Kong Fanhua, selbstbewusste Dorfbürgermeisterin in der Provinz Henan, möchte bei den anstehenden Wahlen in ihrem Amt bestätigt werden. Eigentlich eine reine Formsache. Doch dann gefährdet die außerplanmäßige Schwangerschaft einer Bäuerin ihre Wiederwahl. Fanhua müsste die Frau gemäß der staatlichen Bevölkerungspolitik zur Abtreibung zwingen, aber Xue'e, die bereits zwei Töchter hat und nun unbedingt einen Sohn gebären möchte, ist verschwunden. Das Leben im Dorf nimmt - in all seinen tragikomischen Facetten - seinen Lauf, aber Fanhua setzt alles daran, die Frau zu finden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2008Anschwellende Bäuche
Geburtenkontrolle in China: Li Er erzählt
Der 1966 geborene chinesische Autor Li Er beschreibt, anders als die durch die Kulturrevolution, Illusionen und Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts geprägte Schriftstellergeneration, innere Konfliktlinien einer im Umbau begriffenen Gesellschaft und den kapitalistischen Wertewandel im ländlichen China. Sein 2004 im Original erschienener Roman greift die Geburtenkontrolle als Thema der chinesischen Literatur in Form der Sozialsatire auf.
Im Dorf Guanzhuang in der Provinz Henan stehen Wahlen bevor. Die Dorfvorsteherin Kong Fanhua strebt eine neue Amtszeit an, eine reine Formsache, wie es scheint. Doch das Geburtenkontrollgesetz, das in der Stadt ein Kind und auf dem Land zwei Kinder erlaubt, wenn das erste ein Mädchen ist, gefährdet ihre Wiederwahl. Für "Überplangeburten" trüge Fanhua die politische Verantwortung: "Guanzhuang hatte 1245 Einwohner, von den 143 Frauen im gebärfähigen Alter hatten sich 78 sterilisieren lassen und konnten somit abgezogen werden, ebenso wie vier weitere, die keine Kinder zur Welt bringen konnten. Demnach gab es 61 Bäuche, die jederzeit anschwellen konnten. Jederzeit. Nur 37 von ihnen war es von Gesetzes wegen erlaubt, anzuschwellen. Nach deren Abzug blieben also noch 24 ungesicherte. Diese 24 Bäuche waren wie 24 Lunten am Pulverfass. Sollte eine davon zünden, würden die anderen dann wirklich noch stillhalten?"
Die instruktive China-Chronik skizziert die ländliche Lebenswelt als Identität der Gegensätze zwischen Dirigismus und Modernisierung, Tradition und wirtschaftlichen Imperativen, Kapitalismus und Konfuzianismus. Li Ers opportunistische Charaktere - bestechliche Wahrsager, korrupte Parteikader oder amerikanische Exilchinesen, die als Investoren auftreten - illustrieren die Sinnkrise nach Verlust der marxistisch-leninistischen Leitideologie. "Im Auge des Taifuns ist es friedlich", schreibt Li Er. Drastisch zeichnet er den Status quo der Peripherie zwischen Selbstvergessenheit und beginnender Teilhabe am janusköpfigen Modernisierungsprojekt, wenn etwa eine Papierfabrik zur Aktiengesellschaft umgewandelt wird.
Als die zum dritten Mal schwangere Bäuerin Xuedai aus Angst vor einer Zwangssterilisation untertaucht und von einigen Dorfbewohnern protegiert wird, erweisen sich Fanhuas politische Allianzen und Wahlkampfparolen als ephemer, gerät die ohnehin brüchige pastorale Idylle endgültig aus den Fugen. Li Ers anspielungsreicher Roman thematisiert Konfliktpotentiale wie die Ein-Kind-Politik und Ein-China-Politik, Privatisierung, Migration in die Städte und Reibungsflächen bei der Einführung des westlichen Umweltschutzgedankens oder lokaler Demokratie.
STEFFEN GNAM
Li Er: "Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt". Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Thekla Chabbi. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007. 380 S., br., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geburtenkontrolle in China: Li Er erzählt
Der 1966 geborene chinesische Autor Li Er beschreibt, anders als die durch die Kulturrevolution, Illusionen und Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts geprägte Schriftstellergeneration, innere Konfliktlinien einer im Umbau begriffenen Gesellschaft und den kapitalistischen Wertewandel im ländlichen China. Sein 2004 im Original erschienener Roman greift die Geburtenkontrolle als Thema der chinesischen Literatur in Form der Sozialsatire auf.
Im Dorf Guanzhuang in der Provinz Henan stehen Wahlen bevor. Die Dorfvorsteherin Kong Fanhua strebt eine neue Amtszeit an, eine reine Formsache, wie es scheint. Doch das Geburtenkontrollgesetz, das in der Stadt ein Kind und auf dem Land zwei Kinder erlaubt, wenn das erste ein Mädchen ist, gefährdet ihre Wiederwahl. Für "Überplangeburten" trüge Fanhua die politische Verantwortung: "Guanzhuang hatte 1245 Einwohner, von den 143 Frauen im gebärfähigen Alter hatten sich 78 sterilisieren lassen und konnten somit abgezogen werden, ebenso wie vier weitere, die keine Kinder zur Welt bringen konnten. Demnach gab es 61 Bäuche, die jederzeit anschwellen konnten. Jederzeit. Nur 37 von ihnen war es von Gesetzes wegen erlaubt, anzuschwellen. Nach deren Abzug blieben also noch 24 ungesicherte. Diese 24 Bäuche waren wie 24 Lunten am Pulverfass. Sollte eine davon zünden, würden die anderen dann wirklich noch stillhalten?"
Die instruktive China-Chronik skizziert die ländliche Lebenswelt als Identität der Gegensätze zwischen Dirigismus und Modernisierung, Tradition und wirtschaftlichen Imperativen, Kapitalismus und Konfuzianismus. Li Ers opportunistische Charaktere - bestechliche Wahrsager, korrupte Parteikader oder amerikanische Exilchinesen, die als Investoren auftreten - illustrieren die Sinnkrise nach Verlust der marxistisch-leninistischen Leitideologie. "Im Auge des Taifuns ist es friedlich", schreibt Li Er. Drastisch zeichnet er den Status quo der Peripherie zwischen Selbstvergessenheit und beginnender Teilhabe am janusköpfigen Modernisierungsprojekt, wenn etwa eine Papierfabrik zur Aktiengesellschaft umgewandelt wird.
Als die zum dritten Mal schwangere Bäuerin Xuedai aus Angst vor einer Zwangssterilisation untertaucht und von einigen Dorfbewohnern protegiert wird, erweisen sich Fanhuas politische Allianzen und Wahlkampfparolen als ephemer, gerät die ohnehin brüchige pastorale Idylle endgültig aus den Fugen. Li Ers anspielungsreicher Roman thematisiert Konfliktpotentiale wie die Ein-Kind-Politik und Ein-China-Politik, Privatisierung, Migration in die Städte und Reibungsflächen bei der Einführung des westlichen Umweltschutzgedankens oder lokaler Demokratie.
STEFFEN GNAM
Li Er: "Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt". Roman. Aus dem Chinesischen übersetzt von Thekla Chabbi. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007. 380 S., br., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr sachlich beschreibt Steffen Gnam seine Lektüreeindrücke zu diesem Roman aus der Feder Li Ers. Der chinesische Autor ist für ihn eine Ausnahme, weil er die durch den "kapitalistischen Wertewandel" entstehenden Konflikte im ländlichen China als Sozialsatire darstellt. Geburtenkontrolle als zentrales Thema - das findet der Rezensent bemerkenswert. Die Charaktere, an denen der Autor die Gegensätze zwischen Tradition und Moderne nach dem "Verlust der marxistisch-leninistischen Leitideologie" illustriert, erscheinen ihm in ihrem Opportunismus treffend, der Wandel "drastisch" gezeichnet. Für Gnam entsteht so eine "instruktive China-Chronik".
© Perlentaucher Medien GmbH
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