Herfried Münkler schildert in seiner großen Gesamtdarstellung diese «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts, zeigt, wie der Erste Weltkrieg das Ende der Imperien besiegelte, wie er Revolutionen auslöste, aber auch den Aufstieg des Sozial- und Steuerstaats förderte. Ein Zeitpanorama von besonderem Rang, das nicht nur die politischen und menschlichen Erschütterungen vor Augen führt, sondern auch zahlreiche Neubewertungen dieses epochalen Ereignisses vornimmt. Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Realität des Ersten Weltkriegs weiß Herfried Münkler dem Leser eindrucksvoll zu vermitteln
Der Erste Weltkrieg war für George F. Kennan die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" und für einige Historiker sogar der Auftakt eines neuen "Dreißigjährigen Krieges". Vorgeschichte und Geschichte des Krieges führten vor Jahrzehnten in Deutschland zu heftigen Debatten. Es sei hier nur an die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer und seiner Schüler über Kriegsschuld und Kriegsziele des Deutschen Reiches erinnert. Eine Gesamtdarstellung des Krieges aus seiner Feder blieb allerdings aus. Wer sich damals in der neueren Literatur über Ursachen, Verlauf und Folgen des Krieges detailliert informieren wollte, war von 1968 an auf die Werke von Peter Graf von Kielmansegg und Hans Herzfeld angewiesen. Erst 35 Jahre später veröffentlichte Michael Salewski seine Geschichte des Weltkriegs.
Wenn nun der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler eine in jeder Hinsicht gewichtige und mit 924 Seiten sehr umfangreiche Gesamtdarstellung vorlegt, kann man davon ausgehen, dass sein Werk in der breiten Öffentlichkeit mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wird. Die neun Kapitel spannen den Bogen von langen und kurzen Wegen in den Krieg bis zur aktuellen Einordnung des Weltkriegs "als politische Herausforderung". Im ersten Kapitel wird die zentrale Frage erörtert, ob das Deutsche Reich langfristig auf einen Krieg hingearbeitet habe oder ob kurzfristig politische Fehler, Ungeschick und "ein verfassungstechnisch nicht unter Kontrolle gebrachtes Militär den Konflikt zum großen Krieg eskalieren ließen". Ähnlich wie Christopher Clark kommt Münkler zu dem Ergebnis, dass für die Entscheidungen im Juli 1914 die "Blankoschecks" ausschlaggebend waren, die Deutschland den Österreichern, Russland den Serben und Frankreich den Russen ausgestellt hatten. Somit lag der "Schlüssel zum Krieg" in Petersburg. Die russische Mobilmachung führte dann dazu, dass in Deutschland der "Generalstab und nicht die Regierung entschied, welche Optionen zur Verfügung standen".
In den folgenden Kapiteln wird detailliert, sachkundig und anschaulich der Verlauf des Krieges vom Scheitern des Schlieffen-Plans im September 1914 bis zum Waffenstillstand im November 1918 geschildert. Dabei werden alle Ebenen der Kriegführung wie Politik, Strategie und Koalitionskriegführung, Waffentechnik und Rüstungswirtschaft, Operationsplanung und Logistik bis hin zur Taktik in ihrer Wechselwirkung angemessen berücksichtigt; dies gilt auch für die Seekriegführung mit den Elementen Blockade und Handelskrieg sowie für die Luftkriegführung mit den Ansätzen eines strategischen Luftkriegs.
Ab Herbst 1914 erstarrten im Westen die Fronten, und bis Sommer 1918 scheiterten auf beiden Seiten alle Offensiven mit dem Ziel eines strategischen Durchbruchs. Demgegenüber gelang es dem deutschen Heer an der Ostfront mit geschickter Operationsführung mehrfach, russische Großverbände so einzukesseln, dass sie kapitulieren mussten. Bei der Beschreibung der Kämpfe kommen zahlreiche Zeitzeugen zu Wort, wodurch sich dem Leser die Realität des Krieges eindrucksvoll erschließt.
Zur Realität des Krieges gehörten auch Meutereien und Kampfstreiks. Als im Frühjahr 1917 große Teile der französischen Armee nicht mehr angreifen wollten, wurden 550 Soldaten zum Tode verurteilt und 45 Urteile vollstreckt. Italien ging noch radikaler vor und führte die römische Praxis des "Dezimierens" wieder ein, bei der von einer meuternden Einheit jeder zehnte Mann hingerichtet wurde. Demgegenüber blieben deutsche Kriegsgerichte mit insgesamt weniger als 50 Todesurteilen "zurückhaltender als die aller anderen europäischen Mächte".
Das Kapitel über die "Ausweitung des Kampfes" behandelt detailliert den See- und den Luftkrieg. Doch zeigt sich hier, dass der Autor in der Terminologie der damaligen Seekriegsmittel nicht ganz sattelfest ist. Es ist ihm offensichtlich nicht klar, was ein Großkampfschiff (capital ship) war. So soll die Royal Navy 1916 in der Skagerrakschlacht sechs (statt drei) Großkampfschiffe verloren haben, was ein grandioser deutscher Erfolg gewesen wäre. Beim Handelskrieg zur See wird übersehen, dass London bereits 1913 dazu übergegangen war, Handelsschiffe zur Verteidigung gegen Hilfskreuzer zu bewaffnen. Dies war völkerrechtlich umstritten, wie dem offiziösen Jahrbuch "Nauticus" von 1914 zu entnehmen ist.
Mit dem Einsatz von U-Booten im Handelskrieg beschritt Deutschland ab Februar 1915 militärisch und völkerrechtlich neue Wege, da U-Boote die Regeln des Prisenrechts nur unvollkommen einhalten konnten. Die einzelnen Phasen dieses Handelskriegs werden leider nicht stringent anhand der Chronologie herausgearbeitet. Daher entsteht der Eindruck, dass U-Boote auch im Handelskrieg vor allem Torpedoangriffe bevorzugten; tatsächlich war der Einsatz der Bordgeschütze viel effektiver. Dies zeigte sich vor allem von Oktober 1916 bis Januar 1917, als die U-Boote nach Prisenordnung im Monatsdurchschnitt mehr als 320 000 BRT Schiffsraum versenkten.
Diese Einsätze führten zu keinem Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika und hätten als Druckmittel möglicherweise dazu beitragen können, einen Verhandlungsfrieden anzustreben. Doch diese Phase des U-Boot-Krieges bleibt ausgeblendet. Es fehlt auch der Hinweis auf den strategischen Zusammenhang zwischen der verhängnisvollen Entscheidung für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ab Februar 1917 und dem deutschen Bündnisangebot an Mexiko. Das legendäre Zimmermann-Telegramm wurde vom britischen Marinenachrichtendienst entziffert und an die amerikanische Regierung weitergeleitet. Seine Veröffentlichung in Washington und die Bestätigung der Richtigkeit durch Staatssekretär Zimmermann in Berlin führten in den Vereinigten Staaten zu einem Stimmungsumschwung und letztlich im April 1917 zum Kriegseintritt dieser Seemacht. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion über die NSA-Aktivitäten wäre eine kurze Ergänzung zur Entstehung und Bedeutung von Room 40 der britischen Admiralität (nicht des Kriegsministeriums) angebracht, da hier die Keimzelle der modernen Funkaufklärung entstand.
In dem Kapitel über den Zusammenbruch der Mittelmächte wird deutlich, wie sich das Deutsche Reich 1917/18 im Ansatz zu einer Militärdiktatur entwickelt hatte mit Erich Ludendorff an der Spitze, dem es 1918 über Monate hinweg gelang, die militärische Niederlage zu verschleiern. Da es jedoch die Reichstagsmehrheit aus SPD und Zentrum versäumte, "energische Initiativen für einen Friedensschluss [...] zu ergreifen", konnte "die Oberste Heeresleitung nach Belieben schalten und walten", bis es letztlich zu spät war.
In dem Schlusskapitel über den Weltkrieg als politische Herausforderung werden die Auswirkungen des Krieges auf die Gegenwart beschrieben und interpretiert. So weist der Politikwissenschaftler Münkler kritisch darauf hin, dass auf dem Balkan bis heute zwischenstaatliche Konflikte nicht ausgeräumt sind. Es gehöre daher zur sicherheitspolitischen Herausforderung der Europäischen Union, "dafür zu sorgen, dass die mitteleuropäisch-balkanischen Konflikte nicht erneut zum Ausbruch kommen". In der globalen Perspektive sieht Münkler das heutige China in der Position des wilhelminischen Deutschland im Übergang zum 20. Jahrhundert. Durch die maritime Aufrüstung dieser asiatischen Großmacht sei eine chinesisch-amerikanische Konfrontation denkbar, "die ähnlichen Mustern folgt wie der deutsch-britische Gegensatz am Anfang des 20. Jahrhunderts".
Die ausgewogene Darstellung stützt sich auf die fast unübersehbar gewordene Spezialliteratur über den Ersten Weltkrieg. Das Literaturverzeichnis umfasst über 800 Titel, wobei die älteren amtlichen Reihenwerke des Reichsarchivs und des Marinearchivs nicht berücksichtigt wurden. 12 Karten von verschiedenen Kriegsschauplätzen und einigen Schlachten, wie zum Beispiel Tannenberg und Verdun, sind zum Verständnis der Darstellung hilfreich. Eine methodische Besonderheit des Bandes sind 80 gut ausgewählte eindrucksvolle Bilder, meist Fotografien von Politikern und Soldaten, Gefechtsfeldern, Schützengräben, Waffen und nicht zuletzt von Gefallenen. Der Wert dieser Bilder liegt darin, dass sie nicht nur inhaltlich zum jeweiligen Textabschnitt passen, sondern auch ausführlich kommentiert werden. Die Belege der Zitate sind im Anhang kapitelweise als Endnoten zusammengefasst, die zum Teil auch für weitere Erläuterungen genutzt werden. Leider ist die Suche nach Anmerkungen nicht einfach, da der Verlag darauf verzichtet hat, bei den Kopfzeilen die jeweiligen Seitenzahlen des dazugehörigen Haupttextes anzugeben.
Für eine Neuauflage wäre eine knappe Zeittafel hilfreich, zumal im Inhaltsverzeichnis nur ein Ereignis datiert wird: Sarajevo, 28. Juni 1914. Münkler beginnt seine Darstellung mit der These, dass der Erste Weltkrieg der Brutkasten war für fast alle Technologien, Strategien und Ideologien, "die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden". Im Endergebnis wird diese These bestätigt, und somit liegt cum grano salis eine überzeugende Gesamtdarstellung des Großen Krieges vor.
WERNER RAHN
Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 924 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main