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Produktdetails
  • Campe Paperback
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Originaltitel: The Savage God
  • Seitenzahl: 349
  • Abmessung: 204mm x 125mm x 26mm
  • Gewicht: 414g
  • ISBN-13: 9783455103298
  • Artikelnr.: 25267088
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Was starrst du mich an, o Ungeheuer?
Alfred Alvarez schüttelt die Hand, die sich an ihn legt / Von Michael Allmaier

Jean Améry beginnt sein 1976 erschienenes Suizidbuch "Hand an sich legen" mit dem Hinweis, daß es eher gegen die Fachliteratur als mit ihr geschrieben worden sei. Doch gleich auf der ersten Seite macht er eine Ausnahme. Er lobt das damals noch recht neue Werk "Der grausame Gott" von Alfred Alvarez und zitiert beifällig eine Passage daraus. Nur eins mißfällt ihm: daß Alvarez trotz aller Einsichten noch immer von Selbstmord spricht. Für Améry ist dieses Wort Relikt einer überkommenen Moral, die den Täter als Verbrecher gegen das eigene Leben verurteilt. Und wenn auch kein moderner Staat mehr die Überlebenden vor ein Gericht stellt, so schickt er sie doch in die Psychiatrie, wo man sie mit sanfter Gewalt von ihrem Vorhaben abbringen soll.

Damit hatte "Der grausame Gott" seine Schuldigkeit getan. Er gab den Anlaß für ein Traktat der Gegenpropaganda, die mit der Wahl des Wortes "Freitod" begann. Dabei hätte Améry seinen Einwand gerechterweise der Übersetzerin ankreiden müssen. Der Brite Alvarez schrieb neutral "suicide". Doch was hätte sie tun sollen? Die Tat selbst ließe sich noch als Selbsttötung wertfrei benennen. Aber schon für den, der sie begeht, wäre sie um ein passendes Wort verlegen gewesen. "Selbsttöter" oder gar "Freisterber" gibt es bis heute nicht.

Kein Wunder, könnten Spötter bemerken: Diese Minderheit hat es nicht leicht, ihr Recht auf korrekte Wortwahl einzuklagen. Erstaunlich ist es dennoch. Denn unter den Wortprägern, den Dichtern und Intellektuellen, hat dieser Weg in den Tod die meisten oder jedenfalls die lautesten Apologeten. Alfred Alvarez gehörte zu den leiseren. Jean Améry nahm sich 1978 das Leben. Alvarez lebt noch, schreibt über Träume, die Nacht und andere dunkle Dinge. Sein Buch über den Selbstmord, das im Original 1971 und drei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien, war hierzulande lange Zeit vergriffen. Passend zu seinem siebzigsten Geburtstag erscheint es jetzt in einer Neuauflage.

Das Thema hatte seinen Platz in den Debatten der frühen siebziger Jahre. Man wußte nun, was Camus gemeint hatte, als er noch in den Kriegsjahren schrieb, der Selbstmord sei das einzige philosophische Problem. Sinnverlust, Daseinsekel, der Zwang zum gefährlichen Leben waren geläufige Ideen geworden; und sie wurden umgesetzt. Wohl nicht zufällig liegen in jenen Jahren auch die Anfänge der modernen Selbstmordforschung und -prävention.

"Der grausame Gott", benannt nach einer Wendung von William Butler Yeats, berührt all diese Bereiche. Alvarez war Literaturkritiker beim "Observer", als er das Werk schrieb. Doch er versteckt sich nicht hinter seiner Belesenheit. Er spricht als Betroffener, der in den Büchern Rat gesucht, aber nur teilweise gefunden hat und der sich nun notgedrungen seine eigenen Gedanken macht. Der "Prolog" handelt von Sylvia Plath, die er persönlich kannte und mit seinen Kritiken den britischen Lesern empfahl. Seine Erinnerung an die letzten Monate der Dichterin vor ihrem Selbstmord 1963 wird bis heute als eine der wichtigsten Quellen zitiert.

Er vergleicht darin behutsam den Leichtsinn in ihrem Leben mit der Todessehnsucht in ihrem Werk und kommt so zu der Annahme, daß ihr Tod gewissermaßen ein Unfall war, daß sie gefunden werden wollte. Besonders wendet er sich gegen alle Deutungen, die sie zum Opfer ihrer Umwelt degradieren: "Bedauerlich ist nicht, daß sich um Sylvia Plath eine Legende gebildet hat. Bedauerlich ist vielmehr, daß die Legende nicht einfach von einer ungemein begabten Lyrikerin berichtet, deren Tod sich fahrlässig, irrtümlich und zu früh ereignete."

Das bringt den Verfasser zum Kern seines Buchs. Denn um sehr viele bekannte Selbstmörder beginnen nach ihrem Tod die Mythen zu ranken; manche werden überhaupt erst auf diese Art bekannt. Es scheint, als schaffe eine solche Tat einen Erklärungsbedarf, der nur mit den wildesten Spekulationen zu stillen ist. Da erstaunt es nicht, daß schon die Tat als solche zur Mythenbildung reizt. Alvarez diskutiert die geläufigsten Vorurteile, aber auch die zahllosen Versuche, den Suizid mit Theorien oder Gesetzen in den Griff zu bekommen.

Dieser Gewaltmarsch durch die Sozialgeschichte ist nicht der stärkste Teil des Buchs. Auf dem langen Weg von Athen nach Vietnam verliert sich der Autor zu oft in Histörchen und Pauschalurteilen. Man spürt die Ungeduld, die ihn als Leser getrieben haben muß, als er nach Bestätigung für seine Überzeugung suchte. Alvarez lobt den Selbstmord nicht, wie Améry es tut. Er verklärt ihn auch nicht zum Kunstwerk wie Balzac oder Camus. Doch er behandelt ihn als eine Entscheidung, die Mut erfordert und Respekt verdient. Albtraum, Konkurserklärung, Scheidung, Liebe - das sind nur einige der widersprüchlichen Metaphern, die er für den Suizid gebraucht. Ausdrücklich gemieden wird nur jede Nähe zu Verbrechen oder Krankheit.

Fast jeder Mensch wird sich wohl irgendwann darüber klargeworden sein, daß er sein Leben beenden kann. Er wird sich überlegt haben, unter welchen Umständen er es täte und mit welchen Mitteln. Und auch wenn er die Möglichkeit verwirft, wird er doch froh sein, sie zu haben. Nur was, so würde der Autor fragen, unterscheidet einen solchen Menschen grundsätzlich von einem, der jeden Morgen mit solchen Gedanken aufwacht, der für den Ernstfall Schlaftabletten hortet und sie dann eines Tages möglicherweise schluckt?

Alvarez schildert anschaulich die Sogwirkung einer solchen Idee: "Wenn ein Mensch beschließt, sich das Leben zu nehmen, betritt er eine abgeschlossene, undurchdringliche, jedoch völlig überzeugende Welt, in der jede Einzelheit stimmt und jeder Vorfall ihn in seinem Entschluß bestärkt: der Wortwechsel mit einem Fremden in der Bar, ein Brief, auf den er wartet und der nicht kommt, . . . alles scheint bedeutungsschwer, alles wirkt mit." So wird der Selbstmordkandidat so etwas wie der Dichter seines eigenen Lebens. Was schert ihn das Publikum mit seiner Vorliebe für ein Happy-End? Er ist schon froh, überhaupt zu einem Ende zu finden, das alle losen Fäden seiner zerfallenden Welt ein letztes Mal verbindet.

Alvarez fühlt mit seinen Selbstmördern. Sie waren "genial" oder "beispiellos begabt", ihre Gegner "schäbig" und "dumm". Mitunter fällt es ihm schwer, die beabsichtigte Distanz einzuhalten. Man muß nicht erst bis zum Epilog lesen, um zu ahnen, daß er selbst schon einmal an der Schwelle zum Suizid stand. Wie später Améry weist auch er alle psychiatrischen Studien zum Thema zurück, so, als würde der Gegenstand von ihnen entweiht. Wenn er ihre Befunde nutzt, dann nur, um andere, ihm noch unwillkommenere aus dem Feld zu schlagen. Er verläßt sich auf die Dichter. Wie andere "suizidfreundliche" Schriften ist auch "Der grausame Gott" übervoll mit Klassikerzitaten. Bei ihnen vermutet der Autor die Einsicht und Ausdruckskraft, die es braucht, um aus der Welt der Lebensmüden zu berichten. Man kann das bedenklich finden. Denn zum einen wollen Literaten nicht immer wörtlich genommen oder gar nachgeahmt werden. Die wenigsten wären erpicht darauf, mit ihrem Werk den Kalenderspruch für irgend jemandes letzten Tag zu liefern. Zum anderen nehmen sich zwar in diesen Kreisen unverhältnismäßig viele Menschen das Leben. Aber das muß nicht unbedingt von einer freien Geisteshaltung zeugen. Man könnte ebensogut behaupten, daß schöpferische Empfindsamkeit nun einmal mit Labilität einhergeht.

Doch diese Erklärung schließt der Verfasser fast schon per definitionem aus. Seine Fälle sind nicht die, mit denen es der Psychiater tagtäglich zu tun bekommt. Über das Gros der depressiven, süchtigen oder auf andere Weise kranken Selbstmörder verliert er kein Wort. Aber vielleicht ist es nur der Wandel der Zeit, der das als ein Manko erscheinen läßt. Wir haben uns daran gewöhnt, den Selbstmord als ein medizinisches und nicht länger als ein philosophisches Problem zu betrachten. Es gibt Fachleute dafür, denen man nicht ins Handwerk pfuschen möchte. Und auch die Befürworter der Selbsttötung haben sich mittlerweile organisiert. Sterbehilfe-Vereine geleiten Entschlossene auf ihren letzten Weg. Beim technischen Teil hilft Ratgeberliteratur.

Schriftsteller wie Alvarez müssen diese Entwicklung gespürt haben. Denn die Selbstmordbücher jener Jahre waren selbst eine Art von Hilferuf. Sie proklamierten darin ein Recht in der Hoffnung auf Widerspruch. Sie unterstellten der Welt eine Angst vor dem Tod, weil sie Angst hatten vor ihrer Gleichgültigkeit. Damit erscheint auch das anfangs befremdliche Insider-Gebaren in einem neuen Licht. Alvarez spricht noch ironisch von "Club" der Selbstmörder, nicht wie Améry von einem "weltumspannenden, unsichtbaren Verein". Doch schwenkt er ein wenig zu oft seinen Mitgliedsausweis und bestätigt damit die Erfahrung, wonach zwischen Selbstmordneigung und Theatralik eine Wechselbeziehung herrscht.

Aber auch im Freitod sind nicht alle gleich. Man vergleiche nur Alvarez' rauhbeinige Schilderung seines Selbstmordversuchs mit denen von Sylvia Plath, die gerade durch ihren unbekümmerten, fast heiteren Ton dem Leser Angst einjagen. Dort spricht jemand, der den Tod erwartet wie einen unpünktlichen Freund. In ihrem Roman "Die Glasglocke" beschreibt sie einen Versuch der Erzählerin, sich zu ertränken: "Ich tauchte und tauchte noch einmal, aber jedesmal schoß ich wie ein Korken nach oben. Der graue Felsen lachte mich aus und tanzte unbeschwert wie ein Rettungsring auf dem Wasser."

Ein wenig geht es auch Alfred Alvarez so in seinem Bemühen, der Todessehnsucht auf den Grund zu kommen. Er stößt viele Male in die Tiefe und wird doch immer wieder an die Oberfläche gedrückt. Aber man würde nicht zu wünschen wagen, daß es ihm anders ergangen wäre.

Alfred Alvarez: "Der grausame Gott". Eine Studie über den Selbstmord. Aus dem Englischen von Maria Dessauer und Geno Hartlaub. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 352 S., br., 36,- DM.

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