Ende der 1930er Jahre verlässt das Starlett Lorna del Rio nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer sechsjährigen Tochter Jessie überstürzt Hollywood. Sie flüchten in den großen Nordwesten, Richtung Yukon und Alaska. Ihre Reise führt sie durch ein Land, das von Legenden geprägt ist: Legenden der First Nations und der indigenen Bevölkerung, der Goldsucher, Kopfgeldjäger und Trapper, der Western, Märchen und Abenteuerromane. Ausgestattet mit einer mysteriösen Karte, dem gestohlenen Geld von Jessies verstorbenem Vater und einem Gewehr stellen sich Mutter und Tochter der Wildnis und ihrer eigenen Vergangenheit. Schutzlos der Natur ausgeliefert und verfolgt von Kopfgeldjägern rettet die Begegnung mit Kaska, einer Indigenen der Gwitch'in First Nations, ihr Überleben. Doch was verbirgt Lorna, die mit jeder Station der Reise ihren Namen wechselt und neue Geschichten über ihre Herkunft erfindet? Und warum denkt das FBI, es müsste Jessie finden und retten? Eine große Erzählung über Nordamerikas Wildnis, die ein ganzes Universum faszinierender Figuren, Bilder und Landschaften bereithält.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Lena Bopp bekommt mit Anne-Marie Garats Roman eine vielschichtige, im Alaska der 1930er Jahre spielende Geschichte über Familiengeheimnisse, doppelte Wahrheiten und Kontrollverlust über das eigene Sein, erzählt aus rasch wechselnden Perspektive in Vor- und Rückblenden, vor allem aber aus der Sicht einer jungen Frau, die das als Kind Erlebte rekapituliert. Eine bei uns eher unbekannte französische Autorin mit Faible für historische Stoffe und komplexe Familiengeschichten ist zu entdecken, meint Bopp. Auch wenn die Lektüre Aufmerksamkeit erfordert und Wilderer und Schamaninnen die Handlung mit Mystik aufladen, war es eine für die Rezensentin höchst lohnende Lektüre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2022Das private Ursprungsproblem
Anne-Marie Garat erzählt in ihrem Roman "Der große Nordwesten" vom Weg zweier Frauen vor fast hundert Jahren ins große Abenteuer Alaska.
Die französische Schriftstellerin Anne-Marie Garat schreibt seit dreißig Jahren Romane, aber in Deutschland ist sie noch weitgehend unbekannt. Erst vor Kurzem hat der neu gegründete Goya-Verlag in Hamburg erstmals ein Buch dieser sehr produktiven Autorin übersetzen lassen, die in ihrer Leidenschaft für historische Stoffe, die sie mit weit verzweigten Familiengeschichten durchwebt, an den auch hierzulande schon gut bekannten Pierre Lemaitre erinnert. Ähnlich wie Lemaitre greift Anne-Marie Garat immer wieder Figuren aus früheren Büchern auf und schreibt deren Geschichten fort. Was nicht heißt, dass man alle Bücher gelesen haben muss, um das nun erschienene zu verstehen.
"Der große Nordwesten" spielt in den dreißiger Jahren in Alaska, wohin die aus Hollywood aufgebrochene Lorna del Rio mit ihrer sechs Jahre alten Tochter unterwegs ist. Als einen western au féminin hat Anne-Marie Garat ihr Buch bezeichnet, was doppelt richtig ist, denn nicht nur sind die Protagonisten weiblich. Das Geschehen wird auch aus weiblicher Perspektive erzählt, wobei die komplexe Erzählkonstruktion über lange Zeit ebenso undurchsichtig bleibt wie die Beweg- und Hintergründe der Figuren. Nur bruchstückhaft erfährt man während ihres Roadtrips durch eine Wildnis, die an Jack London erinnert, was Lorna del Rio so unbedingt nach Alaska treibt, wo es noch keinen Alaska Highway gibt, sondern nur Schotterpisten und alte Pfade. Warum sie auf ihrem Weg ständig den eigenen Namen ändert. Und ebenso den ihrer Tochter, die als Jessie Campbell die schicke Villa in Hollywood verlässt, um nach einem halben Dutzend weiterer Namen schließlich zu Njyah zu werden, die über weite Strecken als Ich-Erzählerin in diesem Buch auftritt.
Weil ein sechs Jahre altes Kind aber nicht glaubhaft ein solches Buch erzählen kann, lässt Anne-Marie Garat das Mädchen in Rückblenden berichten. Sie ist um die zwanzig Jahre alt, als sie 1954 bei ihrem alten Weggefährten Bud auftaucht. Bud ist deutlich älter als sie, Kriegsveteran und ein guter Pilot. Als Sohn eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter ist er in den fünfziger Jahren in Amerika mit seiner Herkunft zwar auf andere Art gestraft als Jessie alias Njyah. Aber auch ihr stellt Anne-Marie Garat im Laufe ihres Buches die Fragen, woher sie kommt, wo ihre Ursprünge sind und wie diese über ihr Schicksal bestimmen - oder auch nicht. 1954 taucht Jessie Campbell also bei Bud auf, erzählt ihm ihre Geschichte, und der schreibt sie auf. Über weite Strecken schreibt er genauso, wie sie erzählte - in der ersten Person, mäandernd, nicht immer klar zwischen Traum, Wunsch und Wirklichkeit unterscheidend. Zum Ende des Buches hin aber lässt er zunehmend seine eigene Version in die Geschichte einfließen. Daraus ergibt sich ein Werk voller Vor- und Rückblenden und rascher Wechsel der Perspektiven.
Das erfordert Aufmerksamkeit bei der Lektüre, aber es passt gut zu einem Leben, in dem von Anfang an alles unstet ist. Jessie ist die Tochter eines Hollywood-Produzenten und dessen Frau, die einst auf verschlungenen Wegen aus Frankreich kam und es in Kalifornien weit gebracht hat. Zumindest glaubt Jessie das. Bis der Vater am Morgen nach ihrem sechsten Geburtstag tot aus dem Meer gefischt wird und die Mutter daraufhin unverzüglich ihre Reise in den Nordwesten antritt. Sie ist mutig, gerissen und unsentimental. Offenkundig hat sie gelernt, sich von Liebgewonnenem nicht aufhalten zu lassen. Stattdessen treibt eine Kraft sie voran, die in der Wahrnehmung des Kindes immer dunkler wird, je unwägbarer die Wildnis und je größer die Schwierigkeiten, vor denen die beiden bald stehen.
Denn die Reise nach Plan endet, als sie auf Kaska stoßen, eine alte Indianerin, die mit dem Fuß in die Falle eines Wilderers geraten ist und sich allein nicht befreien kann. Den Wilderer streckt Lorna del Rio mit einem blitzsauberen Messerwurf nieder. Fortan verdankt Kaska der Fremden ihr Leben. Doch bald gilt das auch umgekehrt, denn das Benzin geht zur Neige, und ohne den Unterschlupf, den Mutter und Tochter in der Hütte der Schamanin finden, aber vor allem ohne ihr Wissen um die Gesetzmäßigkeiten dieser Gegend könnten die beiden nicht überleben. Ein Sommer voller Vorbereitungen auf den harten Winter steht ins Haus. Das Leben in der Wildnis verlangt andere Fähigkeiten als jenes im Haifischbecken Hollywoods. Die kleine Jessie kommt damit gut zurecht. Fasziniert beobachtet sie, wie Kaska Kerzenfische fängt und das Fell eines Elchs zerteilt. Für Lorna ist es schwieriger, denn in der Natur sind ihre bewährten Waffen nutzlos. Was bringt ein Schminkköfferchen mit rotem Lippenstift, wenn einem Moskitos das Gesicht zerbeißen?
Noch härter als der daraus resultierende Kontrollverlust ist für die Mutter jedoch, dass sie sich bald gezwungen sieht zu offenbaren, was sie in diese Gegend getrieben hat - ihr am besten gehütetes Geheimnis. Es preiszugeben setzt Kräfte frei, die sich der Rationalität entziehen und das ganze Geschehen für eine Mystik öffnen, die eng mit der Landschaft und ihren Bewohnern verbunden ist. Gemäß der Vorstellung der Ureinwohner dieser Wildnis, dass jedes Tier einmal ein Mensch war und auch umgekehrt jeder Mensch ein Patentier hat, können Mensch und Tier miteinander kommunizieren. Die Natur ist voller Spuren. Polarlichter kündigen wichtige Ereignisse an. Kaska und deren Kompagnon Herman, seinerseits ein Kind kanadischer Ureinwohner, können sie lesen.
Anne-Marie Garat zeichnet die beiden aber nicht als romantische Vertreter einer idealisierten Vergangenheit. Sie vermeidet Folklore. Vielmehr entwirft sie das Bild eines geschundenen Landstrichs, dessen Menschen ihr kulturelles Erbe so leben, wie es ihnen möglich und noch erlaubt ist. Dass sie damit gegenüber Glückssuchern und Goldschürfern im Vorteil sind, ergibt sich von selbst. Dass sie besser als andere wissen, wie man Frieden mit einer Vergangenheit schließt, die verloren ist, ebenfalls. LENA BOPP
Anne-Marie Garat: "Der große Nordwesten". Roman.
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Verlag Goya, Hamburg 2021. 425 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anne-Marie Garat erzählt in ihrem Roman "Der große Nordwesten" vom Weg zweier Frauen vor fast hundert Jahren ins große Abenteuer Alaska.
Die französische Schriftstellerin Anne-Marie Garat schreibt seit dreißig Jahren Romane, aber in Deutschland ist sie noch weitgehend unbekannt. Erst vor Kurzem hat der neu gegründete Goya-Verlag in Hamburg erstmals ein Buch dieser sehr produktiven Autorin übersetzen lassen, die in ihrer Leidenschaft für historische Stoffe, die sie mit weit verzweigten Familiengeschichten durchwebt, an den auch hierzulande schon gut bekannten Pierre Lemaitre erinnert. Ähnlich wie Lemaitre greift Anne-Marie Garat immer wieder Figuren aus früheren Büchern auf und schreibt deren Geschichten fort. Was nicht heißt, dass man alle Bücher gelesen haben muss, um das nun erschienene zu verstehen.
"Der große Nordwesten" spielt in den dreißiger Jahren in Alaska, wohin die aus Hollywood aufgebrochene Lorna del Rio mit ihrer sechs Jahre alten Tochter unterwegs ist. Als einen western au féminin hat Anne-Marie Garat ihr Buch bezeichnet, was doppelt richtig ist, denn nicht nur sind die Protagonisten weiblich. Das Geschehen wird auch aus weiblicher Perspektive erzählt, wobei die komplexe Erzählkonstruktion über lange Zeit ebenso undurchsichtig bleibt wie die Beweg- und Hintergründe der Figuren. Nur bruchstückhaft erfährt man während ihres Roadtrips durch eine Wildnis, die an Jack London erinnert, was Lorna del Rio so unbedingt nach Alaska treibt, wo es noch keinen Alaska Highway gibt, sondern nur Schotterpisten und alte Pfade. Warum sie auf ihrem Weg ständig den eigenen Namen ändert. Und ebenso den ihrer Tochter, die als Jessie Campbell die schicke Villa in Hollywood verlässt, um nach einem halben Dutzend weiterer Namen schließlich zu Njyah zu werden, die über weite Strecken als Ich-Erzählerin in diesem Buch auftritt.
Weil ein sechs Jahre altes Kind aber nicht glaubhaft ein solches Buch erzählen kann, lässt Anne-Marie Garat das Mädchen in Rückblenden berichten. Sie ist um die zwanzig Jahre alt, als sie 1954 bei ihrem alten Weggefährten Bud auftaucht. Bud ist deutlich älter als sie, Kriegsveteran und ein guter Pilot. Als Sohn eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter ist er in den fünfziger Jahren in Amerika mit seiner Herkunft zwar auf andere Art gestraft als Jessie alias Njyah. Aber auch ihr stellt Anne-Marie Garat im Laufe ihres Buches die Fragen, woher sie kommt, wo ihre Ursprünge sind und wie diese über ihr Schicksal bestimmen - oder auch nicht. 1954 taucht Jessie Campbell also bei Bud auf, erzählt ihm ihre Geschichte, und der schreibt sie auf. Über weite Strecken schreibt er genauso, wie sie erzählte - in der ersten Person, mäandernd, nicht immer klar zwischen Traum, Wunsch und Wirklichkeit unterscheidend. Zum Ende des Buches hin aber lässt er zunehmend seine eigene Version in die Geschichte einfließen. Daraus ergibt sich ein Werk voller Vor- und Rückblenden und rascher Wechsel der Perspektiven.
Das erfordert Aufmerksamkeit bei der Lektüre, aber es passt gut zu einem Leben, in dem von Anfang an alles unstet ist. Jessie ist die Tochter eines Hollywood-Produzenten und dessen Frau, die einst auf verschlungenen Wegen aus Frankreich kam und es in Kalifornien weit gebracht hat. Zumindest glaubt Jessie das. Bis der Vater am Morgen nach ihrem sechsten Geburtstag tot aus dem Meer gefischt wird und die Mutter daraufhin unverzüglich ihre Reise in den Nordwesten antritt. Sie ist mutig, gerissen und unsentimental. Offenkundig hat sie gelernt, sich von Liebgewonnenem nicht aufhalten zu lassen. Stattdessen treibt eine Kraft sie voran, die in der Wahrnehmung des Kindes immer dunkler wird, je unwägbarer die Wildnis und je größer die Schwierigkeiten, vor denen die beiden bald stehen.
Denn die Reise nach Plan endet, als sie auf Kaska stoßen, eine alte Indianerin, die mit dem Fuß in die Falle eines Wilderers geraten ist und sich allein nicht befreien kann. Den Wilderer streckt Lorna del Rio mit einem blitzsauberen Messerwurf nieder. Fortan verdankt Kaska der Fremden ihr Leben. Doch bald gilt das auch umgekehrt, denn das Benzin geht zur Neige, und ohne den Unterschlupf, den Mutter und Tochter in der Hütte der Schamanin finden, aber vor allem ohne ihr Wissen um die Gesetzmäßigkeiten dieser Gegend könnten die beiden nicht überleben. Ein Sommer voller Vorbereitungen auf den harten Winter steht ins Haus. Das Leben in der Wildnis verlangt andere Fähigkeiten als jenes im Haifischbecken Hollywoods. Die kleine Jessie kommt damit gut zurecht. Fasziniert beobachtet sie, wie Kaska Kerzenfische fängt und das Fell eines Elchs zerteilt. Für Lorna ist es schwieriger, denn in der Natur sind ihre bewährten Waffen nutzlos. Was bringt ein Schminkköfferchen mit rotem Lippenstift, wenn einem Moskitos das Gesicht zerbeißen?
Noch härter als der daraus resultierende Kontrollverlust ist für die Mutter jedoch, dass sie sich bald gezwungen sieht zu offenbaren, was sie in diese Gegend getrieben hat - ihr am besten gehütetes Geheimnis. Es preiszugeben setzt Kräfte frei, die sich der Rationalität entziehen und das ganze Geschehen für eine Mystik öffnen, die eng mit der Landschaft und ihren Bewohnern verbunden ist. Gemäß der Vorstellung der Ureinwohner dieser Wildnis, dass jedes Tier einmal ein Mensch war und auch umgekehrt jeder Mensch ein Patentier hat, können Mensch und Tier miteinander kommunizieren. Die Natur ist voller Spuren. Polarlichter kündigen wichtige Ereignisse an. Kaska und deren Kompagnon Herman, seinerseits ein Kind kanadischer Ureinwohner, können sie lesen.
Anne-Marie Garat zeichnet die beiden aber nicht als romantische Vertreter einer idealisierten Vergangenheit. Sie vermeidet Folklore. Vielmehr entwirft sie das Bild eines geschundenen Landstrichs, dessen Menschen ihr kulturelles Erbe so leben, wie es ihnen möglich und noch erlaubt ist. Dass sie damit gegenüber Glückssuchern und Goldschürfern im Vorteil sind, ergibt sich von selbst. Dass sie besser als andere wissen, wie man Frieden mit einer Vergangenheit schließt, die verloren ist, ebenfalls. LENA BOPP
Anne-Marie Garat: "Der große Nordwesten". Roman.
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Verlag Goya, Hamburg 2021. 425 S., geb., 22,- Euro.
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