Das entscheidende "Kriegstheater" des Ersten Weltkriegs - heute noch in vielen Nationen als der "Große Krieg" erinnert - war die Westfront. Hier begann er im Jahre 1914 und hier endete er 1918. So war dieser Große Krieg in vieler Hinsicht ein deutsch-französischer Krieg. An der Marne und vor Verdun kämpften fast ausschließlich deutsche und französische Soldaten.Und sicherlich wäre dieser Krieg in dem Moment zu Ende gewesen, wo eine dieser beiden hauptbeteiligten Nationen aufgegeben hätte.Ein deutscher und ein französischer Historiker, die seit vielen Jahren in wissenschaftlichen Projekten zusammenarbeiten, insbesondere im Forschungszentrum des Museums "Historial de la Grande Guerre" in Péronne an der Somme, haben nun gemeinsam eine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs aus deutscher und französischer Sicht verfasst. Diese behandelt die militärischen und politischen Entwicklungen genau so wie das tägliche Leben und Sterben an der Front und die Entbehrungen der Bevölkerungen. So gelangen die Autoren zu einer problemorientierten wissenschaftlichen Synthese der so verschiedenen Weltkriegserzählungen der beiden Nationen.Dieses Buch erlaubt es nun endlich, den Ersten Weltkrieg jenseits der oft üblichen nationalen Stereotype auf "transnationale" Weise zu verstehen. Niemals zuvor war es möglich, in deutscher Sprache so genau über die Tradition der französischen Weltkriegserzählung informiert zu werden. Umgekehrt ermöglicht die im Verlag Tallandier erschienene französische Ausgabe dieses Buches dem französischen Leser eine "deutsche Sicht" der Ereignisse. Dementsprechend enthusiastisch sind die Besprechungen in den französischen Medien ausgefallen. Für L' Histoire war es "eines der originellsten und stimulierendsten Bücher dieses Jahres".So ist dieses Buch ein wichtiger Schritt hin zu einer international vergleichenden Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges, welche die unterschiedlichen Kriegserzählungen der Nationen im Sinne einer gemeinsamen Geschichte begreift.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2010Der Hass der Heimatfront
Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg: Mythen bis in die Gegenwart
Zu den verheerendsten intellektuellen Folgen des Ersten Weltkriegs zählt die Gründlichkeit, mit der er dem kollektiven Gedächtnis der Nationen seinen Stempel aufgedrückt hat. Das Kriegsleid zerriss gesellschaftliche Verbindungen zwischen den Ländern und übermalte politische Ambivalenzen mit einem Sschwarzweißmuster. Erinnerungen an kulturelle Affinitäten wurden von einer Propaganda ausradiert, die Hass mobilisierte, um die Heimatfront gegen einen äußeren Feind zusammenzuschweißen, der oft als absolut böse dargestellt wurde. Gerade im deutsch-französischen Verhältnis zementierte der Krieg einen Antagonismus, der auch die Geschichtswissenschaft über fast hundert Jahre geprägt hat.
Wie lange Historiker den Konflikt aus einem engen nationalen Blickwinkel betrachteten und wie viele Mythen dabei bis in die Gegenwart fortgeschrieben wurden, bemerkt, wer jetzt als Korrektur die Studie von Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich über Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg liest. Beide sind ausgewiesene Kenner und arbeiten seit Jahren im Forschungszentrum des Museums Historial de la Grande Guerre in Péronne zusammen. Ihr Band ist aus einem größeren Projekt hervorgegangen, das darauf zielt, den Ersten Weltkrieg international vergleichend zu untersuchen und über die Ereignisgeschichte hinaus zu einer "politischen Geschichte der Kriegsmentalitäten" zu gelangen. Entsprechend breiten Raum nehmen neben der souverän dargestellten Militär- und Politikgeschichte kulturelle Entwicklungen ein: die Besonderheiten der deutschen und französischen Öffentlichkeit vor 1914, die spezifische Kriegskultur in beiden Ländern oder die mentalen Folgen des Konflikts.
Aus deutscher Sicht mag dabei überraschen, wie zentral nach Meinung der Autoren falsche Vorstellungen über Frankreich für die Ausprägung einer Kriegsmentalität im Kaiserreich schon vor 1914 waren. Die Deutschen hätten den französischen Revanchismus nach 1871 überschätzt. Kaum jemals sei eine Mehrheit der Franzosen bereit gewesen, für die verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen Krieg zu führen. Théophile Delcassé, Außenminister von 1898 bis 1905, der in Deutschland als Drahtzieher einer diplomatischen Einkreisung des Reiches galt, habe sich zunächst um eine Annäherung bemüht, ehe ihn die als aggressiv empfundene Marokkopolitik der Wilhelmstraße eines Besseren belehrte. Den neuen französischen Nationalismus nach 1912 halten Becker und Krumeich für überbewertet. Er sei weitgehend auf das Pariser Kleinbürgertum beschränkt geblieben und habe bei Honoratioren in der Provinz kaum Widerhall gefunden.
Für eine Korrektur überkommener Interpretationen des deutschen Nationalismus sehen die Autoren weniger Anlass. Die meisten Deutschen, argumentieren sie, seien von Frankreichs Dekadenz überzeugt gewesen und hätten dessen schleichenden Verfall im Lichte von Darwins Lehren für eine unbestreitbare Tatsache gehalten. Als Beleg für die besondere Virulenz des Darwinismus in Deutschland verweisen Becker und Krumeich aber nur auf den Alldeutschen Verband, der 1905 zwar 130 000 Mitglieder zählte, aber kaum als Sprachrohr des "Durchschnittsdeutschen" gelten kann. Ähnlich anfechtbar erscheint der Hinweis auf General Friedrich von Bernhardis Kampfschrift "Deutschland und der nächste Krieg" von 1912 als Indiz für die Verbreitung eines extremen Militarismus im Kaiserreich. Bernhardis Verleger Cotta hatte vor dem August 1914 gerade einmal 6000 Exemplare des Buches für den Verkauf gedruckt. Man kann bezweifeln, dass die radikalen Thesen des Generals so breiten Widerhall in allen Schichten der deutschen Bevölkerung fanden, wie Becker und Krumeich annehmen.
Überzeugender werden Unterschiede zwischen der Kriegskultur in Deutschland und Frankreich begründet. Weil die Schlachten nicht auf dem Territorium des Reiches geschlagen wurden, sondern in Flandern, Nordfrankreich und anderswo, fehlte der deutschen Propaganda die "systematische Vermittlung des Hasses auf den Gegner", die in Frankreich verbreitet gewesen sei. Außerdem hätten es die westlichen Demokratien mit ihrer größeren Erfahrung in politischer Polemik verstanden, die Medien aggressiver zu nutzen.
Ähnlich plausibel erscheint die These vom unterschiedlichen Stellenwert des Gedenkens an den Krieg nach 1918. Frankreich habe den patriotischen Konsens vom August 1914 in öffentliche Zeremonien überführt und eine Art "nationaler Trauergemeinschaft" geschaffen. In der deutschen Gesellschaft hingegen hätten die überraschende Niederlage und die folgende Revolution unüberwindliche Gräben aufgerissen, die eine gemeinschaftliche Trauer unmöglich machten. Unter diesen Umständen sei es der ersten deutschen Republik nie gelungen, eine kollektive Erinnerung als Basis für eine eigene Tradition und historische Legitimation zu schaffen.
Trotz der vielfältigen Verbindungen, Parallelen und Gegensätze, die Becker und Krumeich aufzeigen, ist der Erste Weltkrieg als deutsch-französischer Konflikt nur unzureichend charakterisiert. Zwar kämpften in den großen Schlachten an der Marne und vor Verdun fast nur deutsche und französische Soldaten. Aber an der Somme und in Flandern starben auch Hunderttausende junger Briten. Außer der Westfront gab es einen Krieg im Osten, den Historiker in den vergangenen Jahren intensiver erforscht haben. Ein vermeintlich unausweichlicher Endkampf der Germanen gegen die Slawen spielte in deutschen Bedrohungsvorstellungen spätestens seit 1912 eine größere Rolle als der Erzfeind im Westen. Mit Kriegsbeginn rückte die Auseinandersetzung mit dem "perfiden Albion" in den Mittelpunkt, weil man England im Kaiserreich für die stärkste gegnerische Macht hielt. Deutschland und Frankreich bildeten vielleicht die Achse, an der sich der Krieg ausrichtete, wie die Autoren schreiben. Aber der Tod drehte von 1914 bis 1918 ein größeres Rad.
DOMINIK GEPPERT
Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914-1918. Klartext Verlag, Essen 2010. 354 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg: Mythen bis in die Gegenwart
Zu den verheerendsten intellektuellen Folgen des Ersten Weltkriegs zählt die Gründlichkeit, mit der er dem kollektiven Gedächtnis der Nationen seinen Stempel aufgedrückt hat. Das Kriegsleid zerriss gesellschaftliche Verbindungen zwischen den Ländern und übermalte politische Ambivalenzen mit einem Sschwarzweißmuster. Erinnerungen an kulturelle Affinitäten wurden von einer Propaganda ausradiert, die Hass mobilisierte, um die Heimatfront gegen einen äußeren Feind zusammenzuschweißen, der oft als absolut böse dargestellt wurde. Gerade im deutsch-französischen Verhältnis zementierte der Krieg einen Antagonismus, der auch die Geschichtswissenschaft über fast hundert Jahre geprägt hat.
Wie lange Historiker den Konflikt aus einem engen nationalen Blickwinkel betrachteten und wie viele Mythen dabei bis in die Gegenwart fortgeschrieben wurden, bemerkt, wer jetzt als Korrektur die Studie von Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich über Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg liest. Beide sind ausgewiesene Kenner und arbeiten seit Jahren im Forschungszentrum des Museums Historial de la Grande Guerre in Péronne zusammen. Ihr Band ist aus einem größeren Projekt hervorgegangen, das darauf zielt, den Ersten Weltkrieg international vergleichend zu untersuchen und über die Ereignisgeschichte hinaus zu einer "politischen Geschichte der Kriegsmentalitäten" zu gelangen. Entsprechend breiten Raum nehmen neben der souverän dargestellten Militär- und Politikgeschichte kulturelle Entwicklungen ein: die Besonderheiten der deutschen und französischen Öffentlichkeit vor 1914, die spezifische Kriegskultur in beiden Ländern oder die mentalen Folgen des Konflikts.
Aus deutscher Sicht mag dabei überraschen, wie zentral nach Meinung der Autoren falsche Vorstellungen über Frankreich für die Ausprägung einer Kriegsmentalität im Kaiserreich schon vor 1914 waren. Die Deutschen hätten den französischen Revanchismus nach 1871 überschätzt. Kaum jemals sei eine Mehrheit der Franzosen bereit gewesen, für die verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen Krieg zu führen. Théophile Delcassé, Außenminister von 1898 bis 1905, der in Deutschland als Drahtzieher einer diplomatischen Einkreisung des Reiches galt, habe sich zunächst um eine Annäherung bemüht, ehe ihn die als aggressiv empfundene Marokkopolitik der Wilhelmstraße eines Besseren belehrte. Den neuen französischen Nationalismus nach 1912 halten Becker und Krumeich für überbewertet. Er sei weitgehend auf das Pariser Kleinbürgertum beschränkt geblieben und habe bei Honoratioren in der Provinz kaum Widerhall gefunden.
Für eine Korrektur überkommener Interpretationen des deutschen Nationalismus sehen die Autoren weniger Anlass. Die meisten Deutschen, argumentieren sie, seien von Frankreichs Dekadenz überzeugt gewesen und hätten dessen schleichenden Verfall im Lichte von Darwins Lehren für eine unbestreitbare Tatsache gehalten. Als Beleg für die besondere Virulenz des Darwinismus in Deutschland verweisen Becker und Krumeich aber nur auf den Alldeutschen Verband, der 1905 zwar 130 000 Mitglieder zählte, aber kaum als Sprachrohr des "Durchschnittsdeutschen" gelten kann. Ähnlich anfechtbar erscheint der Hinweis auf General Friedrich von Bernhardis Kampfschrift "Deutschland und der nächste Krieg" von 1912 als Indiz für die Verbreitung eines extremen Militarismus im Kaiserreich. Bernhardis Verleger Cotta hatte vor dem August 1914 gerade einmal 6000 Exemplare des Buches für den Verkauf gedruckt. Man kann bezweifeln, dass die radikalen Thesen des Generals so breiten Widerhall in allen Schichten der deutschen Bevölkerung fanden, wie Becker und Krumeich annehmen.
Überzeugender werden Unterschiede zwischen der Kriegskultur in Deutschland und Frankreich begründet. Weil die Schlachten nicht auf dem Territorium des Reiches geschlagen wurden, sondern in Flandern, Nordfrankreich und anderswo, fehlte der deutschen Propaganda die "systematische Vermittlung des Hasses auf den Gegner", die in Frankreich verbreitet gewesen sei. Außerdem hätten es die westlichen Demokratien mit ihrer größeren Erfahrung in politischer Polemik verstanden, die Medien aggressiver zu nutzen.
Ähnlich plausibel erscheint die These vom unterschiedlichen Stellenwert des Gedenkens an den Krieg nach 1918. Frankreich habe den patriotischen Konsens vom August 1914 in öffentliche Zeremonien überführt und eine Art "nationaler Trauergemeinschaft" geschaffen. In der deutschen Gesellschaft hingegen hätten die überraschende Niederlage und die folgende Revolution unüberwindliche Gräben aufgerissen, die eine gemeinschaftliche Trauer unmöglich machten. Unter diesen Umständen sei es der ersten deutschen Republik nie gelungen, eine kollektive Erinnerung als Basis für eine eigene Tradition und historische Legitimation zu schaffen.
Trotz der vielfältigen Verbindungen, Parallelen und Gegensätze, die Becker und Krumeich aufzeigen, ist der Erste Weltkrieg als deutsch-französischer Konflikt nur unzureichend charakterisiert. Zwar kämpften in den großen Schlachten an der Marne und vor Verdun fast nur deutsche und französische Soldaten. Aber an der Somme und in Flandern starben auch Hunderttausende junger Briten. Außer der Westfront gab es einen Krieg im Osten, den Historiker in den vergangenen Jahren intensiver erforscht haben. Ein vermeintlich unausweichlicher Endkampf der Germanen gegen die Slawen spielte in deutschen Bedrohungsvorstellungen spätestens seit 1912 eine größere Rolle als der Erzfeind im Westen. Mit Kriegsbeginn rückte die Auseinandersetzung mit dem "perfiden Albion" in den Mittelpunkt, weil man England im Kaiserreich für die stärkste gegnerische Macht hielt. Deutschland und Frankreich bildeten vielleicht die Achse, an der sich der Krieg ausrichtete, wie die Autoren schreiben. Aber der Tod drehte von 1914 bis 1918 ein größeres Rad.
DOMINIK GEPPERT
Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich: Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914-1918. Klartext Verlag, Essen 2010. 354 S., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Mythen der Geschichtswissenschaft betreffend das deutsch-französische Verhältnis zu korrigieren, hat Dominik Geppert ein neues Mittel gefunden. Der vorliegende Band der beiden Kriegsforscher am Forschungszentrum in Peronne, Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich, klärt anhand politischer, militärischer und kultureller Entwicklungen seit und vor 1914 auf über die Besonderheiten der deutschen wie der französischen Öffentlichkeit, über beider Kriegskulturen und die mentalen Folgen des Ersten Weltkriegs. Geppert erfährt etwa, dass der Revanchismus und der Nationalismus der Franzosen auf deutscher Seite überschätzt wurde und wie verbreitet der Militarismus in Deutschland war. Die vorgetragenen Indizien findet Geppert allerdings mitunter zweifelhaft, weil nicht sonderlich repräsentativ. Entschädigt wird er durch plausible Ausführungen zu den unterschiedlichen Kriegs- und Kriegsgedenkkulturen. Insgesamt aber entsteht bei ihm der Eindruck, dass der Erste Weltkrieg aller hier aufgezeigten Verbindungen zum Trotz als deutsch-französischer Konflikt nicht hinreichend charakterisiert ist. Geppert erinnert an die Briten, die in Flandern starben und die jüngst verstärkt erforschte Ostfront.
© Perlentaucher Medien GmbH
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