In der ungewöhnlich dichten Prosa Julien Gracqs werden Landschaften der Erde und der persönlichen Erinnerung zum sinnlichen Erlebnis für den Leser: Frankreich, Spanien, Schweden, ebenso Beobachtungen des Himmels und des Meeres, und schließlich Lebensetappen wie der Zweite Weltkrieg, Beziehung zu André Breton und dem Surrealismus. Komponiert wie kleine Musikstücke, geben diese Betrachtungen ein Bild vom geistigen Horizont und dem poetischen Vermögen dieses großen europäischen Geistes. "Ein literarisches Lebenswerk, das den bedeutendsten dieses Jahrhunderts zugeschlagen werden muß." DIE WELT
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.1996Wein und Pumpernickel
Der Landschaftsschreiber Julien Gracq · Von Joseph Hanimann
Der wohl größte französische Gegenwartsautor hat seine Literatur stets geistig erwandert. Seine Sätze und Bilder sind plastische Landschaften, die er schreibend streifte, umkreiste, erklomm, durchquerte - der Wald unter Schloß Argol, der Küstenstreifen im "Ufer der Syrten", bis zu den sieben Hügeln Roms im vorletzten Buch. Mit dem "Tagebuch eines Wanderers", das als "Carnets du grand chemin" 1992 in Frankreich erschien, hat er nun weite Teile seiner Empfindungstopographie offengelegt. Diese Aufzeichnungen mit Wegstücken von den leeren Basaltflächen des Zentralmassivs zum Kuhglockengrün der Voralpen, von der nebligen Geschichtslandschaft der Ardennen zur Stadtgeographie Londons, Amsterdams oder Triests sind frei gebliebene Geländeparzellen für ungeschriebene Bücher des sechsundachtzigjährigen Julien Gracq.
Ein gutes Dutzend Titel über ein knappes Jahrhundert: Das Werk dieses diskreten Altmeisters der modesicheren französischen Gegenwartsliteratur - diskreter noch als Julien Green oder Nathalie Sarraute - trägt das Signum der Rarität. Seit seiner Komplizenschaft mit André Breton, seiner zurückhaltenden Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei und dem ausgeschlagenen Goncourt-Preis 1951 gehört Gracq zu jener Gattung Schriftsteller, welche die politischen und künstlerischen Ereignisse des Jahrhunderts unverändert durchliefen wie die Diamantnadel ihre Rille. Das Alterswerk dieses unzeitgemäßen Zeitzeugen erinnert in manchem an das seines Freundes Ernst Jünger. Wo dieser aber kräftig in die Begriffsbilder faßt, hantiert jener mit kunstvoll spröden Sinnbildern und sammelt anstatt Insekten bloß Wasserkrausen und Winde.
Nie ist es so offensichtlich geworden wie in diesen über sechzig Jahre hinweg entstandenen Aufzeichnungen: Die Landschaften, in denen Gracq oder seine Figuren sich bewegen, werden nicht reflektierend erfaßt, verarbeitet, bewältigt, sondern vom Blick nur gestreift. Gracqs Raumwahrnehmung ist eine rein visuelle: kaum Gerüche oder Geschmackseindrücke und schon gar kein taktiles Anfassen. Selbst vom Gemüsegarten unterm Arbeitszimmer steigen anstatt wirklicher bereits verbal vermittelte Geschmacksempfindungen auf wie im fleischig, erdig, nächtlich wohlriechenden Wort "légumes" - "einem der ausdrucksvollsten der französischen Sprache". Gracqs landschaftliche Inspirationserwartung ist zu groß, als daß man da einfach hinlangen könnte. Manchmal genügen sogar Fotos, wie beim Betrachten der Klischees von tausendjährigen kalifornischen Mammutbäumen. André Bretons Vorliebe für die natürlichen Miniaturen der Kristalle, Schmetterlinge, Muscheln oder die in Jüngers "Subtile Jagden" geschilderten Reize könne er wohl verstehen, notiert der Autor; ihn aber fasziniere das "unendlich Große" wie der Gipfel des Montblanc, von Sallanche aus gesehen.
Mit der vorromantischen Erfahrung des Erhabenen hat Gracqs Landschaftsästhetik allerdings nichts zu tun. Er betreibt das Genre der Landschaftsschreiberei wie andere seit fünfhundert Jahren die Landschaftsmalerei. Die beschriebenen Landstriche sind Grundlage für kosmologische Spekulationen, zeitgeschichtliche Zeugenschaften, Auslöser für literarische Reminiszenzen und immer wieder Empfindungsstenogramme eines Weggefährten der Langsamkeit. Das "unendlich Große" kann mitunter auch im Kleinen aufscheinen, wenn etwa beim Verlassen des südwestfranzösischen Auch im Rückspiegel das Städtchen in einer Bodenfalte verschwindet und Kathedrale und gräfliche Tour d'Armagnac am Hügel schweben, mit derselben Emblematik, "welche die Stadtsilhouette aus einem Stundenbuch, die eindrucksvolle Einfachheit einer Wappenfigur ausstrahlt".
Die Welt wird zum Spektrum solcher Stundenbuch- und Wappenbilder, in denen geographische, geologische, mythologische, historische, politische, autobiographische Motive sich verdichten. Die alterslose Auvergne mit ihrem grauen Vulkangestein, als wäre ein Stück Mond mitten ins Herz Frankreichs gefallen, begrüßt der Autor als eines seiner "Neben-Vaterländer". Die bei der Trennung der Elemente vergessene Moorlandschaft um den Lac de Grandlieu dagegen döst in der wehmütigen Unentschiedenheit zwischen Fischfang und Ackerbau. Die Semois in den Ardennen, wo am 11. Mai 1940 die ersten deutschen Soldaten aus dem Schutz der Bäume traten, läßt Erinnerungen an Claudels Gedicht "Düsterer Mai" und Rimbauds "Johannisbeerstrom" aufsteigen. An solchen "Kreuzungswegen zwischen Poesie, Geographie und Geschichte" erwachen beim Schreiben Themen "in der Art der großen Orgeln: weil bei ihnen verschiedene Manuale übereinanderliegen".
Selbst die autobiographischen Erinnerungsmotive, politischen Rückbesinnungen und kulturphilosophischen Betrachtungen, zu denen Gracq im zweiten Teil der Aufzeichnungen übergeht, werden oft landschaftlich aufgelöst. Die ersten Kontakte zur kommunistischen Partei am Ende der Zwischenkriegszeit knüpfte er inmitten der Fischer eines bretonischen Landzipfels, die auf der "Joseph Stalin", der "Gnade Gottes" oder der "Oktoberlicht" das Jahr über den Golf der Gascogne befuhren. Der Gedanke der Revolution war ihnen fremd, und dem Kommunismus huldigten sie so wie die Frauen dem Katholizismus, grob sentimental und fetischistisch. Schon der junge Genosse Gracq war damals empfänglich für jene theorieferne provinzielle Sprödigkeit, die er später so meisterhaft schliff und veredelte.
Seiner Herkunft fehle die Mischung, notiert er. Seit sechs Generationen lägen Geburts- und Grabstätten seiner Ahnen in einem Umkreis von acht Kilometern in jener Vendée, deren Bewohner vor allem darauf aus seien, zu erwerben, zu erben, zu bewahren. Dem schreibt er auch sein häusliches Mißtrauen gegen Unbekannte, seinen erstarrten Konservativismus der Gewohnheiten, seinen Geschmack am Neinsagen zu. Aus derselben Haltung heraus wiederum ist ihm das Paradieren der "weiblichen Stadt" Paris zuwider mit ihrem "fast unerträglichen hugoschen Mißbrauch der Gebärde und des Wortes". Bei aller Aura der Streitlust habe sie im Konflikt selten brilliert und im Unterschied zu Moskau 1812, zu London 1940, Leningrad 1941, Warschau 1943 sich nie zum Wahrzeichen nationaler Entschlossenheit durchringen können, sondern immer nur zum Symbol innerer Selbstzerfleischung. Überhaupt habe Frankreich in den letzten dreihundert Jahren die natürlichen Neigungswinkel des Geschichtsverlaufs nur ungeschickt zu nutzen gewußt und unter gewaltigem Kraftaufwand meist mäßige Ergebnisse hervorgebracht. Sarkastisch zieht Gracq über Figuren wie Louis Napoléon her, der wie im Wahn immer wieder die Rückkehr seines großen Onkels aus Elba imitierte: Oft hätte man ihn mit einem zahmen Adler auf der Schulter in Straßburg oder Boulogne an der Landesgrenze auftauchen und wie der Kuckuck in der Kuckucksuhr das Türchen aufstoßen sehen.
Die Eintragungen verraten jedoch unterschiedliche Qualität, und gern hätte man ein Drittel davon hingegeben für eine straffere Auswahl. Aufschlußreich sind gewisse autobiographische Erhellungen, etwa zum Verhältnis mit André Breton und dem Surrealismus. Mit Bretons "Nadja" und Max Ernsts Collagenbuch "La femme 100 têtes" habe sich ihm eine "Terra incognita der Sinnlichkeit" aufgetan. Nie habe jedoch der sonst so herrschsüchtige Breton, mit dem Gracq seit 1939 verkehrte, ihn auf die Regeln der surrealistischen Bewegung zu verpflichten gesucht. Mit Ernst Jünger geht der Blick auch nach Deutschland. Dichtung und Wahrheit geraten da aber mitunter schräg durcheinander. Gracq bemerkt Jüngers Gleichgültigkeit gegenüber dieser "Art von deutschsprachigem Holland, zu dem die Bundesrepublik des WELFARE STATE geworden ist", notiert aber gleichzeitig bei Jüngers Geburtstagsessen auf dem württembergischen Schloß Solitude, "nichts könnte deutscher sein als dieses Abendessen im Walde mit seinem musikalischen Präludium, zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt" - mehr als überall sonst sei die Tafel in diesem Land unmittelbar neben den Vorratskammern an Wildbret gedeckt.
Das ist das Risiko dieser Aufzeichnungen: Dichtung läuft mit der Wahrheit davon, ganz eingestandenermaßen etwa in den einsamen Landstrichen Ostpreußens, "einer meiner auserwählten Landschaften unter all jenen, die ich nie besucht habe": grenzenlose Vorratskammer an Ruhe, chlorophyllen Gerüchen und reglosen Wassern unter schweren Sommerwolken des baltischen Himmels. Im schlanken französischen Original liest sich das immerhin leichter als in der Übersetzung, so sorgfältig und korrekt diese im allgemeinen auch sein mag. Der deutsche Relativsatz ist nun einmal zäher als die französische Partizipialkonstruktion. Etwas mehr Sinn- und weniger Buchstabentreue wäre manchmal besser gewesen. Es ist mitunter, als äße man zu einem edel gekelterten Wein grobkörniges Pumpernickelbrot. Gerade in diesen verschiedenen Verarbeitungsgraden sieht Gracq aber Schwellen der Geistigkeit: Selbst die christliche Eucharistie wäre ohne die Erfindung des Weinbaus ganz anders ausgefallen - "stellen wir uns bloß Leonardo da Vinci vor, wie er eine Fassung der ,Kartoffelesser' von van Gogh auf die Wand des Mailänder Refektoriums malt". Ganz so heiß wird freilich auch in diesem Alterswerk Julien Gracqs nicht immer gegessen.
Julien Gracq: "Der große Weg". Tagebuch eines Wanderers. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 296 S., geb., 45,- DM.
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Der Landschaftsschreiber Julien Gracq · Von Joseph Hanimann
Der wohl größte französische Gegenwartsautor hat seine Literatur stets geistig erwandert. Seine Sätze und Bilder sind plastische Landschaften, die er schreibend streifte, umkreiste, erklomm, durchquerte - der Wald unter Schloß Argol, der Küstenstreifen im "Ufer der Syrten", bis zu den sieben Hügeln Roms im vorletzten Buch. Mit dem "Tagebuch eines Wanderers", das als "Carnets du grand chemin" 1992 in Frankreich erschien, hat er nun weite Teile seiner Empfindungstopographie offengelegt. Diese Aufzeichnungen mit Wegstücken von den leeren Basaltflächen des Zentralmassivs zum Kuhglockengrün der Voralpen, von der nebligen Geschichtslandschaft der Ardennen zur Stadtgeographie Londons, Amsterdams oder Triests sind frei gebliebene Geländeparzellen für ungeschriebene Bücher des sechsundachtzigjährigen Julien Gracq.
Ein gutes Dutzend Titel über ein knappes Jahrhundert: Das Werk dieses diskreten Altmeisters der modesicheren französischen Gegenwartsliteratur - diskreter noch als Julien Green oder Nathalie Sarraute - trägt das Signum der Rarität. Seit seiner Komplizenschaft mit André Breton, seiner zurückhaltenden Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei und dem ausgeschlagenen Goncourt-Preis 1951 gehört Gracq zu jener Gattung Schriftsteller, welche die politischen und künstlerischen Ereignisse des Jahrhunderts unverändert durchliefen wie die Diamantnadel ihre Rille. Das Alterswerk dieses unzeitgemäßen Zeitzeugen erinnert in manchem an das seines Freundes Ernst Jünger. Wo dieser aber kräftig in die Begriffsbilder faßt, hantiert jener mit kunstvoll spröden Sinnbildern und sammelt anstatt Insekten bloß Wasserkrausen und Winde.
Nie ist es so offensichtlich geworden wie in diesen über sechzig Jahre hinweg entstandenen Aufzeichnungen: Die Landschaften, in denen Gracq oder seine Figuren sich bewegen, werden nicht reflektierend erfaßt, verarbeitet, bewältigt, sondern vom Blick nur gestreift. Gracqs Raumwahrnehmung ist eine rein visuelle: kaum Gerüche oder Geschmackseindrücke und schon gar kein taktiles Anfassen. Selbst vom Gemüsegarten unterm Arbeitszimmer steigen anstatt wirklicher bereits verbal vermittelte Geschmacksempfindungen auf wie im fleischig, erdig, nächtlich wohlriechenden Wort "légumes" - "einem der ausdrucksvollsten der französischen Sprache". Gracqs landschaftliche Inspirationserwartung ist zu groß, als daß man da einfach hinlangen könnte. Manchmal genügen sogar Fotos, wie beim Betrachten der Klischees von tausendjährigen kalifornischen Mammutbäumen. André Bretons Vorliebe für die natürlichen Miniaturen der Kristalle, Schmetterlinge, Muscheln oder die in Jüngers "Subtile Jagden" geschilderten Reize könne er wohl verstehen, notiert der Autor; ihn aber fasziniere das "unendlich Große" wie der Gipfel des Montblanc, von Sallanche aus gesehen.
Mit der vorromantischen Erfahrung des Erhabenen hat Gracqs Landschaftsästhetik allerdings nichts zu tun. Er betreibt das Genre der Landschaftsschreiberei wie andere seit fünfhundert Jahren die Landschaftsmalerei. Die beschriebenen Landstriche sind Grundlage für kosmologische Spekulationen, zeitgeschichtliche Zeugenschaften, Auslöser für literarische Reminiszenzen und immer wieder Empfindungsstenogramme eines Weggefährten der Langsamkeit. Das "unendlich Große" kann mitunter auch im Kleinen aufscheinen, wenn etwa beim Verlassen des südwestfranzösischen Auch im Rückspiegel das Städtchen in einer Bodenfalte verschwindet und Kathedrale und gräfliche Tour d'Armagnac am Hügel schweben, mit derselben Emblematik, "welche die Stadtsilhouette aus einem Stundenbuch, die eindrucksvolle Einfachheit einer Wappenfigur ausstrahlt".
Die Welt wird zum Spektrum solcher Stundenbuch- und Wappenbilder, in denen geographische, geologische, mythologische, historische, politische, autobiographische Motive sich verdichten. Die alterslose Auvergne mit ihrem grauen Vulkangestein, als wäre ein Stück Mond mitten ins Herz Frankreichs gefallen, begrüßt der Autor als eines seiner "Neben-Vaterländer". Die bei der Trennung der Elemente vergessene Moorlandschaft um den Lac de Grandlieu dagegen döst in der wehmütigen Unentschiedenheit zwischen Fischfang und Ackerbau. Die Semois in den Ardennen, wo am 11. Mai 1940 die ersten deutschen Soldaten aus dem Schutz der Bäume traten, läßt Erinnerungen an Claudels Gedicht "Düsterer Mai" und Rimbauds "Johannisbeerstrom" aufsteigen. An solchen "Kreuzungswegen zwischen Poesie, Geographie und Geschichte" erwachen beim Schreiben Themen "in der Art der großen Orgeln: weil bei ihnen verschiedene Manuale übereinanderliegen".
Selbst die autobiographischen Erinnerungsmotive, politischen Rückbesinnungen und kulturphilosophischen Betrachtungen, zu denen Gracq im zweiten Teil der Aufzeichnungen übergeht, werden oft landschaftlich aufgelöst. Die ersten Kontakte zur kommunistischen Partei am Ende der Zwischenkriegszeit knüpfte er inmitten der Fischer eines bretonischen Landzipfels, die auf der "Joseph Stalin", der "Gnade Gottes" oder der "Oktoberlicht" das Jahr über den Golf der Gascogne befuhren. Der Gedanke der Revolution war ihnen fremd, und dem Kommunismus huldigten sie so wie die Frauen dem Katholizismus, grob sentimental und fetischistisch. Schon der junge Genosse Gracq war damals empfänglich für jene theorieferne provinzielle Sprödigkeit, die er später so meisterhaft schliff und veredelte.
Seiner Herkunft fehle die Mischung, notiert er. Seit sechs Generationen lägen Geburts- und Grabstätten seiner Ahnen in einem Umkreis von acht Kilometern in jener Vendée, deren Bewohner vor allem darauf aus seien, zu erwerben, zu erben, zu bewahren. Dem schreibt er auch sein häusliches Mißtrauen gegen Unbekannte, seinen erstarrten Konservativismus der Gewohnheiten, seinen Geschmack am Neinsagen zu. Aus derselben Haltung heraus wiederum ist ihm das Paradieren der "weiblichen Stadt" Paris zuwider mit ihrem "fast unerträglichen hugoschen Mißbrauch der Gebärde und des Wortes". Bei aller Aura der Streitlust habe sie im Konflikt selten brilliert und im Unterschied zu Moskau 1812, zu London 1940, Leningrad 1941, Warschau 1943 sich nie zum Wahrzeichen nationaler Entschlossenheit durchringen können, sondern immer nur zum Symbol innerer Selbstzerfleischung. Überhaupt habe Frankreich in den letzten dreihundert Jahren die natürlichen Neigungswinkel des Geschichtsverlaufs nur ungeschickt zu nutzen gewußt und unter gewaltigem Kraftaufwand meist mäßige Ergebnisse hervorgebracht. Sarkastisch zieht Gracq über Figuren wie Louis Napoléon her, der wie im Wahn immer wieder die Rückkehr seines großen Onkels aus Elba imitierte: Oft hätte man ihn mit einem zahmen Adler auf der Schulter in Straßburg oder Boulogne an der Landesgrenze auftauchen und wie der Kuckuck in der Kuckucksuhr das Türchen aufstoßen sehen.
Die Eintragungen verraten jedoch unterschiedliche Qualität, und gern hätte man ein Drittel davon hingegeben für eine straffere Auswahl. Aufschlußreich sind gewisse autobiographische Erhellungen, etwa zum Verhältnis mit André Breton und dem Surrealismus. Mit Bretons "Nadja" und Max Ernsts Collagenbuch "La femme 100 têtes" habe sich ihm eine "Terra incognita der Sinnlichkeit" aufgetan. Nie habe jedoch der sonst so herrschsüchtige Breton, mit dem Gracq seit 1939 verkehrte, ihn auf die Regeln der surrealistischen Bewegung zu verpflichten gesucht. Mit Ernst Jünger geht der Blick auch nach Deutschland. Dichtung und Wahrheit geraten da aber mitunter schräg durcheinander. Gracq bemerkt Jüngers Gleichgültigkeit gegenüber dieser "Art von deutschsprachigem Holland, zu dem die Bundesrepublik des WELFARE STATE geworden ist", notiert aber gleichzeitig bei Jüngers Geburtstagsessen auf dem württembergischen Schloß Solitude, "nichts könnte deutscher sein als dieses Abendessen im Walde mit seinem musikalischen Präludium, zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt" - mehr als überall sonst sei die Tafel in diesem Land unmittelbar neben den Vorratskammern an Wildbret gedeckt.
Das ist das Risiko dieser Aufzeichnungen: Dichtung läuft mit der Wahrheit davon, ganz eingestandenermaßen etwa in den einsamen Landstrichen Ostpreußens, "einer meiner auserwählten Landschaften unter all jenen, die ich nie besucht habe": grenzenlose Vorratskammer an Ruhe, chlorophyllen Gerüchen und reglosen Wassern unter schweren Sommerwolken des baltischen Himmels. Im schlanken französischen Original liest sich das immerhin leichter als in der Übersetzung, so sorgfältig und korrekt diese im allgemeinen auch sein mag. Der deutsche Relativsatz ist nun einmal zäher als die französische Partizipialkonstruktion. Etwas mehr Sinn- und weniger Buchstabentreue wäre manchmal besser gewesen. Es ist mitunter, als äße man zu einem edel gekelterten Wein grobkörniges Pumpernickelbrot. Gerade in diesen verschiedenen Verarbeitungsgraden sieht Gracq aber Schwellen der Geistigkeit: Selbst die christliche Eucharistie wäre ohne die Erfindung des Weinbaus ganz anders ausgefallen - "stellen wir uns bloß Leonardo da Vinci vor, wie er eine Fassung der ,Kartoffelesser' von van Gogh auf die Wand des Mailänder Refektoriums malt". Ganz so heiß wird freilich auch in diesem Alterswerk Julien Gracqs nicht immer gegessen.
Julien Gracq: "Der große Weg". Tagebuch eines Wanderers. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 296 S., geb., 45,- DM.
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"Ein literarisches Lebenswerk, das den bedeutendsten dieses Jahrhunderts zugeschlagen werden muß." (Die Welt)