Walfänger aus Nordamerika und Europa operierten im 18. und 19. Jahrhundert auch vor den Küsten Afrikas. Bei ihren Zwischenhalten zur Verproviantierung gingen die Seeleute, den imaginären Fährten ihrer Beutetiere folgend, Austausch- und Kommunikationsbeziehungen mit afrikanischen Küstengesellschaften ein. An Land wie auch an Bord der Schiffe zogen diese Kontakte tief greifende Veränderungen nach sich. In acht lokalgeschichtlichen Fallstudien erzählt Felix Schürmann von lange vergessenen Begegnungen und Interaktionen, in denen sich - über die Ozeane hinweg - ein bedeutender Unterstrom der Geschichte globaler Verflechtungen zu erkennen gibt.Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2017
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2017Afrikas tiefe Strände
Handel durch Walfangschiffe
Dieses Buch beschäftigt sich mit Walfängern und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas zwischen 1770 und 1920. Was zunächst abstrakt und weit entfernt klingt, entpuppt sich als die hervorragend gelungene Darstellung eines bislang unterbelichteten Teils der Wirtschaftsgeschichte. Hier geht es nicht um ein Land, eine Branche oder eine Person, sondern um eine Kontaktzone: die Küstenlinien Afrikas als Raum des Übergangs, an denen Intermediäre einflussreich sind, etwa Übersetzer, Lotsen, Strandläufer und Zwischenhändler.
"Wo Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Prägungen zueinander in Beziehung traten, konnte ihr wechselseitiger Austausch Eigendynamiken hervorbringen, die die an diesen Orten vorherrschenden Lebensweisen von denen ihrer benachbarten Umgebung lösten", schreibt Felix Schürmann, der am LOEWE-Schwerpunkt "Tier - Mensch - Gesellschaft" der Universität Kassel wirkt. LOEWE steht für "Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz" in Hessen.
Exzellent sind auch die verschiedenen Berichte über Schiffsreisen in diesem Buch. Das Thema ist ein altes Sujet der Literatur; zu seinen Ursprüngen zählen Homers Epos über die Seefahrten des Odysseus und das Buch Jona im Alten Testament. "Im Schreiben über Schiffsreisen hat sich über die Jahrhunderte eine Konvention wiederkehrender Topoi und Erzählstrukturen herausgebildet. Sie offenbart sich auch in den Berichten, die Seeleute im 19. Jahrhundert über ihre Erlebnisse im Walfang veröffentlichten", erläutert Schürmann.
Zu diesen wiederkehrenden Topoi gehören die Katastrophenerzählung (Schiffbruch, Meuterei), die exotische Erzählung (das Ferne und Fremde), die Reformerzählung (die harten Bedingungen auf dem Schiff anklagend) und die Erweckungserzählung (der christliche Glaube als Ausweg aus dem Elend). Doch bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Veröffentlichung eines Buches für einen einfachen Seemann "so ungewöhnlich wie für einen nordamerikanischen Pelzläger oder einen sächsischen Postkutscher". Verlässlicher, wenn auch nicht sehr aussagekräftig, sind rund 200 erhaltene Logbücher und Tagebücher, die heute in Archiven, Museen und im Privatbesitz auf der Welt verstreut aufbewahrt werden. Gemeinsam mit anderen Quellen zeigen sie eine Verflechtungsgeschichte zwischen Walfängern und Einheimischen, die zu lang dauernden Handelsverbindungen oder Migrationsbewegungen führen konnten.
Schürmann blickt nicht auf die Makroebene. Er erkundet die Verflechtungen von den Schiffen und den Küstenlinien aus, in einem historisch-anthropologischen Zugriff. Seine Chroniken beschreiben friedlichen Austausch und unbarmherzigen Kampf, traurige Abschiede und schreckliche Vergewaltigungen. Mitunter sind sogar die Namen einzelner Kapitäne oder Matrosen festgehalten. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Stadt Furna auf der kapverdischen Insel Brava. Vor knapp 200 Jahren war hier ein wichtiger Handelsort, und viele Staaten unterhielten Konsulate auf der Insel. Aufstieg und Fall: Heute wohnen in Furna nur noch 612 Menschen, Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen bestehen keine. Schon im Jahre 1842 notierte ein Seemann, dass die Insel nicht viele Freizeitmöglichkeiten bot. "Die einzig regelmäßige Aktivität von Seeleuten bestand in Alkoholexzessen, von denen Logbücher und andere Quellen wieder und wieder berichten." Für Kapitäne war das ein Problem, doch die kapverdische Polizei wollte man nicht einschalten, um Verzögerungen bei der Ausfahrt durch Inhaftierungen zu vermeiden. Regelmäßig wurden Schiffsführer allerdings in Konsulaten vorstellig, um Unterstützung im Umgang mit renitenten Seeleuten einzufordern.
Schürmanns Buch heißt "Der graue Unterstrom". Dieser Titel ist zunächst schwer verständlich, aber absolut passend. Die Wasserströme, in denen sich die Wale im Inneren der Meere bewegen, schichten sich säulenartig übereinander. Sie fließen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und streben in verschiedene Richtungen. Es gibt Unterströme, die entgegengesetzt zum Strom der Meeresoberfläche zirkulieren. In manchen Küstengebieten treiben große Flüsse wie der Kongo enorme Wassermengen in den Ozean, die dort eigene Ströme bilden, quer zu anderen. "Von all dem wussten Seeleute im 18. und 19. Jahrhundert wenig. Sie sahen einen Teil, die ihnen vertraute Oberflächenströmung, gewöhnlich als das Ganze, als die einzige Meeresströmung an", ergänzt Schürmann: "Eine ähnliche Vielfalt inkongruenter Ströme birgt die Vergangenheit. Jede Gegenwart strebt danach, einige davon als Hauptströme zu identifizieren und in ihnen ,die' Geschichte erkennen zu wollen. Im Hinblick auf Afrika stellen nach wie vor die europäische Expansion, der transatlantische Sklavenhandel und der Kolonialismus solche Hauptströme großer Geschichtenerzählungen dar. Ihnen gegenüber bilden Walfänger und ihre vielfältigen Beziehungen zu afrikanischen Küstengesellschaften einen bedeutenden Unterstrom."
Orte wie Furna wurden in maritime Handelsnetze eingebunden, junge Menschen flohen vor Hungersnöten und heuerten auf den Walfängern an. Sie gehören zu den wenigen Afrikanern, die mehr oder weniger freiwillig in die Vereinigten Staaten gelangten. Schürmanns wirtschaftshistorische Arbeit ist äußerst lesenswert und anregend, mitunter spannender als ein Roman, trotz des oft beklemmenden Inhalts. Begrüßenswert ist auch die Bebilderung des Buches.
Aber wieso nennt Schürmann seinen Unterstrom grau? Grau ist nicht nur die Haut vieler Wale. Es kann als kalte Farbe auch die leidvolle Geschichte der gegen sie gerichteten Gewalt markieren - und den trostlosen Alltag der Jäger beschreiben. Grau kann nicht strahlen und nicht blenden. Und die Küstenlinien und Häfen im tiefen Afrika, sie waren nicht selten: Grauzonen.
JOCHEN ZENTHÖFER
Felix Schürmann: Der graue Unterstrom. Campus Verlag, Frankfurt und New York 2017, 682 Seiten, 59 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Handel durch Walfangschiffe
Dieses Buch beschäftigt sich mit Walfängern und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas zwischen 1770 und 1920. Was zunächst abstrakt und weit entfernt klingt, entpuppt sich als die hervorragend gelungene Darstellung eines bislang unterbelichteten Teils der Wirtschaftsgeschichte. Hier geht es nicht um ein Land, eine Branche oder eine Person, sondern um eine Kontaktzone: die Küstenlinien Afrikas als Raum des Übergangs, an denen Intermediäre einflussreich sind, etwa Übersetzer, Lotsen, Strandläufer und Zwischenhändler.
"Wo Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Prägungen zueinander in Beziehung traten, konnte ihr wechselseitiger Austausch Eigendynamiken hervorbringen, die die an diesen Orten vorherrschenden Lebensweisen von denen ihrer benachbarten Umgebung lösten", schreibt Felix Schürmann, der am LOEWE-Schwerpunkt "Tier - Mensch - Gesellschaft" der Universität Kassel wirkt. LOEWE steht für "Landes-Offensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz" in Hessen.
Exzellent sind auch die verschiedenen Berichte über Schiffsreisen in diesem Buch. Das Thema ist ein altes Sujet der Literatur; zu seinen Ursprüngen zählen Homers Epos über die Seefahrten des Odysseus und das Buch Jona im Alten Testament. "Im Schreiben über Schiffsreisen hat sich über die Jahrhunderte eine Konvention wiederkehrender Topoi und Erzählstrukturen herausgebildet. Sie offenbart sich auch in den Berichten, die Seeleute im 19. Jahrhundert über ihre Erlebnisse im Walfang veröffentlichten", erläutert Schürmann.
Zu diesen wiederkehrenden Topoi gehören die Katastrophenerzählung (Schiffbruch, Meuterei), die exotische Erzählung (das Ferne und Fremde), die Reformerzählung (die harten Bedingungen auf dem Schiff anklagend) und die Erweckungserzählung (der christliche Glaube als Ausweg aus dem Elend). Doch bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Veröffentlichung eines Buches für einen einfachen Seemann "so ungewöhnlich wie für einen nordamerikanischen Pelzläger oder einen sächsischen Postkutscher". Verlässlicher, wenn auch nicht sehr aussagekräftig, sind rund 200 erhaltene Logbücher und Tagebücher, die heute in Archiven, Museen und im Privatbesitz auf der Welt verstreut aufbewahrt werden. Gemeinsam mit anderen Quellen zeigen sie eine Verflechtungsgeschichte zwischen Walfängern und Einheimischen, die zu lang dauernden Handelsverbindungen oder Migrationsbewegungen führen konnten.
Schürmann blickt nicht auf die Makroebene. Er erkundet die Verflechtungen von den Schiffen und den Küstenlinien aus, in einem historisch-anthropologischen Zugriff. Seine Chroniken beschreiben friedlichen Austausch und unbarmherzigen Kampf, traurige Abschiede und schreckliche Vergewaltigungen. Mitunter sind sogar die Namen einzelner Kapitäne oder Matrosen festgehalten. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Stadt Furna auf der kapverdischen Insel Brava. Vor knapp 200 Jahren war hier ein wichtiger Handelsort, und viele Staaten unterhielten Konsulate auf der Insel. Aufstieg und Fall: Heute wohnen in Furna nur noch 612 Menschen, Übernachtungsmöglichkeiten für Touristen bestehen keine. Schon im Jahre 1842 notierte ein Seemann, dass die Insel nicht viele Freizeitmöglichkeiten bot. "Die einzig regelmäßige Aktivität von Seeleuten bestand in Alkoholexzessen, von denen Logbücher und andere Quellen wieder und wieder berichten." Für Kapitäne war das ein Problem, doch die kapverdische Polizei wollte man nicht einschalten, um Verzögerungen bei der Ausfahrt durch Inhaftierungen zu vermeiden. Regelmäßig wurden Schiffsführer allerdings in Konsulaten vorstellig, um Unterstützung im Umgang mit renitenten Seeleuten einzufordern.
Schürmanns Buch heißt "Der graue Unterstrom". Dieser Titel ist zunächst schwer verständlich, aber absolut passend. Die Wasserströme, in denen sich die Wale im Inneren der Meere bewegen, schichten sich säulenartig übereinander. Sie fließen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und streben in verschiedene Richtungen. Es gibt Unterströme, die entgegengesetzt zum Strom der Meeresoberfläche zirkulieren. In manchen Küstengebieten treiben große Flüsse wie der Kongo enorme Wassermengen in den Ozean, die dort eigene Ströme bilden, quer zu anderen. "Von all dem wussten Seeleute im 18. und 19. Jahrhundert wenig. Sie sahen einen Teil, die ihnen vertraute Oberflächenströmung, gewöhnlich als das Ganze, als die einzige Meeresströmung an", ergänzt Schürmann: "Eine ähnliche Vielfalt inkongruenter Ströme birgt die Vergangenheit. Jede Gegenwart strebt danach, einige davon als Hauptströme zu identifizieren und in ihnen ,die' Geschichte erkennen zu wollen. Im Hinblick auf Afrika stellen nach wie vor die europäische Expansion, der transatlantische Sklavenhandel und der Kolonialismus solche Hauptströme großer Geschichtenerzählungen dar. Ihnen gegenüber bilden Walfänger und ihre vielfältigen Beziehungen zu afrikanischen Küstengesellschaften einen bedeutenden Unterstrom."
Orte wie Furna wurden in maritime Handelsnetze eingebunden, junge Menschen flohen vor Hungersnöten und heuerten auf den Walfängern an. Sie gehören zu den wenigen Afrikanern, die mehr oder weniger freiwillig in die Vereinigten Staaten gelangten. Schürmanns wirtschaftshistorische Arbeit ist äußerst lesenswert und anregend, mitunter spannender als ein Roman, trotz des oft beklemmenden Inhalts. Begrüßenswert ist auch die Bebilderung des Buches.
Aber wieso nennt Schürmann seinen Unterstrom grau? Grau ist nicht nur die Haut vieler Wale. Es kann als kalte Farbe auch die leidvolle Geschichte der gegen sie gerichteten Gewalt markieren - und den trostlosen Alltag der Jäger beschreiben. Grau kann nicht strahlen und nicht blenden. Und die Küstenlinien und Häfen im tiefen Afrika, sie waren nicht selten: Grauzonen.
JOCHEN ZENTHÖFER
Felix Schürmann: Der graue Unterstrom. Campus Verlag, Frankfurt und New York 2017, 682 Seiten, 59 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Thus Schürmann's research fits well into the Africanist historiography that aims to question the dominance of the European actors in Africa.«, Journal of Namibian Studies, 06.08.2018 »Alles andere als grau ist das Bild, das Felix Schürmann vom Walfang und den Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas [...] zeichnet. Dem [...] Historiker gelingt ein Narrativ, das in deutschsprachigen Dissertationen nur selten zu finden ist. [...] Richtungweisend für hoffentlich zahlreiche Forschungsergebnisse zur Geschichte des Walfangs.« Tanja Hammel, H-Soz-Kult, 26.04.2018 »Schürmanns Buch kann [...] nur jedem an der Geschichte des Walfanges, der Geschichte Afrikas, der Geschichte der frühen Globalisierung, der maritimen Umweltgeschichte, der Geschichte internationaler Beziehungen eindringlich empfohlen werden. [...] Schürmanns Verdienst ist es nicht nur, das Postulat von maritimer Geschichte als Globalgeschichte eingelöst zu haben, sondern darüber hinaus die Falle der Vernachlässigung der regionalen Differenzierung erfolgreich vermieden zu haben.« Ingo Heidbrink, H-Soz-Kult, 15.12.2017 »Felix Schürmann hat eine monumentale Studie vorgelegt, welche die gesamte 'Ära des Hochsee-Walfangs amerikanischen Stils' in primär sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, aber auch kulturelle Aspekte berücksichtigt und anregende Fragen zu Macht und Ungleichheit formuliert.« Arno Sonderegger, Sehepunkte, 15.01.2018 »Dieses Buch [...] entpuppt sich als die hervorragend gelungene Darstellung eines bislang unterbelichteten Teils der Wirtschaftsgeschichte. [...] Schürmanns wirtschaftshistorische Arbeit ist äußerst lesenswert und anregend, mitunter spannender als ein Roman, trotz des oft beklemmenden Inhalts.« Jochen Zenthöfer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.07.2017