ALS DIE WELT GRÖßER WURDE - WOLFGANG BEHRINGERS FULMINANTE GLOBALGESCHICHTE DER FRÜHEN NEUZEIT
Mit der europäischen Entdeckung Amerikas und der Etablierung des Schiffsverkehrs zwischen den Kontinenten begann eine neue Epoche der globalen Geschichte. Die Kontakte und der Austausch zwischen den Zivilisationen dieser Welt wurden immer vielfältiger - damit freilich auch die Konflikte. in seinem fulminanten, bravourös geschriebenen Buch entfaltet Wolfgang Behringer ein weltumspannendes Panorama der Frühen Neuzeit, das die Entwicklungen aus der Perspektive aller beteiligten Kulturen schildert und dadurch ein ganz neues Bild dieser Zeit präsentiert.
Im Mittelpunkt dieser neuartigen Geschichte der Frühen Neuzeit stehen globale Ereignisse, die den Gang der Weltgeschichte veränderten, globale Orte, die Knotenpunkte des Austauschs bildeten, globale Themen und Strukturen wie Kolonialismus und Rassismus. Wolfgang Behringer nimmt die Leserinnen und Leser mit auf die Reise nach Afrika und Amerika ebenso wie nach Indien und Indonesien, nach Russland, China und Japan und durch das damalige Europa, das seinen zivilisatorischen Rückstand gerade erst aufholte. Sein Buch beschreibt die großen Zusammenhänge und erzählt gleichermaßen von einzelnen Menschen, die diese Zeit erlebten und gestalteten. Es schildert die Weltgeschichte einer großen Epoche für unsere Zeit und ist zugleich ein wahres Lesevergnügen.
Das Opus Magnum von Wolfgang Behringer Eine Globalgeschichte auf der Höhe unserer Zeit Grandios erzählt Wolfgang Behringer ist einer der besten Historiker der frühen Neuzeit
Mit der europäischen Entdeckung Amerikas und der Etablierung des Schiffsverkehrs zwischen den Kontinenten begann eine neue Epoche der globalen Geschichte. Die Kontakte und der Austausch zwischen den Zivilisationen dieser Welt wurden immer vielfältiger - damit freilich auch die Konflikte. in seinem fulminanten, bravourös geschriebenen Buch entfaltet Wolfgang Behringer ein weltumspannendes Panorama der Frühen Neuzeit, das die Entwicklungen aus der Perspektive aller beteiligten Kulturen schildert und dadurch ein ganz neues Bild dieser Zeit präsentiert.
Im Mittelpunkt dieser neuartigen Geschichte der Frühen Neuzeit stehen globale Ereignisse, die den Gang der Weltgeschichte veränderten, globale Orte, die Knotenpunkte des Austauschs bildeten, globale Themen und Strukturen wie Kolonialismus und Rassismus. Wolfgang Behringer nimmt die Leserinnen und Leser mit auf die Reise nach Afrika und Amerika ebenso wie nach Indien und Indonesien, nach Russland, China und Japan und durch das damalige Europa, das seinen zivilisatorischen Rückstand gerade erst aufholte. Sein Buch beschreibt die großen Zusammenhänge und erzählt gleichermaßen von einzelnen Menschen, die diese Zeit erlebten und gestalteten. Es schildert die Weltgeschichte einer großen Epoche für unsere Zeit und ist zugleich ein wahres Lesevergnügen.
Das Opus Magnum von Wolfgang Behringer Eine Globalgeschichte auf der Höhe unserer Zeit Grandios erzählt Wolfgang Behringer ist einer der besten Historiker der frühen Neuzeit
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Historiker Peter Burschel ist entzückt von Wolfgang Behringers mikrohistorischer Globalgeschichte der Frühen Neuzeit. Mit eindrücklichen Persönlichkeiten und Go-Betweens wie Gaspar da Gama kann ihm Behringer Vernetzungen sichtbar machen und vor Augen führen, dass Europa damals nur ein Player unter vielen war. Von Figuren wie da Gama leitet der Autor hin zu Klimageschichtlichem oder Phänomenen wie Kolonialismus, Rassismus, die er dann weiter problematisiert, wie Burschel erläutert. Behringers kaleidoskopische "Bricolage" hat für Burschel allerdings den Nachteil, ohne "theoriegeleitete Systematisierung" auskommen zu müssen, wenngleich der Autor sie weitgehend chronologisch aufzieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2023Einmal um die ganze Welt
Wolfgang Behringer hat den Prototyp einer konsequent nicht-eurozentrischen
und doch europafreundlichen Globalgeschichte geschrieben.
Aus der Fülle biografischer Miniaturen in diesem voluminösen Buch sticht die rätselhafte Figur eines Mannes heraus, dem der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama auf einer kleinen Insel vor Goa an der westindischen Küste begegnet, die er gerade zum Eigentum Portugals erklärt hat. Der in kostbares weißes Leinen gekleidete Fremde gibt sich auf Venezianisch als in der Levante geborener Christ aus, der seinen Glauben bewahrt habe, obwohl er als Diener eines muslimischen Fürsten zum Islam konvertiert sei.
Unter der Folter gibt er zu, ein Spion zu sein und bezeichnet sich nun als ins Osmanische Reich ausgewanderten Juden polnischer Herkunft. Er lässt sich taufen, reist unter dem Namen Gaspar da Gama mit seinem Paten Vasco da Gama nach Lissabon, wird von König Manuel zum Dolmetscher der zweiten Indienflotte ernannt und ist im Jahr 1500 mit Pedro Alvares Cabral in Brasilien. Weder zeitgenössische Chronisten noch heutige Historiker konnten klären, ob er aus Asien, Afrika oder Europa stammte. Sein Geburts- und Todesdatum sind unbekannt.
„Welt im Aufbruch“ heißt Wolfgang Behringers Globalgeschichte der Frühen Neuzeit. Sie beginnt mit der Entstehung von Schiffsverbindungen zwischen den Kontinenten um 1500 und endet im frühen 19. Jahrhundert. Den Aufbruch des Kolumbus in die „Neue Welt“, die er für einen Teil der alten hielt, begreift sie als „den entscheidenden Schritt zur Globalisierung“. Nun ist aber ein Schlüsselmotiv der Globalgeschichtsschreibung die Lösung von eurozentrischen Darstellungsmustern.
Der vielsprachige und auf mehreren Kontinenten agierende Gaspar da Gama verkörpert den multizentrischen Ansatz des Buches. Es will nicht lediglich die Welt „als ganze“ ins Auge zu fassen, sondern die Interaktionen, Interdependenzen und Konfliktbeziehungen zwischen den einzelnen Kontinenten und Zivilisationen hervorheben.
Vor 20 Jahren hat Behringer in seiner Habilitationsschrift „Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit“ die Vorstellung einer statischen Vormoderne und stabilen Ständegesellschaft zurückgewiesen. Mit Blick auf das kontinentale Postwesen nahm er bereits für die Frühe Neuzeit in Europa die Beschleunigungsdiagnose in Anspruch, die meist mit der Koselleckschen „Sattelzeit“ um 1750 verbunden wurde.
Daran knüpft das neue Buch an, ebenso an seine „Kulturgeschichte des Klimas“ aus dem Jahr 2007. Durchgängig fügt Behringer die als „Kleine Eiszeit“ bezeichnete globale Abkühlung, die im 14. Jahrhundert einsetzte, in seine Darstellung ein. Das Kapitel über das 17. Jahrhundert beginnt mit einer Kaskade weltweiter Vulkanausbrüche um 1600, vor allem der großen Eruption des Huaynaputina im heutigen Peru am 19. Februar 1600, als deren Effekte Behringer Missernten und Hungerkrisen bis hin nach Skandinavien, ins Baltikum und nach Russland namhaft macht. So groß ist seine Skepsis gegenüber soziologischen Evolutions-, Macht- und Modernisierungstheorien, dass er gelegentlich den Eindruck erweckt, die Krisen, Revolutionen und Rebellionen der politischen und der Sozialgeschichte seien lediglich Epiphänomene der großen Naturkatastrophen.
Der Eindruck kann im Blick auf das 17. Jahrhundert in Europa auch deshalb entstehen, weil Behringer auf die Erörterung der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges ausdrücklich verzichtet. Er gewinnt dadurch Raum für die Globalgeschichte der Seuchen und Krankheiten, für die Migration von Tieren, Nutzpflanzen und Nahrungsmitteln, für das Inkareich Tahuantinsuyu, für Schah Jahan, den Erbauer des Tadsch Mahal und Herrscher im indischen Mogulreich des 17. Jahrhunderts und vieles mehr.
Gegen die „menschenleere“ Strukturgeschichte setzt Behringer, gestützt auf ein gigantisches Lesepensum, die Koppelung von globalgeschichtlicher Perspektive und mikrohistorischen Darstellungsformen. Ein allwissender Erzähler fügt eine unüberschaubare Menge von Protagonisten und Hunderte Unterkapitel zu einem großflächigen Patchworkmuster zusammen.
Eben noch hat er in London die Gründung der East India Company geschildert und sich gefragt, warum eigentlich das China der Ming-Dynastie, das er ausführlich schildert, nie eine Westeuropacompagnie gegründet hat, schon stellt er in Timbuktu den Richter und islamischen Gelehrten Ahmad Baba vor, den die Marokkaner für eine Rebellion gegen ihre Fremdherrschaft im subsaharischen Königreich Songhai verantwortlich machen.
Das Verfahren funktioniert immer dann besonders gut, wenn die Mikrohistorie tatsächlich eine ist. Das gilt etwa für die „globalen Lebensläufe“, Biographien in Europa meist wenig bekannter Figuren, die zur Vernetzung der Kontinente beitrugen. Gaspar da Gama und weitere Dolmetscher gehören dazu, die junge afrikanische Aristokratin Doña Beatriz Kimpa Vita, die als Prophetin einer christlich inspirierten religiösen Bewegung in den kongolesischen Bürgerkrieg um 1700 eingreift, die sephardische Jüdin Beatriz de Luna, die in Amsterdam, später Venedig ein weitgespanntes Handelsimperium führt.
Überhaupt ist Behringers Blick auf die „Diaspora“ ethnischer und religiöser Minderheiten ertragreich, die etwa im Edelsteinhandel die Globalisierung des Handels befördern. An Themen wie diesen bewährt sich seine Kunst des analytischen Erzählens. Doch bändigt er die Stoffmassen seines über 1300 Seiten starken Buches allzu oft durch eine Darstellungsform, die man früher „Abriss“ genannt hätte. In dichten Datenmengen auf engem Raum rekapituliert er quer durch die Kontinente dynastische Abfolgen, die gewaltsame Inthronisierung oder Beseitigung von Herrscherfiguren, kleinere und größere Militäroperationen, territoriale Expansionen.
Anders als Jürgen Osterhammel in seiner Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts „Die Verwandlung der Welt“ (2009) scheut Behringer die Gliederung nach Leitbegriffen wie „Lebensstandards“, „Sesshafte und Mobile“, „Hierarchien“, „Netze“. Eher en passant sind in sein Patchwork aus Mikrogeschichte und Abriss Thesen über langfristige Strukturen eingelassen. Das gilt auch für die paradoxe Pointe des Buches. Was seine Schauplätze betrifft, nimmt es resolut Abschied von allen eurozentrischen Darstellungskonventionen. Zugleich lässt es Europa aus der Frühen Neuzeit „dynamischer, expansiver und kreativer“ hervorgehen als alle anderen in Augenschein genommenen Zivilisationen. Deren Geringschätzung impliziert das nicht. Europa, so die Grundthese, gleicht in der Frühen Neuzeit seine Unterlegenheit zumal gegenüber den asiatischen Zivilisationen aus.
In den spanischen Kolonien der „neuen Welt“ setzt es die indigene Bevölkerung massiver Repression aus, bringt aber zugleich durch die geistlichen Kritiker der Konquistadoren, vor allem durch den „Kurzgefassten Bericht über die Zerstörung Indiens“ des Bartolomé de Las Casas „das beeindruckendste Manifest für die Menschenrechte, das bis dahin geschrieben worden war“ hervor. Einer der Fazit-Sätze, die Behringer einstreut, lautet: „Rechtsstaatlichkeit und die heilsame Begrenzung politischer Macht durch Parlamente schufen in Europa einzigartige Bedingungen für das Aufblühen der Wirtschaft.“
Behringer zufolge wurzelt der industrielle Take-off Europas im 19. Jahrhundert auch deshalb in der Frühen Neuzeit, weil hier die Menschen dieser Epoche die Effekte der „Kleinen Eiszeit“ durch die Kommunikations-, Landwirtschafts- und Wissensrevolution ausbalanciert haben. Das aktuelle „Global Warming“ hält er für eine weniger dramatische Herausforderung: „In unserer heutigen Gesellschaft sind viele Menschen besorgt wegen des Klimawandels. Dabei befinden wir uns in einer relativ komfortablen Situation, denn das Klima wird wärmer, nicht kälter und die Versorgung mit Nahrung ist global gesehen nicht gefährdet.“ Das Vertrauen in die Stabilität von Komfortzonen ist ansonsten in diesem Buch eher gering.
Anschaulich schildert Behringer die Haitianische Revolution im späten 18. Jahrhundert, doch seine generelle These besagt, „prinzipiellen Widerstand gegen Sklaverei“ habe es „nur von europäischer Seite“ gegeben. In der postkolonialen Globalgeschichtsschreibung wittert er einen ins Negative verkehrten Eurozentrismus. Den Brutalitäten des von Europäern organisierten transatlantischen Sklavenhandels schaltet er die innerafrikanischen Traditionen der Sklavenjagd voraus und bestreitet ausdrücklich die These, der Aderlass an Menschen habe Afrika nachhaltig beschädigt: „Die demographischen und kulturellen Effekte dürften sich in Grenzen gehalten haben, weil Afrikaner selbst die Kontrolle über den Sklavenhandel ausübten.“
In den Passagen zum Sklavenhandel rivalisiert seine Darstellung mit dem aktuellen Buch des amerikanischen Historikers und Journalisten Howard W. French, „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ (2023). French vertritt die These, die seit dem 17. Jahrhundert in die eigene Entwicklung investierten Erträge der durch Sklavenarbeit bewirtschafteten Zuckerrohrplantagen hätten nachhaltig zur Dominanz Europas und Nordamerikas gegenüber den anderen Weltregionen beigetragen. Kurz gesagt: Wolfgang Behringers löst seinen Anspruch einer multizentrischen Darstellung der Frühen Neuzeit in überbordender Fülle ein. „Der große Aufbruch“ ist der Prototyp einer konsequent nicht-eurozentrischen, aber zugleich deutlich europafreundlichen Globalgeschichtsschreibung.
LOTHAR MÜLLER
Umstrittene
Einschätzungen
zum Sklavenhandel
Wolfgang Behringer, geboren 1956 in München, lehrte an der University of York und war 2003 bis zu seiner Emeritierung 2023 Professor für Frühe Neuzeit an der Universität des Saarlandes. Foto: Christoph Mukherjee / C.H. Beck Verlag
Vielsprachig und auf vielen Kontinenten zu Hause: Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (zeitgenössische Darstellung) umsegelte das Kap der Guten Hoffnung und fand so im Mai 1498 den Seeweg nach Indien.
Foto: DPA
Wolfgang Behringer:
Der große Aufbruch - Globalgeschichte der
frühen Neuzeit.
C.H. Beck, München 2023. 1319 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wolfgang Behringer hat den Prototyp einer konsequent nicht-eurozentrischen
und doch europafreundlichen Globalgeschichte geschrieben.
Aus der Fülle biografischer Miniaturen in diesem voluminösen Buch sticht die rätselhafte Figur eines Mannes heraus, dem der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama auf einer kleinen Insel vor Goa an der westindischen Küste begegnet, die er gerade zum Eigentum Portugals erklärt hat. Der in kostbares weißes Leinen gekleidete Fremde gibt sich auf Venezianisch als in der Levante geborener Christ aus, der seinen Glauben bewahrt habe, obwohl er als Diener eines muslimischen Fürsten zum Islam konvertiert sei.
Unter der Folter gibt er zu, ein Spion zu sein und bezeichnet sich nun als ins Osmanische Reich ausgewanderten Juden polnischer Herkunft. Er lässt sich taufen, reist unter dem Namen Gaspar da Gama mit seinem Paten Vasco da Gama nach Lissabon, wird von König Manuel zum Dolmetscher der zweiten Indienflotte ernannt und ist im Jahr 1500 mit Pedro Alvares Cabral in Brasilien. Weder zeitgenössische Chronisten noch heutige Historiker konnten klären, ob er aus Asien, Afrika oder Europa stammte. Sein Geburts- und Todesdatum sind unbekannt.
„Welt im Aufbruch“ heißt Wolfgang Behringers Globalgeschichte der Frühen Neuzeit. Sie beginnt mit der Entstehung von Schiffsverbindungen zwischen den Kontinenten um 1500 und endet im frühen 19. Jahrhundert. Den Aufbruch des Kolumbus in die „Neue Welt“, die er für einen Teil der alten hielt, begreift sie als „den entscheidenden Schritt zur Globalisierung“. Nun ist aber ein Schlüsselmotiv der Globalgeschichtsschreibung die Lösung von eurozentrischen Darstellungsmustern.
Der vielsprachige und auf mehreren Kontinenten agierende Gaspar da Gama verkörpert den multizentrischen Ansatz des Buches. Es will nicht lediglich die Welt „als ganze“ ins Auge zu fassen, sondern die Interaktionen, Interdependenzen und Konfliktbeziehungen zwischen den einzelnen Kontinenten und Zivilisationen hervorheben.
Vor 20 Jahren hat Behringer in seiner Habilitationsschrift „Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit“ die Vorstellung einer statischen Vormoderne und stabilen Ständegesellschaft zurückgewiesen. Mit Blick auf das kontinentale Postwesen nahm er bereits für die Frühe Neuzeit in Europa die Beschleunigungsdiagnose in Anspruch, die meist mit der Koselleckschen „Sattelzeit“ um 1750 verbunden wurde.
Daran knüpft das neue Buch an, ebenso an seine „Kulturgeschichte des Klimas“ aus dem Jahr 2007. Durchgängig fügt Behringer die als „Kleine Eiszeit“ bezeichnete globale Abkühlung, die im 14. Jahrhundert einsetzte, in seine Darstellung ein. Das Kapitel über das 17. Jahrhundert beginnt mit einer Kaskade weltweiter Vulkanausbrüche um 1600, vor allem der großen Eruption des Huaynaputina im heutigen Peru am 19. Februar 1600, als deren Effekte Behringer Missernten und Hungerkrisen bis hin nach Skandinavien, ins Baltikum und nach Russland namhaft macht. So groß ist seine Skepsis gegenüber soziologischen Evolutions-, Macht- und Modernisierungstheorien, dass er gelegentlich den Eindruck erweckt, die Krisen, Revolutionen und Rebellionen der politischen und der Sozialgeschichte seien lediglich Epiphänomene der großen Naturkatastrophen.
Der Eindruck kann im Blick auf das 17. Jahrhundert in Europa auch deshalb entstehen, weil Behringer auf die Erörterung der Reformation und des Dreißigjährigen Krieges ausdrücklich verzichtet. Er gewinnt dadurch Raum für die Globalgeschichte der Seuchen und Krankheiten, für die Migration von Tieren, Nutzpflanzen und Nahrungsmitteln, für das Inkareich Tahuantinsuyu, für Schah Jahan, den Erbauer des Tadsch Mahal und Herrscher im indischen Mogulreich des 17. Jahrhunderts und vieles mehr.
Gegen die „menschenleere“ Strukturgeschichte setzt Behringer, gestützt auf ein gigantisches Lesepensum, die Koppelung von globalgeschichtlicher Perspektive und mikrohistorischen Darstellungsformen. Ein allwissender Erzähler fügt eine unüberschaubare Menge von Protagonisten und Hunderte Unterkapitel zu einem großflächigen Patchworkmuster zusammen.
Eben noch hat er in London die Gründung der East India Company geschildert und sich gefragt, warum eigentlich das China der Ming-Dynastie, das er ausführlich schildert, nie eine Westeuropacompagnie gegründet hat, schon stellt er in Timbuktu den Richter und islamischen Gelehrten Ahmad Baba vor, den die Marokkaner für eine Rebellion gegen ihre Fremdherrschaft im subsaharischen Königreich Songhai verantwortlich machen.
Das Verfahren funktioniert immer dann besonders gut, wenn die Mikrohistorie tatsächlich eine ist. Das gilt etwa für die „globalen Lebensläufe“, Biographien in Europa meist wenig bekannter Figuren, die zur Vernetzung der Kontinente beitrugen. Gaspar da Gama und weitere Dolmetscher gehören dazu, die junge afrikanische Aristokratin Doña Beatriz Kimpa Vita, die als Prophetin einer christlich inspirierten religiösen Bewegung in den kongolesischen Bürgerkrieg um 1700 eingreift, die sephardische Jüdin Beatriz de Luna, die in Amsterdam, später Venedig ein weitgespanntes Handelsimperium führt.
Überhaupt ist Behringers Blick auf die „Diaspora“ ethnischer und religiöser Minderheiten ertragreich, die etwa im Edelsteinhandel die Globalisierung des Handels befördern. An Themen wie diesen bewährt sich seine Kunst des analytischen Erzählens. Doch bändigt er die Stoffmassen seines über 1300 Seiten starken Buches allzu oft durch eine Darstellungsform, die man früher „Abriss“ genannt hätte. In dichten Datenmengen auf engem Raum rekapituliert er quer durch die Kontinente dynastische Abfolgen, die gewaltsame Inthronisierung oder Beseitigung von Herrscherfiguren, kleinere und größere Militäroperationen, territoriale Expansionen.
Anders als Jürgen Osterhammel in seiner Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts „Die Verwandlung der Welt“ (2009) scheut Behringer die Gliederung nach Leitbegriffen wie „Lebensstandards“, „Sesshafte und Mobile“, „Hierarchien“, „Netze“. Eher en passant sind in sein Patchwork aus Mikrogeschichte und Abriss Thesen über langfristige Strukturen eingelassen. Das gilt auch für die paradoxe Pointe des Buches. Was seine Schauplätze betrifft, nimmt es resolut Abschied von allen eurozentrischen Darstellungskonventionen. Zugleich lässt es Europa aus der Frühen Neuzeit „dynamischer, expansiver und kreativer“ hervorgehen als alle anderen in Augenschein genommenen Zivilisationen. Deren Geringschätzung impliziert das nicht. Europa, so die Grundthese, gleicht in der Frühen Neuzeit seine Unterlegenheit zumal gegenüber den asiatischen Zivilisationen aus.
In den spanischen Kolonien der „neuen Welt“ setzt es die indigene Bevölkerung massiver Repression aus, bringt aber zugleich durch die geistlichen Kritiker der Konquistadoren, vor allem durch den „Kurzgefassten Bericht über die Zerstörung Indiens“ des Bartolomé de Las Casas „das beeindruckendste Manifest für die Menschenrechte, das bis dahin geschrieben worden war“ hervor. Einer der Fazit-Sätze, die Behringer einstreut, lautet: „Rechtsstaatlichkeit und die heilsame Begrenzung politischer Macht durch Parlamente schufen in Europa einzigartige Bedingungen für das Aufblühen der Wirtschaft.“
Behringer zufolge wurzelt der industrielle Take-off Europas im 19. Jahrhundert auch deshalb in der Frühen Neuzeit, weil hier die Menschen dieser Epoche die Effekte der „Kleinen Eiszeit“ durch die Kommunikations-, Landwirtschafts- und Wissensrevolution ausbalanciert haben. Das aktuelle „Global Warming“ hält er für eine weniger dramatische Herausforderung: „In unserer heutigen Gesellschaft sind viele Menschen besorgt wegen des Klimawandels. Dabei befinden wir uns in einer relativ komfortablen Situation, denn das Klima wird wärmer, nicht kälter und die Versorgung mit Nahrung ist global gesehen nicht gefährdet.“ Das Vertrauen in die Stabilität von Komfortzonen ist ansonsten in diesem Buch eher gering.
Anschaulich schildert Behringer die Haitianische Revolution im späten 18. Jahrhundert, doch seine generelle These besagt, „prinzipiellen Widerstand gegen Sklaverei“ habe es „nur von europäischer Seite“ gegeben. In der postkolonialen Globalgeschichtsschreibung wittert er einen ins Negative verkehrten Eurozentrismus. Den Brutalitäten des von Europäern organisierten transatlantischen Sklavenhandels schaltet er die innerafrikanischen Traditionen der Sklavenjagd voraus und bestreitet ausdrücklich die These, der Aderlass an Menschen habe Afrika nachhaltig beschädigt: „Die demographischen und kulturellen Effekte dürften sich in Grenzen gehalten haben, weil Afrikaner selbst die Kontrolle über den Sklavenhandel ausübten.“
In den Passagen zum Sklavenhandel rivalisiert seine Darstellung mit dem aktuellen Buch des amerikanischen Historikers und Journalisten Howard W. French, „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ (2023). French vertritt die These, die seit dem 17. Jahrhundert in die eigene Entwicklung investierten Erträge der durch Sklavenarbeit bewirtschafteten Zuckerrohrplantagen hätten nachhaltig zur Dominanz Europas und Nordamerikas gegenüber den anderen Weltregionen beigetragen. Kurz gesagt: Wolfgang Behringers löst seinen Anspruch einer multizentrischen Darstellung der Frühen Neuzeit in überbordender Fülle ein. „Der große Aufbruch“ ist der Prototyp einer konsequent nicht-eurozentrischen, aber zugleich deutlich europafreundlichen Globalgeschichtsschreibung.
LOTHAR MÜLLER
Umstrittene
Einschätzungen
zum Sklavenhandel
Wolfgang Behringer, geboren 1956 in München, lehrte an der University of York und war 2003 bis zu seiner Emeritierung 2023 Professor für Frühe Neuzeit an der Universität des Saarlandes. Foto: Christoph Mukherjee / C.H. Beck Verlag
Vielsprachig und auf vielen Kontinenten zu Hause: Der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama (zeitgenössische Darstellung) umsegelte das Kap der Guten Hoffnung und fand so im Mai 1498 den Seeweg nach Indien.
Foto: DPA
Wolfgang Behringer:
Der große Aufbruch - Globalgeschichte der
frühen Neuzeit.
C.H. Beck, München 2023. 1319 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2024Gute Zeiten für Kosmopoliten
Mikrohistorie in großem Format: Wolfgang Behringer schreibt eine Geschichte frühneuzeitlicher globaler Vernetzungen, in der die europäische Expansion nur noch eine unter anderen ist.
Im September 1498 nahm der Seefahrer (und Eroberer) Vasco da Gama die kleine Insel Angediva, die heute zum indischen Bundesstaat Goa gehört, für Portugal in Besitz. Bald nachdem er die Insel betreten hatte, kam ein Mann mittleren Alters auf ihn zu, der in kostbares weißes Leinen gekleidet war. Folgt man einem Augenzeugenbericht, so habe der Mann da Gama umarmt, auf Venezianisch begrüßt und nachdrücklich beteuert, ein Christ aus der Levante zu sein, der seit jungen Jahren in Indien lebe und einem mächtigen muslimischen Herrn diene. Er sei zwar Muslim geworden, im Herzen aber Christ geblieben. Als er gehört habe, dass Fremde angekommen seien, die niemand verstehen könne, Fremde, die noch dazu von Kopf bis Fuß bekleidet seien, habe er sofort an Europäer gedacht. Der Augenzeuge berichtet weiter, dass die Portugiesen dem Mann misstraut und bei den Christen in Calicut Erkundigungen über ihn eingeholt hätten, um schließlich zu erfahren, dass er ein Freibeuter sei, der die Portugiesen aushorchen wolle. Da Gama habe ihn daraufhin an Bord seines Flaggschiffs bringen und foltern lassen, aber erst auf hoher See von ihm erfahren, dass er in der Tat im Auftrag seines Herrn gekommen war, um einen baldigen Angriff vorzubereiten.
Wenn sich die Spur des Mannes nicht verlor, dann vor allem aus einem Grund: Er war auf stupende Weise sprachbegabt und beherrschte neben Arabisch, Chaldäisch, Hebräisch, Lateinisch auch mehrere indische Sprachen. In Lissabon angekommen, ließ Vasco da Gama den hochbegabten Freibeuter auf den Namen Gaspar da Gama taufen: Gaspar nach dem ersten der sogenannten "Heiligen Drei Könige", der oft dunkelhäutig dargestellt wurde, und da Gama nach ihm selbst, dem Taufpaten. Kaum getauft, ernannte ihn König Manuel von Portugal zum Dolmetscher seiner Indienflotte. Immer in weißes Leinen gekleidet und mit einer Kappe auf dem Kopf, begleitete Gaspar da Gama in den folgenden Jahren alle portugiesischen Seefahrer von Rang auf ihren Fahrten, nicht zuletzt Pedro Álvares Cabral nach Brasilien. 1508 war er bei der Eroberung von Hormus dabei und 1510 bei der von Calicut, immer übersetzend, beratend, ja, verhandelnd.
Obwohl wir vergleichsweise viel über Gaspar da Gama wissen, wissen wir im Grunde nicht, wer er war. Wir kennen weder seinen Geburtsort noch sein Geburts- oder Todesjahr; wir wissen nicht, wie er ursprünglich hieß. Inzwischen gehen die meisten Interpreten davon aus, dass er ein Jude polnischer Herkunft war.
Wolfgang Behringer skizziert den Lebenslauf des polyglotten Gaspar da Gama in der einleitenden "Apologie" seiner Globalgeschichte der Frühen Neuzeit - und lässt damit zugleich das Programm dieser Geschichte erkennbar werden. Denn nicht nur, dass er mit dem Lebenslauf auf Prozesse kulturellen Transfers, kulturellen Konflikts und kultureller Hybridisierung aufmerksam macht, in deren Verlauf Go-Betweens wie Gaspar als kulturelle Übersetzer immer unentbehrlicher wurden. Indem der Kultur- und Umwelthistoriker Behringer seine monumentale Globalgeschichte mit dem Lebenslauf eines Kosmopoliten avant la lettre beginnen lässt, führt er zugleich vor Augen, dass er Globalgeschichte als Mikrogeschichte in globaler Absicht versteht, die auf die Multiperspektivität von Akteurinnen und Akteuren setzt. Das aber heißt auch: Die vorliegende Globalgeschichte ist eine "shared history", eine Geschichte globaler Verbindungen und Vernetzungen, in der die sogenannte europäische Expansion nur noch eine Expansion unter anderen ist.
Mehr noch: Lebensläufe wie die von Gaspar da Gama und anderen Go-Betweens erlauben es Behringer, auch globale Ereignisse und globale Orte mikrohistorisch zu identifizieren, was ihn wiederum zu "übergreifenden" Phänomenen führt, die wie Kolonialismus, Migration oder auch Sklaverei, wie Ethnozentrismus und Rassismus durchgängig, aber gewissermaßen "vor Ort" kontextualisiert und problematisiert werden. Keine Frage, die "halb zufällige" Bricolage, die auf diese Weise entstanden ist, hat ihren Preis. So sucht man theoriegeleitete Systematisierungen weitgehend vergebens. Andererseits aber ermöglicht es diese Bricolage, immer wieder aufs Neue - fast möchte man sagen produktiv kaleidoskopisch - ungewohnte und oft genug verstellte Bezüge sichtbar zu machen.
Behringer geht von einer globalen "Frühen Neuzeit" aus, in deren Verlauf alle "Zivilisationen" - die er in erster Linie kulturell (und damit auch erinnerungsräumlich) verstanden wissen will - über kontinentale Grenzen hinweg miteinander in Verbindung traten, und das oft genug mit Folgen, deren Reichweite erst auf den zweiten und dritten Blick erkennbar werden. So revolutionierte zum Beispiel das Silber aus der "Neuen Welt", das über Spanien beziehungsweise Europa in die "Alte Welt" gelangte, den innerasiatischen Handel, indem es in Gestalt der Silberrupie die chinesische Papierwährung verdrängte. Obwohl Behringer Europa eine "zeitweilige Sonderstellung" in diesen globalen Vernetzungsprozessen zugesteht, die Sonderstellung des zivilisatorischen Spätzünders, betont er doch zugleich, dass eine Globalgeschichte der Frühen Neuzeit im Grunde ohne Epizentrum auskommen kann, wenn nicht auskommen muss. Ja, es spricht nach Behringer sogar einiges dafür, dass Europa erst in der globalen Dynamik seiner Expansion kulturell mit Afrika und Asien gleichziehen konnte.
Nachdem Behringer die Ausgangsbedingungen der "alten Zivilisationen" vor dem "großen Aufbruch" skizziert und dabei auch globale klimageschichtliche Entwicklungen wie die sogenannte "Kleine Eiszeit" in den Blick genommen hat, setzt er seine Mikrogeschichte in globaler Absicht moderat chronologisch (und durchaus klassisch) in drei Hauptkapiteln um. Das sechzehnte Jahrhundert wird dabei zum Jahrhundert "im Aufbruch", das siebzehnte zum Jahrhundert "im Krisenmodus" und das achtzehnte zum Jahrhundert "des Fortschritts". Zwei weitere Kapitel führen über die globale Frühe Neuzeit hinaus: Das Kapitel "Tanz auf dem Vulkan" macht auf die Verwerfungen global verdichteter (und oft genug asymmetrischer) Interaktionen aufmerksam, die den "Übergang zur Moderne" begleiteten, während der "Epilog" vor allem dazu dient, die Aufmerksamkeit für die "Tiefenströmungen der Geschichte" zu schärfen, die der "große Aufbruch" freigelegt, verstärkt, verändert, ja, hervorgebracht hat.
Es ist bezeichnend, dass Behringer in seinem Epilog nicht zuletzt auch Formen globaler Gewalt oder die verschiedenen Expansionen des Ethnozentrismus thematisiert. Wenn er gleichzeitig die "Hybridisierung" und damit auch die "Kreolisierung" von Zugehörigkeiten und Lebensstilen als Signatur globaler oder doch globalisierter Kultur stark macht, dann in erster Linie deshalb, um uns frühneuzeitliche Globalgeschichte in ihren Tiefenströmungen als "Quelle der Selbsterkenntnis" nahezubringen. Damit aber wären wir im Grunde wieder bei Gaspar da Gama - und einer Geschichtsschreibung, die im Kleinen zur Größe findet. PETER BURSCHEL
Wolfgang Behringer: "Der große Aufbruch". Globalgeschichte der
frühen Neuzeit.
C. H. Beck Verlag, München 2023.
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.
1319 S., Abb., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mikrohistorie in großem Format: Wolfgang Behringer schreibt eine Geschichte frühneuzeitlicher globaler Vernetzungen, in der die europäische Expansion nur noch eine unter anderen ist.
Im September 1498 nahm der Seefahrer (und Eroberer) Vasco da Gama die kleine Insel Angediva, die heute zum indischen Bundesstaat Goa gehört, für Portugal in Besitz. Bald nachdem er die Insel betreten hatte, kam ein Mann mittleren Alters auf ihn zu, der in kostbares weißes Leinen gekleidet war. Folgt man einem Augenzeugenbericht, so habe der Mann da Gama umarmt, auf Venezianisch begrüßt und nachdrücklich beteuert, ein Christ aus der Levante zu sein, der seit jungen Jahren in Indien lebe und einem mächtigen muslimischen Herrn diene. Er sei zwar Muslim geworden, im Herzen aber Christ geblieben. Als er gehört habe, dass Fremde angekommen seien, die niemand verstehen könne, Fremde, die noch dazu von Kopf bis Fuß bekleidet seien, habe er sofort an Europäer gedacht. Der Augenzeuge berichtet weiter, dass die Portugiesen dem Mann misstraut und bei den Christen in Calicut Erkundigungen über ihn eingeholt hätten, um schließlich zu erfahren, dass er ein Freibeuter sei, der die Portugiesen aushorchen wolle. Da Gama habe ihn daraufhin an Bord seines Flaggschiffs bringen und foltern lassen, aber erst auf hoher See von ihm erfahren, dass er in der Tat im Auftrag seines Herrn gekommen war, um einen baldigen Angriff vorzubereiten.
Wenn sich die Spur des Mannes nicht verlor, dann vor allem aus einem Grund: Er war auf stupende Weise sprachbegabt und beherrschte neben Arabisch, Chaldäisch, Hebräisch, Lateinisch auch mehrere indische Sprachen. In Lissabon angekommen, ließ Vasco da Gama den hochbegabten Freibeuter auf den Namen Gaspar da Gama taufen: Gaspar nach dem ersten der sogenannten "Heiligen Drei Könige", der oft dunkelhäutig dargestellt wurde, und da Gama nach ihm selbst, dem Taufpaten. Kaum getauft, ernannte ihn König Manuel von Portugal zum Dolmetscher seiner Indienflotte. Immer in weißes Leinen gekleidet und mit einer Kappe auf dem Kopf, begleitete Gaspar da Gama in den folgenden Jahren alle portugiesischen Seefahrer von Rang auf ihren Fahrten, nicht zuletzt Pedro Álvares Cabral nach Brasilien. 1508 war er bei der Eroberung von Hormus dabei und 1510 bei der von Calicut, immer übersetzend, beratend, ja, verhandelnd.
Obwohl wir vergleichsweise viel über Gaspar da Gama wissen, wissen wir im Grunde nicht, wer er war. Wir kennen weder seinen Geburtsort noch sein Geburts- oder Todesjahr; wir wissen nicht, wie er ursprünglich hieß. Inzwischen gehen die meisten Interpreten davon aus, dass er ein Jude polnischer Herkunft war.
Wolfgang Behringer skizziert den Lebenslauf des polyglotten Gaspar da Gama in der einleitenden "Apologie" seiner Globalgeschichte der Frühen Neuzeit - und lässt damit zugleich das Programm dieser Geschichte erkennbar werden. Denn nicht nur, dass er mit dem Lebenslauf auf Prozesse kulturellen Transfers, kulturellen Konflikts und kultureller Hybridisierung aufmerksam macht, in deren Verlauf Go-Betweens wie Gaspar als kulturelle Übersetzer immer unentbehrlicher wurden. Indem der Kultur- und Umwelthistoriker Behringer seine monumentale Globalgeschichte mit dem Lebenslauf eines Kosmopoliten avant la lettre beginnen lässt, führt er zugleich vor Augen, dass er Globalgeschichte als Mikrogeschichte in globaler Absicht versteht, die auf die Multiperspektivität von Akteurinnen und Akteuren setzt. Das aber heißt auch: Die vorliegende Globalgeschichte ist eine "shared history", eine Geschichte globaler Verbindungen und Vernetzungen, in der die sogenannte europäische Expansion nur noch eine Expansion unter anderen ist.
Mehr noch: Lebensläufe wie die von Gaspar da Gama und anderen Go-Betweens erlauben es Behringer, auch globale Ereignisse und globale Orte mikrohistorisch zu identifizieren, was ihn wiederum zu "übergreifenden" Phänomenen führt, die wie Kolonialismus, Migration oder auch Sklaverei, wie Ethnozentrismus und Rassismus durchgängig, aber gewissermaßen "vor Ort" kontextualisiert und problematisiert werden. Keine Frage, die "halb zufällige" Bricolage, die auf diese Weise entstanden ist, hat ihren Preis. So sucht man theoriegeleitete Systematisierungen weitgehend vergebens. Andererseits aber ermöglicht es diese Bricolage, immer wieder aufs Neue - fast möchte man sagen produktiv kaleidoskopisch - ungewohnte und oft genug verstellte Bezüge sichtbar zu machen.
Behringer geht von einer globalen "Frühen Neuzeit" aus, in deren Verlauf alle "Zivilisationen" - die er in erster Linie kulturell (und damit auch erinnerungsräumlich) verstanden wissen will - über kontinentale Grenzen hinweg miteinander in Verbindung traten, und das oft genug mit Folgen, deren Reichweite erst auf den zweiten und dritten Blick erkennbar werden. So revolutionierte zum Beispiel das Silber aus der "Neuen Welt", das über Spanien beziehungsweise Europa in die "Alte Welt" gelangte, den innerasiatischen Handel, indem es in Gestalt der Silberrupie die chinesische Papierwährung verdrängte. Obwohl Behringer Europa eine "zeitweilige Sonderstellung" in diesen globalen Vernetzungsprozessen zugesteht, die Sonderstellung des zivilisatorischen Spätzünders, betont er doch zugleich, dass eine Globalgeschichte der Frühen Neuzeit im Grunde ohne Epizentrum auskommen kann, wenn nicht auskommen muss. Ja, es spricht nach Behringer sogar einiges dafür, dass Europa erst in der globalen Dynamik seiner Expansion kulturell mit Afrika und Asien gleichziehen konnte.
Nachdem Behringer die Ausgangsbedingungen der "alten Zivilisationen" vor dem "großen Aufbruch" skizziert und dabei auch globale klimageschichtliche Entwicklungen wie die sogenannte "Kleine Eiszeit" in den Blick genommen hat, setzt er seine Mikrogeschichte in globaler Absicht moderat chronologisch (und durchaus klassisch) in drei Hauptkapiteln um. Das sechzehnte Jahrhundert wird dabei zum Jahrhundert "im Aufbruch", das siebzehnte zum Jahrhundert "im Krisenmodus" und das achtzehnte zum Jahrhundert "des Fortschritts". Zwei weitere Kapitel führen über die globale Frühe Neuzeit hinaus: Das Kapitel "Tanz auf dem Vulkan" macht auf die Verwerfungen global verdichteter (und oft genug asymmetrischer) Interaktionen aufmerksam, die den "Übergang zur Moderne" begleiteten, während der "Epilog" vor allem dazu dient, die Aufmerksamkeit für die "Tiefenströmungen der Geschichte" zu schärfen, die der "große Aufbruch" freigelegt, verstärkt, verändert, ja, hervorgebracht hat.
Es ist bezeichnend, dass Behringer in seinem Epilog nicht zuletzt auch Formen globaler Gewalt oder die verschiedenen Expansionen des Ethnozentrismus thematisiert. Wenn er gleichzeitig die "Hybridisierung" und damit auch die "Kreolisierung" von Zugehörigkeiten und Lebensstilen als Signatur globaler oder doch globalisierter Kultur stark macht, dann in erster Linie deshalb, um uns frühneuzeitliche Globalgeschichte in ihren Tiefenströmungen als "Quelle der Selbsterkenntnis" nahezubringen. Damit aber wären wir im Grunde wieder bei Gaspar da Gama - und einer Geschichtsschreibung, die im Kleinen zur Größe findet. PETER BURSCHEL
Wolfgang Behringer: "Der große Aufbruch". Globalgeschichte der
frühen Neuzeit.
C. H. Beck Verlag, München 2023.
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.
1319 S., Abb., geb., 48,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sachbuch-Bestenliste von der literarischen WELT, NZZ, RBB Kultur und Radio Österreich 1 im Januar 2024:
"Zeigt anhand vieler Mikrogeschichten, wie die Welt ab 1500 durch Seuchen, Kriege und Handel, aber auch durch Naturkatastrophen zusammenwuchs."
"Wolfgang Behringers löst seinen Anspruch einer multizentrischen Darstellung der Frühen Neuzeit in überbordender Fülle ein. 'Der große Aufbruch' ist der Prototyp einer konsequent nichteurozentrischen, aber zugleich deutlich europafreundlichen Globalgeschichtsschreibung."
Süddeutsche Zeitung, Lothar Müller
"Mikrohistorie in großem Format: Wolfgang Behringer schreibt eine Geschichte frühneuzeitlicher globaler Vernetzungen, in der die europäische Expansion nur noch eine unter anderen ist."
FAZ, Peter Bürschel
"Wer sich vom imposanten Volumen nicht schrecken lässt, wird in diesem Buch eine Fülle an Wissenswertem finden und unsere Gegenwart, in der Vernetzung mit Verschiebungen der globalen Machtstatik einhergeht, womöglich in neuem Licht sehen."
Deutschlandfunk Büchermarkt, Winfried Dolderer
"Der Autor will bei seinen Lesern den Sinn für die langfristigen 'Tiefenströmungen der Geschichte' schärfen. ... Behringer hält sein Versprechen. Das Buch wird nie langweilig."
Katholische Nachrichtenagentur, Christoph Arens
"Eine famose Globalgeschichte der Frühen Neuzeit. ... Niemand hatsich bisher in dieser Tiefe mit dem Thema befasst."
Kölner Stadtanzeiger, Stephan Klemm
"Die 'Globalgeschichte der Frühen Neuzeit' ist ein dickes Brett, doch der Historiker macht es geschickt zugänglich anhand von Mikrogeschichte: Einzelschicksale als Beispiele, wie die Welt in dieser Epoche zusammenwuchs. Und das aus einer nicht exklusiv eurozentrischen Sicht."
PM History
"Wie die Welt seit 500 Jahren wurde, was sie ist. Kein 'postkolonialistisches' Geschwurbel, sondern belegte Fakten, anschaulich erzählt."
Frankfurter Neue Presse, Michael Kluger
"Zeigt anhand vieler Mikrogeschichten, wie die Welt ab 1500 durch Seuchen, Kriege und Handel, aber auch durch Naturkatastrophen zusammenwuchs."
"Wolfgang Behringers löst seinen Anspruch einer multizentrischen Darstellung der Frühen Neuzeit in überbordender Fülle ein. 'Der große Aufbruch' ist der Prototyp einer konsequent nichteurozentrischen, aber zugleich deutlich europafreundlichen Globalgeschichtsschreibung."
Süddeutsche Zeitung, Lothar Müller
"Mikrohistorie in großem Format: Wolfgang Behringer schreibt eine Geschichte frühneuzeitlicher globaler Vernetzungen, in der die europäische Expansion nur noch eine unter anderen ist."
FAZ, Peter Bürschel
"Wer sich vom imposanten Volumen nicht schrecken lässt, wird in diesem Buch eine Fülle an Wissenswertem finden und unsere Gegenwart, in der Vernetzung mit Verschiebungen der globalen Machtstatik einhergeht, womöglich in neuem Licht sehen."
Deutschlandfunk Büchermarkt, Winfried Dolderer
"Der Autor will bei seinen Lesern den Sinn für die langfristigen 'Tiefenströmungen der Geschichte' schärfen. ... Behringer hält sein Versprechen. Das Buch wird nie langweilig."
Katholische Nachrichtenagentur, Christoph Arens
"Eine famose Globalgeschichte der Frühen Neuzeit. ... Niemand hatsich bisher in dieser Tiefe mit dem Thema befasst."
Kölner Stadtanzeiger, Stephan Klemm
"Die 'Globalgeschichte der Frühen Neuzeit' ist ein dickes Brett, doch der Historiker macht es geschickt zugänglich anhand von Mikrogeschichte: Einzelschicksale als Beispiele, wie die Welt in dieser Epoche zusammenwuchs. Und das aus einer nicht exklusiv eurozentrischen Sicht."
PM History
"Wie die Welt seit 500 Jahren wurde, was sie ist. Kein 'postkolonialistisches' Geschwurbel, sondern belegte Fakten, anschaulich erzählt."
Frankfurter Neue Presse, Michael Kluger