Bennie Salazar, ein Musikproduzent mit Visionen, hat Höhen und Tiefen erlebt. Auch seine Assistentin Sasha hat Probleme, von denen er allerdings nichts ahnt. Als Scotty, der Leadgitarrist von Bennies einstiger Punkband, überraschend wieder auftaucht, holt die Vergangenheit beide ein. Jennifer Egan entwirft ein großes Portrait des kulturellen Umbruchs seit dem Ende der Utopien bis zum digitalen Zeitalter und erzählt in wechselnden Perspektiven von Liebe, Freundschaft und Verlust. Der größere Teil der Welt reicht von der Musikszene San Franciscos Ende der Siebziger und dem New York der Neunziger bis zur ökologischen Katastrophe der Zukunft und einem verblüffenden Konzert am Ground Zero. Für ihren Roman erhielt Jennifer Egan den Pulitzer-Preis 2011 und zahlreiche weitere renommierte Auszeichnungen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das arg Konzeptuelle an diesem gefeierten Roman von Jennifer Egan scheint Felicitas von Lovenberg nicht zu stören. Den Epiphanien sei es gedankt, zu denen Egans wüster Figurenreigen in dreizehn "Kapiteltracks" sich laut Lovenberg immer mal wieder emporwirft. Die Story zusammenzufassen sei eigentlich unmöglich, erklärt sie, versucht es aus Mangel an Alternativen dann aber doch, was uns, wie ganz richtig vermutet, nicht wirklich schlauer macht. Der eigentliche Clou des Buches liegt für Lovenberg ohnehin in dem Kunststück, die berühmten "six degrees of separation", die verdammte Verwandtschaft mit so ziemlich jedem auf dieser Welt also, mit literarischen Mitteln, als große Kakophonie exemplifiziert zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2012Die Zeit schlägt alle Wunden
Jennifer Egans Roman „Der größere Teil der Welt“ spielt virtuos mit den jähen Abstürzen und Comebacks, die das Leben mit sich bringt
Bei der guten alten Schallplatte war es noch leicht, von der A- zur B-Seite zu kommen: Man drehte sie einfach um. Doch die Schallplatte erfreut heute nur noch Nostalgiker, und auch sonst scheint es keinen direkten Weg von A nach B mehr zu geben. Das ist Konsens zumindest in der postmodernen Literatur, die Brüche und Umwege einer stringenten Erzählweise vorzieht.
Es sind die Seitenlinien und Schlenker auf den Lebenswegen ihrer Figuren, für die sich auch Jennifer Egan in ihrem Roman „Der größere Teil der Welt“ vor allem interessiert. Und für die Pausen, die im Leben wie in der Kunst oft eintreten, wenn man sie am wenigsten erwartet. Zum Beispiel in der Rockmusik, wo sie als wirkungsvolles Irritationsmoment eingesetzt werden, wie der 13-jährige Lincoln feststellt. Seine akribisch geführte Analyse von Rocksongs wird von seiner Schwester in einem Folientagebuch dokumentiert – beide sind Kinder einer nahen Zukunft, in der Schreiben mit der Hand und selbst die alltägliche Konversation ohne Zuhilfenahme eines Smartpads als nicht mehr zeitgemäß angesehen werden.
Wie eine Power-Point-Präsentation hat Jennifer Egan diesen Teil ihres Romans gestaltet, ein Meta-Kapitel über die Bedeutung der Sprache beim Erfassen der Welt und ein Experiment, das sich wie selbstverständlich einfügt in ein Buch, bei dem das Spiel mit den Formen Ehrgeiz verrät, aber nie zum Selbstzweck wird. Stattdessen lässt das Werk an den Aufbau eines Rockalbums denken, bei dem jeder Titel mit einem eigenen Charakter ausgestattet wurde. Durchaus passend für einen Roman, der zum großen Teil in und am Rande der Musikindustrie spielt.
Im vergangenen Jahr gewann Jennifer Egan, 1962 geboren, für „Der größere Teil der Welt“ den Pulitzer-Preis. Dadurch avancierte sie binnen kurzem vom Geheimtipp zum neuen Literatur-Star. Schon mit ihren früheren Romanen durfte sie freilich zu den originellsten amerikanischen Prosa-Autorinnen unserer Zeit gezählt werden. Das prägnanteste Merkmal ihrer Werke ist ihre inhaltliche wie stilistische Vielseitigkeit, mit der Jennifer Egan den Leser stets aufs Neue überrascht: Keines ihrer Bücher lässt sich mit den anderen vergleichen.
In ihrem preisgekrönten Roman verfolgt Jennifer Egan eine Strategie der ständig wechselnden Perspektiven und kunstvollen Verschachtelungen. Jedes Kapitel wird aus der Sicht einer anderen Figur erzählt, deren Erzählungen über Charaktere und Themen miteinander verknüpft sind. Virtuos wechselt die Autorin dabei auch von einer Stilebene zur anderen: Neben dem Power-Point-Experiment findet sich ein Kapitel, das in der zweiten Person geschrieben ist, ein anderes ist in seinem ausufernden Einsatz von Fußnoten eine ironische Hommage an David Foster Wallace.
Die Chronologie ist vollkommen aufgebrochen, munter springt die Autorin zwischen Zeiten und Orten hin und her: So befindet man sich im einen Moment noch im New York nach der Jahrtausendwende, unternimmt dann im nächsten eine Zeitreise ins Siebziger-Jahre-Punkrock-Milieu von San Francisco, macht einen kleinen Abstecher nach Afrika und nimmt an einer Safari teil, um über den Umweg Neapel in ein New York zurückzukehren, wie es in zehn bis fünfzehn Jahren aussehen könnte. Gar nicht so einfach, bei all diesen Sprüngen halbwegs den Überblick zu behalten. Als Vorbilder für die polyphone Erzählweise lassen sich Pynchon und DeLillo ausmachen, vor allem aber auch multiperspektivische Fernsehserien wie „The Wire“ oder „The Sopranos“. Dass der Bezahlsender HBO, auf dem beide Serien liefen, sich wiederum bereits die Filmrechte an „Der größere Teil der Welt“ gesichert hat, ist nur folgerichtig.
Sehr ambitioniert führt Jennifer Egan als weiteren Referenzpunkt Marcel Proust an. Auch ihre Figuren befinden sich auf der Suche nach der verlorenen Lebenszeit, jagen alten Erfolgen hinterher und wünschen sich, sie könnten getroffene Entscheidungen rückgängig machen. Im letzten Kapitel lauscht einer der Charaktere dem New Yorker Straßenlärm und vernimmt Unerwartetes: „Die samtene Nacht in seinen Ohren. Und das Summen, immer dieses Summen, das vielleicht gar kein Echo war, sondern der Klang der vergehenden Zeit.“ An anderer Stelle wird ein abgewrackter Rockgitarrist noch deutlicher: „Die Zeit macht einen fertig“, heißt es in der deutschen Übersetzung, das Original formuliert wesentlich prägnanter „Time’s a goon“, was auch im englischen Titel des Romans „A Visit from the Goon Squad“ – ein Besuch vom Schlägertrupp – aufgenommen wird. Für den früheren Rockstar ist die Konsequenz klar: Als letzte Option bleibt ihm, seinen Abstieg öffentlich auszuschlachten, um dann auf einer finalen Tournee so lange sein Äußerstes zu geben, bis ihn die übermäßige Anstrengung umbringen wird. Dadurch glaubt er, als Legende überdauern und die Zeit überlisten zu können.
Die Erkenntnis, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt, sondern sie selbst schlägt, zieht sich als Motiv durch die Geschichten. Keiner Figur ist dauerhafter Erfolg beschieden, das Leben trifft sie in all seinen Unwägbarkeiten. Das schließt heftige Abstürze mit ein, aber auch unerwartete Comebacks, die Jennifer Egan mit erkennbarem Vergnügen satirisch zuspitzt: Die Geschichte der PR-Beraterin Dolly etwa, die in Ungnade gefallen ist, aber die Rückkehr an die Spitze schafft, als sie einem afrikanischen Kriegsverbrecher mit einem simplen Bluff zu einem neuen Image verhilft.
In der Vielzahl handelnder Personen lassen sich zwei Hauptfiguren ausmachen, um die herum alle anderen drapiert sind. Die eine, der Plattenproduzent Bennie Salazar, vollzieht eine ironisch übersteigerte branchenübliche Berg- und Talfahrt. Vom Bassisten der Punkband Flaming Dildos steigt er erst zum erfolgreichen Produzenten auf, dann lässt sein Ansehen wieder nach, ebenso wie sein Gespür für Talente und auch seine Potenz, der er versucht, mit einer Goldflocken-Diät wieder auf die Sprünge zu helfen. Erst mit über 70 katapultiert ihn der unerwartete Triumph eines früheren Bandkumpels selbst noch mal ins Rampenlicht zurück.
Zu diesem Zeitpunkt ist es bereits Ewigkeiten her, dass Bennie seine langjährige Assistentin Sasha wegen ihrer Anlage zur Kleptomanie gefeuert hat. Sasha ist die zweite Protagonistin und die Figur, die beim Leser die größte Anteilnahme erweckt. Zwei Kapitel, die von ihren Jugenderlebnissen als Ausreißerin und von ihrer Studentenzeit handeln, sind die dichtesten des Romans: Kleine Meisterwerke der Beschreibungskunst finden sich dort in dem sonst eher durch Dialoge vorangetriebenen Buch. Am Ende kehrt noch einmal das Motiv der verlorenen Zeit zurück, wenn ein Mann, mit dem Sasha einmal ein Date hatte, sich gemeinsam mit Bennie auf die Suche nach ihr macht. Vergeblich, denn sie hat sich da schon lange in ein Spießbürgerdasein als Frau eines Arztes und Mutter verabschiedet. Wie Proust führt auch Jennifer Egan vor, dass die Jugend nicht wiederkehrt. Es sei denn in der Erinnerung.
MARIUS NOBACH
JENNIFER EGAN: Der größere Teil der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Heide Zeltmann. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012. 392 Seiten, 22,95 Euro.
Die polyphone Erzählweise
bringt Proust und die Sopranos
ganz locker zusammen
Jennifer Egan vor ihrem Haus in Brooklyn. Foto: ddp images/AP/H.R. Abrams
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jennifer Egans Roman „Der größere Teil der Welt“ spielt virtuos mit den jähen Abstürzen und Comebacks, die das Leben mit sich bringt
Bei der guten alten Schallplatte war es noch leicht, von der A- zur B-Seite zu kommen: Man drehte sie einfach um. Doch die Schallplatte erfreut heute nur noch Nostalgiker, und auch sonst scheint es keinen direkten Weg von A nach B mehr zu geben. Das ist Konsens zumindest in der postmodernen Literatur, die Brüche und Umwege einer stringenten Erzählweise vorzieht.
Es sind die Seitenlinien und Schlenker auf den Lebenswegen ihrer Figuren, für die sich auch Jennifer Egan in ihrem Roman „Der größere Teil der Welt“ vor allem interessiert. Und für die Pausen, die im Leben wie in der Kunst oft eintreten, wenn man sie am wenigsten erwartet. Zum Beispiel in der Rockmusik, wo sie als wirkungsvolles Irritationsmoment eingesetzt werden, wie der 13-jährige Lincoln feststellt. Seine akribisch geführte Analyse von Rocksongs wird von seiner Schwester in einem Folientagebuch dokumentiert – beide sind Kinder einer nahen Zukunft, in der Schreiben mit der Hand und selbst die alltägliche Konversation ohne Zuhilfenahme eines Smartpads als nicht mehr zeitgemäß angesehen werden.
Wie eine Power-Point-Präsentation hat Jennifer Egan diesen Teil ihres Romans gestaltet, ein Meta-Kapitel über die Bedeutung der Sprache beim Erfassen der Welt und ein Experiment, das sich wie selbstverständlich einfügt in ein Buch, bei dem das Spiel mit den Formen Ehrgeiz verrät, aber nie zum Selbstzweck wird. Stattdessen lässt das Werk an den Aufbau eines Rockalbums denken, bei dem jeder Titel mit einem eigenen Charakter ausgestattet wurde. Durchaus passend für einen Roman, der zum großen Teil in und am Rande der Musikindustrie spielt.
Im vergangenen Jahr gewann Jennifer Egan, 1962 geboren, für „Der größere Teil der Welt“ den Pulitzer-Preis. Dadurch avancierte sie binnen kurzem vom Geheimtipp zum neuen Literatur-Star. Schon mit ihren früheren Romanen durfte sie freilich zu den originellsten amerikanischen Prosa-Autorinnen unserer Zeit gezählt werden. Das prägnanteste Merkmal ihrer Werke ist ihre inhaltliche wie stilistische Vielseitigkeit, mit der Jennifer Egan den Leser stets aufs Neue überrascht: Keines ihrer Bücher lässt sich mit den anderen vergleichen.
In ihrem preisgekrönten Roman verfolgt Jennifer Egan eine Strategie der ständig wechselnden Perspektiven und kunstvollen Verschachtelungen. Jedes Kapitel wird aus der Sicht einer anderen Figur erzählt, deren Erzählungen über Charaktere und Themen miteinander verknüpft sind. Virtuos wechselt die Autorin dabei auch von einer Stilebene zur anderen: Neben dem Power-Point-Experiment findet sich ein Kapitel, das in der zweiten Person geschrieben ist, ein anderes ist in seinem ausufernden Einsatz von Fußnoten eine ironische Hommage an David Foster Wallace.
Die Chronologie ist vollkommen aufgebrochen, munter springt die Autorin zwischen Zeiten und Orten hin und her: So befindet man sich im einen Moment noch im New York nach der Jahrtausendwende, unternimmt dann im nächsten eine Zeitreise ins Siebziger-Jahre-Punkrock-Milieu von San Francisco, macht einen kleinen Abstecher nach Afrika und nimmt an einer Safari teil, um über den Umweg Neapel in ein New York zurückzukehren, wie es in zehn bis fünfzehn Jahren aussehen könnte. Gar nicht so einfach, bei all diesen Sprüngen halbwegs den Überblick zu behalten. Als Vorbilder für die polyphone Erzählweise lassen sich Pynchon und DeLillo ausmachen, vor allem aber auch multiperspektivische Fernsehserien wie „The Wire“ oder „The Sopranos“. Dass der Bezahlsender HBO, auf dem beide Serien liefen, sich wiederum bereits die Filmrechte an „Der größere Teil der Welt“ gesichert hat, ist nur folgerichtig.
Sehr ambitioniert führt Jennifer Egan als weiteren Referenzpunkt Marcel Proust an. Auch ihre Figuren befinden sich auf der Suche nach der verlorenen Lebenszeit, jagen alten Erfolgen hinterher und wünschen sich, sie könnten getroffene Entscheidungen rückgängig machen. Im letzten Kapitel lauscht einer der Charaktere dem New Yorker Straßenlärm und vernimmt Unerwartetes: „Die samtene Nacht in seinen Ohren. Und das Summen, immer dieses Summen, das vielleicht gar kein Echo war, sondern der Klang der vergehenden Zeit.“ An anderer Stelle wird ein abgewrackter Rockgitarrist noch deutlicher: „Die Zeit macht einen fertig“, heißt es in der deutschen Übersetzung, das Original formuliert wesentlich prägnanter „Time’s a goon“, was auch im englischen Titel des Romans „A Visit from the Goon Squad“ – ein Besuch vom Schlägertrupp – aufgenommen wird. Für den früheren Rockstar ist die Konsequenz klar: Als letzte Option bleibt ihm, seinen Abstieg öffentlich auszuschlachten, um dann auf einer finalen Tournee so lange sein Äußerstes zu geben, bis ihn die übermäßige Anstrengung umbringen wird. Dadurch glaubt er, als Legende überdauern und die Zeit überlisten zu können.
Die Erkenntnis, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt, sondern sie selbst schlägt, zieht sich als Motiv durch die Geschichten. Keiner Figur ist dauerhafter Erfolg beschieden, das Leben trifft sie in all seinen Unwägbarkeiten. Das schließt heftige Abstürze mit ein, aber auch unerwartete Comebacks, die Jennifer Egan mit erkennbarem Vergnügen satirisch zuspitzt: Die Geschichte der PR-Beraterin Dolly etwa, die in Ungnade gefallen ist, aber die Rückkehr an die Spitze schafft, als sie einem afrikanischen Kriegsverbrecher mit einem simplen Bluff zu einem neuen Image verhilft.
In der Vielzahl handelnder Personen lassen sich zwei Hauptfiguren ausmachen, um die herum alle anderen drapiert sind. Die eine, der Plattenproduzent Bennie Salazar, vollzieht eine ironisch übersteigerte branchenübliche Berg- und Talfahrt. Vom Bassisten der Punkband Flaming Dildos steigt er erst zum erfolgreichen Produzenten auf, dann lässt sein Ansehen wieder nach, ebenso wie sein Gespür für Talente und auch seine Potenz, der er versucht, mit einer Goldflocken-Diät wieder auf die Sprünge zu helfen. Erst mit über 70 katapultiert ihn der unerwartete Triumph eines früheren Bandkumpels selbst noch mal ins Rampenlicht zurück.
Zu diesem Zeitpunkt ist es bereits Ewigkeiten her, dass Bennie seine langjährige Assistentin Sasha wegen ihrer Anlage zur Kleptomanie gefeuert hat. Sasha ist die zweite Protagonistin und die Figur, die beim Leser die größte Anteilnahme erweckt. Zwei Kapitel, die von ihren Jugenderlebnissen als Ausreißerin und von ihrer Studentenzeit handeln, sind die dichtesten des Romans: Kleine Meisterwerke der Beschreibungskunst finden sich dort in dem sonst eher durch Dialoge vorangetriebenen Buch. Am Ende kehrt noch einmal das Motiv der verlorenen Zeit zurück, wenn ein Mann, mit dem Sasha einmal ein Date hatte, sich gemeinsam mit Bennie auf die Suche nach ihr macht. Vergeblich, denn sie hat sich da schon lange in ein Spießbürgerdasein als Frau eines Arztes und Mutter verabschiedet. Wie Proust führt auch Jennifer Egan vor, dass die Jugend nicht wiederkehrt. Es sei denn in der Erinnerung.
MARIUS NOBACH
JENNIFER EGAN: Der größere Teil der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Heide Zeltmann. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012. 392 Seiten, 22,95 Euro.
Die polyphone Erzählweise
bringt Proust und die Sopranos
ganz locker zusammen
Jennifer Egan vor ihrem Haus in Brooklyn. Foto: ddp images/AP/H.R. Abrams
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2012Das Signal der Stille
Das Schönste im Leben sind die Pausen: Jennifer Egans neuer Roman "Der größere Teil der Welt"
Sie sagt, sie fände diese Debatten langweilig: die um die Zukunft des Romans zum Beispiel oder die darum, ob es Kinder verdirbt, wenn sie ständig auf ihre Smartphones starren. Sie hat einen Roman geschrieben, "Der größere Teil der Welt" heißt er, der dreizehn Kapitel (und ungefähr genauso viele Erzähler) hat, eines ist dabei, das wie eine Powerpoint-Präsentation abläuft, ein anderes spielt in der Zukunft, wo die Leute dann ständig sehr kunstfertige SMS verschicken. Man könnte also denken, dass die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan doch irgendwie mitten drinsteckt in diesen Debatten um die Technologien von heute und die Romane von morgen.
Aber das denkt man genau so lange, bis man diesen neuen Roman zu lesen beginnt - und merkt, dass es das eine ist, darüber zu debattieren, welche Relevanz Romane noch haben können, wenn die anderen Formate (und deren Geräte) die kulturelle Imaginationskraft der Gegenwart so in Beschlag genommen haben; Debatten, an denen sich Jennifer Egans Kollegen Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides und Gary Shteyngart schon beteiligt haben - und das andere, eine Erzählung von Menschen im Laufe der Zeit hinzulegen, die nur in dieser Form zu haben ist: nämlich als Roman. "Lasst uns", sagt Jennifer Egan, "mit dieser wahnsinnig flexiblen Form Dinge tun, die man anders nicht hinbekommt - dann müssen die Leute eben lesen, weil sie diese Art von Genuss nirgendwo sonst kriegen."
Aber der Reihe nach: Jennifer Egan, geboren 1962, aufgewachsen in San Francisco, heute lebt sie mit einem Mann und zwei Söhnen in Brooklyn, schreibt seit 1993 Romane, Erzählungen und Reportagen und hat für "Der größere Teil der Welt" 2011 den Pulitzer-Preis bekommen (und noch ein paar andere, sehr renommierte mehr). Ein Buch, dessen Geschichte zur Zeit des Punk beginnt und in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts endet und diesen Weg aber nicht linear geht, sondern in Sprüngen, vorwärts, rückwärts, seitwärts: Den Anfang - der aber nicht der Anfang des Buches ist - machen ein paar Teenager, die eine Band gründen, The Flaming Dildos, in Kalifornien, es ist 1979.
Einer von den Flaming Dildos, Benny, macht Karriere in der Musik, ein anderer, Scotty, strauchelt, stürzt und fängt sich wieder. Ein Mädchen, Jocelyn, lernt einen reichen Plattenboss kennen: Lou, der sechs Kinder mit drei Frauen hat, und wie dieser Lou, ein Kind der amerikanischen Sixties, mit seinen Kindern und seinen Frauen mehr verfährt als lebt, das erfährt man auch in einem Kapitel des Romans - und genauso, wie Jules, der Bruder von Bennys späterer Frau Stephanie, bei einem Interview über eine Schauspielerin herfällt und dafür ins Gefängnis geht, und wie diese Schauspielerin, Kitty Jackson, dann mit einem Bananenrepubliksgeneral für ein paar schöne Paparazzi-Bilder verkuppelt wird, damit der General, ein Völkermörder, bessere Presse kriegt. Das wiederum war die Idee einer PR-Agentin namens Dolly, deren Tochter, Lulu, am Ende der Geschichte, also in der Zukunft, die Assistentin von Benny ist.
Und da gibt es auch noch Sasha, die auch mal Bennys Assistentin war, und ihre Tochter Allison, ihren Onkel Ted und ihren Zuhälter Lars, und Bosco, noch ein gestrandeter Musiker, und die Republikanerin Cathy, die mit Bennys Frau Stephanie Tennis spielt und mit Benny schläft - im Grunde besteht "Der größere Teil der Welt" nur aus Nebenfiguren, zusammengehalten von einer Idee - der Zeit und was sie aus uns macht, wenn wir versuchen, einen Ort in ihr zu finden - und einer Form, die sich als extrem dehnbar und belastbar herausstellt.
Also reden wir am Ende doch über die Form dieses neuen Romans, auch wenn Jennifer Egan die Romanformdebatte langweilt und sie das bei bester Laune sagt. Sie hat, siehe oben, eine angenehm pragmatische Art, mit ihrem Beruf umzugehen, ohne jetzt dabei anti-akademisch oder anti-intellektuell zu werden, was ja genauso langweilig wäre. Aber während Jeffrey Eugenides zuletzt in Interviews darüber nachgedacht hat, ob es in seinen Romanen "Signale" gibt, "dass die Geschichte vom Erzähler erfunden wird" (was der große Wolfgang Herrndorf in seinem Blog mit "Signale, daß die Geschichte vom Erzähler erfunden wird - Wahnsinn. Was werden sie als nächstes herausfinden?" sehr lustig abmoderierte), sagt Jennifer Egan: "Ich glaube, man liest doch, um unterhalten zu werden und der Gegenwart zu entfliehen. Deswegen lese ich jedenfalls. Mich interessiert es nicht, auf Kosten einer guten Geschichte vorgeführt zu bekommen, wie schlau jemand ist."
Aber sie experimentiert im neuen Roman selbst doch auch herum, wenn sie mit Powerpoint arbeitet? "Warum ich am Ende in diese ungewöhnlichen Erzählformen hineingestolpert bin", sagt Jennifer Egan, "hat nur damit zu tun, dass man oft interessantere und komplexere Geschichten erzählen kann, wenn man sich außerhalb von dem bewegt, was man konventionell nennt."
Und dann sagt sie etwas, dass einem wieder mal dieses Gefühl gibt, amerikanische Autoren hätten doch irgendwie ein paar mehr Tassen im Schrank als manche ihre Kollegen aus der alten Welt, ein Gefühl, das einem dieses phantastische Buch sowieso schon gibt: "Besseres kann doch gar nicht passieren, als dass der Roman sich gegen so viel Konkurrenz zur Wehr setzen muss wie jetzt. Aber die Leute werden keine Bücher lesen, wenn wir ihnen sagen, dass sie gut für sie sind und sie klüger machen, als wären sie Vitamine. In dem Moment, wo Bücher zu einer lästigen Pflicht werden, sind wir am Ende." Also, was tun wir dagegen? "Let's have some fun!"
Sie lacht. Sie meint das so. Jennifer Egan hat sich hingesetzt und diesen Roman geschrieben, mit der Hand, auf Papier, wie alle ihre Bücher davor. Sie brauche, sagt Jennifer Egan, ein Gefühl von Abenteuer und Ungewissheit beim Schreiben, diesen Überraschungsmoment - angeblich soll Balzac ja auch immer sofort vom Mittagessen aufgesprungen und zu seinem Manuskript auf dem Schreibtisch zurückgerannt sein, weil er wissen wollte, wie es weitergeht. Selbst das Powerpoint-Kapitel mit seinen Kreisen, Pfeilen, Schnittmengen und Diagrammen sei handschriftlich entstanden, Jennifer Egan hatte das Programm nicht mal auf ihrem Computer: Da war nur diese Idee, etwas mit Powerpoint zu schreiben, das in der Wüste spielt.
Allison, die Tochter von Sasha, erzählt in diesem Kapitel die kleine Geschichte ihrer Familie: der Vater ein erschöpfter Arzt, die Mutter eine Frau mit Geheimnissen, die in ihrer Vergangenheit liegen, der Bruder, Lincoln, dokumentiert die Pausen in Popsongs: "Roxanne", von Police, zwei Sekunden zwischen Minute 1:57 und 1:59, anderthalb Sekunden bei "Bernadette" von den Four Tops, zwei bei "Foxy Lady" von Jimi Hendrix. Ein Tic, der seinen Vater wahnsinnig macht, warum nur, fragt er, warum hat Lincoln keine Freunde, sondern sammelt Stille? "Die Pause lässt einen glauben, dass der Song zu Ende ist", antwortet Sasha ihm. "Und dann ist der Song gar nicht richtig zu Ende, deshalb ist man erleichtert. Aber dann endet er doch, denn jedes Lied hat natürlich ein Ende, und DIESMAL - IST - ENDGÜLTIG - ALLES - VORBEI."
In einem Roman, der kein Zentrum hat, um das er kreist, ist dieser Satz, diese eine Seite in Allisons Powerpoint-Präsentation so etwas wie die Schlüsselstelle. Jennifer Egan hat ein Buch geschrieben, das natürlich, und es macht großen Spaß, von Musik handelt. Und vom Augenblick im Leben des 20. Jahrhunderts, als Punk und postmoderne französische Theorie die Ästhetik veränderten. Plötzlich ging es ums Umbauen und Auslachen, um mehr ironische Distanz und weniger Bekenntnis - ein Augenblick, von dem auch Jonathan Franzen in "Freiheit" und Jeffrey Eugenides in der "Liebeshandlung" erzählt haben. Da ist offenbar noch etwas ungeklärt an dieser Phase, das noch geklärt werden muss, überhaupt verbindet man Punk ja eher mit England als mit Kalifornien oder New York, woher er aber ja eigentlich kam.
Doch die Musikwelt ist im Grunde nur der Vordergrund für Jennifer Egan, die selbst, am Ende der Siebziger, ein spätes Hippiemädchen gewesen sei, sagt sie, und zu den Leuten, über die sie jetzt geschrieben hat, gar nicht gehörte. Punk, das habe sie aber trotzdem kapiert, war der Augenblick, an dem es wieder losging, das Gefühl wieder einsetzte, dass doch noch etwas zu bewegen sei, dass Aufbruch und Veränderung nicht mit den Sixties ein für alle Mal vorbei war.
Nach einer Pause geht es weiter, um dann irgendwann, unweigerlich, aufzuhören - diese Pausen zu erforschen hieße dann eigentlich, das Leben zu erforschen: Hoffen, Neuerfinden, Kraftschöpfen, Durchkommen, Innehalten, Aussetzen, Aufgeben. Weitermachen, aber wie, während die Uhr läuft. Nicht alle von Jennifer Egans Figuren schaffen es, den Punkt zu überwinden. Eine nimmt sich das Leben, eine andere stirbt öffentlich, eine dritte zieht sich zurück. Oder kehrt noch einmal wieder.
Dieser Augenblick aber, an dem sich das entscheidet, der Richtungswechsel, die Grenze, diese Pause in der Bewegung scheint wichtiger als die Bewegung selbst. Dass Jennifer Egan im blöden Powerpoint-Programm eine grafische Metapher für ihren eigenen Roman und das Leben gefunden hat, ist einigermaßen genial. Dass er, trotz dieser Smartheit, am Ende ein zutiefst menschliches Dilemma behandelt, könnte man dabei fast übersehen. Es macht diesen Roman aber so bewegend.
TOBIAS RÜTHER
Jennifer Egan: "Der größere Teil der Welt". Übersetzt von Heide Zeltmann. Schöffling & Co., 392 Seiten, 22,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Schönste im Leben sind die Pausen: Jennifer Egans neuer Roman "Der größere Teil der Welt"
Sie sagt, sie fände diese Debatten langweilig: die um die Zukunft des Romans zum Beispiel oder die darum, ob es Kinder verdirbt, wenn sie ständig auf ihre Smartphones starren. Sie hat einen Roman geschrieben, "Der größere Teil der Welt" heißt er, der dreizehn Kapitel (und ungefähr genauso viele Erzähler) hat, eines ist dabei, das wie eine Powerpoint-Präsentation abläuft, ein anderes spielt in der Zukunft, wo die Leute dann ständig sehr kunstfertige SMS verschicken. Man könnte also denken, dass die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Egan doch irgendwie mitten drinsteckt in diesen Debatten um die Technologien von heute und die Romane von morgen.
Aber das denkt man genau so lange, bis man diesen neuen Roman zu lesen beginnt - und merkt, dass es das eine ist, darüber zu debattieren, welche Relevanz Romane noch haben können, wenn die anderen Formate (und deren Geräte) die kulturelle Imaginationskraft der Gegenwart so in Beschlag genommen haben; Debatten, an denen sich Jennifer Egans Kollegen Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides und Gary Shteyngart schon beteiligt haben - und das andere, eine Erzählung von Menschen im Laufe der Zeit hinzulegen, die nur in dieser Form zu haben ist: nämlich als Roman. "Lasst uns", sagt Jennifer Egan, "mit dieser wahnsinnig flexiblen Form Dinge tun, die man anders nicht hinbekommt - dann müssen die Leute eben lesen, weil sie diese Art von Genuss nirgendwo sonst kriegen."
Aber der Reihe nach: Jennifer Egan, geboren 1962, aufgewachsen in San Francisco, heute lebt sie mit einem Mann und zwei Söhnen in Brooklyn, schreibt seit 1993 Romane, Erzählungen und Reportagen und hat für "Der größere Teil der Welt" 2011 den Pulitzer-Preis bekommen (und noch ein paar andere, sehr renommierte mehr). Ein Buch, dessen Geschichte zur Zeit des Punk beginnt und in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts endet und diesen Weg aber nicht linear geht, sondern in Sprüngen, vorwärts, rückwärts, seitwärts: Den Anfang - der aber nicht der Anfang des Buches ist - machen ein paar Teenager, die eine Band gründen, The Flaming Dildos, in Kalifornien, es ist 1979.
Einer von den Flaming Dildos, Benny, macht Karriere in der Musik, ein anderer, Scotty, strauchelt, stürzt und fängt sich wieder. Ein Mädchen, Jocelyn, lernt einen reichen Plattenboss kennen: Lou, der sechs Kinder mit drei Frauen hat, und wie dieser Lou, ein Kind der amerikanischen Sixties, mit seinen Kindern und seinen Frauen mehr verfährt als lebt, das erfährt man auch in einem Kapitel des Romans - und genauso, wie Jules, der Bruder von Bennys späterer Frau Stephanie, bei einem Interview über eine Schauspielerin herfällt und dafür ins Gefängnis geht, und wie diese Schauspielerin, Kitty Jackson, dann mit einem Bananenrepubliksgeneral für ein paar schöne Paparazzi-Bilder verkuppelt wird, damit der General, ein Völkermörder, bessere Presse kriegt. Das wiederum war die Idee einer PR-Agentin namens Dolly, deren Tochter, Lulu, am Ende der Geschichte, also in der Zukunft, die Assistentin von Benny ist.
Und da gibt es auch noch Sasha, die auch mal Bennys Assistentin war, und ihre Tochter Allison, ihren Onkel Ted und ihren Zuhälter Lars, und Bosco, noch ein gestrandeter Musiker, und die Republikanerin Cathy, die mit Bennys Frau Stephanie Tennis spielt und mit Benny schläft - im Grunde besteht "Der größere Teil der Welt" nur aus Nebenfiguren, zusammengehalten von einer Idee - der Zeit und was sie aus uns macht, wenn wir versuchen, einen Ort in ihr zu finden - und einer Form, die sich als extrem dehnbar und belastbar herausstellt.
Also reden wir am Ende doch über die Form dieses neuen Romans, auch wenn Jennifer Egan die Romanformdebatte langweilt und sie das bei bester Laune sagt. Sie hat, siehe oben, eine angenehm pragmatische Art, mit ihrem Beruf umzugehen, ohne jetzt dabei anti-akademisch oder anti-intellektuell zu werden, was ja genauso langweilig wäre. Aber während Jeffrey Eugenides zuletzt in Interviews darüber nachgedacht hat, ob es in seinen Romanen "Signale" gibt, "dass die Geschichte vom Erzähler erfunden wird" (was der große Wolfgang Herrndorf in seinem Blog mit "Signale, daß die Geschichte vom Erzähler erfunden wird - Wahnsinn. Was werden sie als nächstes herausfinden?" sehr lustig abmoderierte), sagt Jennifer Egan: "Ich glaube, man liest doch, um unterhalten zu werden und der Gegenwart zu entfliehen. Deswegen lese ich jedenfalls. Mich interessiert es nicht, auf Kosten einer guten Geschichte vorgeführt zu bekommen, wie schlau jemand ist."
Aber sie experimentiert im neuen Roman selbst doch auch herum, wenn sie mit Powerpoint arbeitet? "Warum ich am Ende in diese ungewöhnlichen Erzählformen hineingestolpert bin", sagt Jennifer Egan, "hat nur damit zu tun, dass man oft interessantere und komplexere Geschichten erzählen kann, wenn man sich außerhalb von dem bewegt, was man konventionell nennt."
Und dann sagt sie etwas, dass einem wieder mal dieses Gefühl gibt, amerikanische Autoren hätten doch irgendwie ein paar mehr Tassen im Schrank als manche ihre Kollegen aus der alten Welt, ein Gefühl, das einem dieses phantastische Buch sowieso schon gibt: "Besseres kann doch gar nicht passieren, als dass der Roman sich gegen so viel Konkurrenz zur Wehr setzen muss wie jetzt. Aber die Leute werden keine Bücher lesen, wenn wir ihnen sagen, dass sie gut für sie sind und sie klüger machen, als wären sie Vitamine. In dem Moment, wo Bücher zu einer lästigen Pflicht werden, sind wir am Ende." Also, was tun wir dagegen? "Let's have some fun!"
Sie lacht. Sie meint das so. Jennifer Egan hat sich hingesetzt und diesen Roman geschrieben, mit der Hand, auf Papier, wie alle ihre Bücher davor. Sie brauche, sagt Jennifer Egan, ein Gefühl von Abenteuer und Ungewissheit beim Schreiben, diesen Überraschungsmoment - angeblich soll Balzac ja auch immer sofort vom Mittagessen aufgesprungen und zu seinem Manuskript auf dem Schreibtisch zurückgerannt sein, weil er wissen wollte, wie es weitergeht. Selbst das Powerpoint-Kapitel mit seinen Kreisen, Pfeilen, Schnittmengen und Diagrammen sei handschriftlich entstanden, Jennifer Egan hatte das Programm nicht mal auf ihrem Computer: Da war nur diese Idee, etwas mit Powerpoint zu schreiben, das in der Wüste spielt.
Allison, die Tochter von Sasha, erzählt in diesem Kapitel die kleine Geschichte ihrer Familie: der Vater ein erschöpfter Arzt, die Mutter eine Frau mit Geheimnissen, die in ihrer Vergangenheit liegen, der Bruder, Lincoln, dokumentiert die Pausen in Popsongs: "Roxanne", von Police, zwei Sekunden zwischen Minute 1:57 und 1:59, anderthalb Sekunden bei "Bernadette" von den Four Tops, zwei bei "Foxy Lady" von Jimi Hendrix. Ein Tic, der seinen Vater wahnsinnig macht, warum nur, fragt er, warum hat Lincoln keine Freunde, sondern sammelt Stille? "Die Pause lässt einen glauben, dass der Song zu Ende ist", antwortet Sasha ihm. "Und dann ist der Song gar nicht richtig zu Ende, deshalb ist man erleichtert. Aber dann endet er doch, denn jedes Lied hat natürlich ein Ende, und DIESMAL - IST - ENDGÜLTIG - ALLES - VORBEI."
In einem Roman, der kein Zentrum hat, um das er kreist, ist dieser Satz, diese eine Seite in Allisons Powerpoint-Präsentation so etwas wie die Schlüsselstelle. Jennifer Egan hat ein Buch geschrieben, das natürlich, und es macht großen Spaß, von Musik handelt. Und vom Augenblick im Leben des 20. Jahrhunderts, als Punk und postmoderne französische Theorie die Ästhetik veränderten. Plötzlich ging es ums Umbauen und Auslachen, um mehr ironische Distanz und weniger Bekenntnis - ein Augenblick, von dem auch Jonathan Franzen in "Freiheit" und Jeffrey Eugenides in der "Liebeshandlung" erzählt haben. Da ist offenbar noch etwas ungeklärt an dieser Phase, das noch geklärt werden muss, überhaupt verbindet man Punk ja eher mit England als mit Kalifornien oder New York, woher er aber ja eigentlich kam.
Doch die Musikwelt ist im Grunde nur der Vordergrund für Jennifer Egan, die selbst, am Ende der Siebziger, ein spätes Hippiemädchen gewesen sei, sagt sie, und zu den Leuten, über die sie jetzt geschrieben hat, gar nicht gehörte. Punk, das habe sie aber trotzdem kapiert, war der Augenblick, an dem es wieder losging, das Gefühl wieder einsetzte, dass doch noch etwas zu bewegen sei, dass Aufbruch und Veränderung nicht mit den Sixties ein für alle Mal vorbei war.
Nach einer Pause geht es weiter, um dann irgendwann, unweigerlich, aufzuhören - diese Pausen zu erforschen hieße dann eigentlich, das Leben zu erforschen: Hoffen, Neuerfinden, Kraftschöpfen, Durchkommen, Innehalten, Aussetzen, Aufgeben. Weitermachen, aber wie, während die Uhr läuft. Nicht alle von Jennifer Egans Figuren schaffen es, den Punkt zu überwinden. Eine nimmt sich das Leben, eine andere stirbt öffentlich, eine dritte zieht sich zurück. Oder kehrt noch einmal wieder.
Dieser Augenblick aber, an dem sich das entscheidet, der Richtungswechsel, die Grenze, diese Pause in der Bewegung scheint wichtiger als die Bewegung selbst. Dass Jennifer Egan im blöden Powerpoint-Programm eine grafische Metapher für ihren eigenen Roman und das Leben gefunden hat, ist einigermaßen genial. Dass er, trotz dieser Smartheit, am Ende ein zutiefst menschliches Dilemma behandelt, könnte man dabei fast übersehen. Es macht diesen Roman aber so bewegend.
TOBIAS RÜTHER
Jennifer Egan: "Der größere Teil der Welt". Übersetzt von Heide Zeltmann. Schöffling & Co., 392 Seiten, 22,95 Euro
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unglaublich abwechslungsreich, spannend, lustig, deprimierend und sprachlich fesselnd. Daniel Schieferdecker Esquire Magazin 20220927