In Form zusammenfassender Referate stellt dieser große "Welt-Romanführer" Inhalte, Themen und Personen von 500 Meisterwerken der Romanliteratur von der Antike bis zur Gegenwart vor. Nach einem ausführlichen Essay über den antiken Roman als Vorläufer und Wegbereiter des europäischen Romans werden die Werke in chronologischer Folge präsentiert. Durch diese ungewöhnliche Darbietungsweise ergeben sich aufschlussreiche Erkenntnisse darüber, welche Themen die literarische Welt zur selben Zeit beschäftigt haben. Auch alle Träger des Nobelpreises für Literatur, die im Anhang des Bandes vollständig aufgeführt werden, sind mit jeweils einem Werk vertreten.
Das integrierte Register der Verfasser und Werke sowie ein Verzeichnis aller Romantitel erschließen dieses nützliche, interpretatorische Versuche bewusst unterlassende Nachschlagewerk, das sich darüber hinaus auch als anregendes Lesebuch mit zahlreichen Neuentdeckungen erweist.
Das integrierte Register der Verfasser und Werke sowie ein Verzeichnis aller Romantitel erschließen dieses nützliche, interpretatorische Versuche bewusst unterlassende Nachschlagewerk, das sich darüber hinaus auch als anregendes Lesebuch mit zahlreichen Neuentdeckungen erweist.
Ins Weite gezielt: Bernd Gräf führt durch die Weltliteratur
Die "wichtigsten und wirkungsstärksten Romane der Weltliteratur" sollen hier vorgestellt werden: von den Anfängen bis zur Gegenwart. Nicht "wichtig" erscheint im gegebenen Auswahlverfahren offenbar Goethes "Wilhelm Meister", während die Geschichte von Werthers Leiden fortdauernde Gunst genießt. Glücklicherweise wird Jean Pauls "Titan" nicht vergessen, wenngleich der Name des Autors im entsprechenden Register fehlt. Unter der Kategorie des "Wirkmächtigen" subsumieren sich aber nicht nur zeitlose Bestseller, sondern auch heute eher randständige Prosaprodukte wie der "Homo sapiens" von Stanislaw Przybyszewski oder "Die Verwunderung" des Flamen Hugo Claus.
Zu Verwunderung gibt Gräfs Kompendium allerdings mancherlei Anlaß. Präsentiert werden fünfhundert Autoren mit nur jeweils einem Werk oder einem mehrteiligen Romanzyklus. Daß damit ein anfechtbarer Kanon zusammengestellt wird, ist dem Herausgeber durchaus recht, zumal ausdrücklich "alle" Nobelpreisträger für Literatur vorkommen sollen und im Anhang aufgelistet werden. Gräf geht allerdings nicht so weit, auch Churchill und Mommsen Romanwerke zuzuschreiben. In der eindrucksvollen Titelgalerie ist angeblich das "abendländische" und das "Welt-Bildungsgut" verkörpert. Man kann es unter Gräfs Führung nun bequem überblicken, abhaken und bald Lektürekenntnisse vortäuschen. Zugleich ergibt sich die Möglichkeit, diachrone Reihen zu verfolgen und in einer historischen Synopse die nationale Streuung von Autoren zu beobachten. Denn die Inhaltsangaben sind in der zeitlichen Folge der jeweiligen Erstdrucke geordnet. Markante Korrekturen des literarischen Weltbildes drängen sich auf. Denn eine Suche nach den Spuren deutscher Autoren führt bald zu der Erkenntnis, daß von ihnen oft über viele Jahre hinweg nichts Nennenswertes erschienen ist. Beinahe verloren wirkt sogar Fontane mit seiner "Effi Briest", würden sich ihm nicht noch Stifter, Freytag, Keller und Heyse mit je einem Opus zugesellen. Wilhelm Raabe ist offenbar in den Orkus des Belanglosen verstoßen.
Wer sich über Fehlanzeigen ärgert, tut dem Werk freilich unrecht. Denn Gräfs Ansinnen zielt ins Weite, und abseits der deutschen Provinz leuchten hier überall farbige literarische Blinkfeuer: selbstverständlich nicht nur aus dem Terrain der Nachbarländer, sondern auch aus der asiatischen oder südamerikanischen Romanproduktion. Leicht findet sich so ein Leser zu abseitiger und weitschweifender Lektüre verführt, der eigentlich nur nach einem bestimmten Roman fahnden wollte. Titel, die mancher noch gar nicht in seinem fahrenden "Bildungsgut" vertäut hat, die im Hörensagen verdämmert oder längst unter die Schwelle der Erinnerung abgesunken sind, gewinnen nun eine sonderbare Attraktivität: "Müßte ich doch eigentlich einmal lesen!" Daß sich zum Beispiel der Rezensent unter südfranzösischen Pinien bisher nur in den ersten Teil des Daudetschen "Tartarin von Tarascon" vertiefte, treibt ihm nun die Schamröte ins Gesicht. Und dann die sagenhaften literarischen Ungetüme! Wer hätte schon gleich den guten alten Cholevius zur Hand, um sich barocke Erzähllabyrinthe, etwa die 3882 "Aramena"-Seiten eines Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, zu vergegenwärtigen. Und ehrlich gesagt: Wie steht es denn mit den Erinnerungsfetzen von Tolstois "Krieg und Frieden" oder Zolas "Die Rougon-Macquart"?
Man sollte also diese "weltliterarische" Palette nicht hämisch belächeln und sich auch damit abfinden, daß hier kaum mehr als plane Referate des elementaren Handlungsgeschehens gesammelt sind. Diese konzeptionelle Zurückhaltung hat zur Folge, daß Merkmale der Struktur und des Stils belanglos erscheinen und daß diskursive Kernzonen der Texte bisweilen hinter vollkommen gleichgültigen Episoden verschwinden. So etwa in der Vorstellung von Grimmelshausens "Simplicissimus". Nur hier und da sind knappe literaturgeschichtliche Anmerkungen beigegeben, offenbar nicht durchweg zuverlässig, wo es um Faktisches geht. Von den deutschen Übersetzern des "Amadis"-Zyklus sind jedenfalls nicht nur Fischart, sondern mittlerweile mindestens vier weitere Autoren bekannt.
Daß sich auf diese Weise alte Irrtümer weiterschleppen, bleibt freilich angesichts des bescheidenen Anspruchs der Handlungswiedergaben wohl die Ausnahme. Dafür erhebt ein anderes Problemungeheuer drohend sein Haupt. Wenn schon nur der zeitliche und pragmatische, selten genug auch der thematische Konnex des Geschehens Beachtung finden und wenn schon Möglichkeiten struktureller Textbeschreibung zumeist schnöde ausgeschlagen werden, sollte dann nicht wenigstens eine deutliche Distanz zwischen "Objekt"- und "Metasprache" erkennbar bleiben? Daß in Kellers bekanntestem Roman ein "Arbeitsmädchen" und eine "liebliche Pflegetochter" ihre Rollen spielen und daß Heinrich eine "zarte Geliebte" verehrt oder daß in Stifters "Nachsommer" ein "Handwerker von künstlerischer Bildung" vorkommt und am Ende eine "edel-festliche Vermählungsfeier" winkt, darf man in Aufsätzen von Gymnasiasten vielleicht stehenlassen, nicht aber in einem Werk, das sein Informationsangebot mit einem Minimum an analytischem Anspruch grundieren sollte.
Über die auffällige intellektuelle Schlichtheit mancher, gewiß nicht aller Referate wird man sich also am besten phantasievoll hinwegsetzen. Mag im Licht eigener Interessen Gräfs Romanführer auch lückenhaft wie ein Altersgebiß wirken, so lädt er doch in der Weite seines Blickfeldes zu spannenden Entdeckungen ein. An den Rändern und jenseits der individuellen Erinnerung bewirkt das Buch so vielleicht mancherlei Nutzen und mag sich auch als Gedächtnisstütze bewähren, wo andere Lexika sich knapper fassen. WILHELM KÜHLMANN
"Der große Romanführer. Fünfhundert Hauptwerke der Weltliteratur. Inhalte - Themen - Personen". Herausgegeben von Bernd Gräf. Anton Hiersemann Verlag, Stuttgart 1996. 760 S., geb., 128,- DM.
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