiologische Auswertung". Insgesamt jedoch zeigt sich der Rezensent durchaus beeindruckt von der Fülle des Materials und seiner anschaulichen Aufbereitung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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