Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?Ein reicher Stockholmer Vorort in den Sechzigerjahren: Laurits liebt das Spielen mit seinem besten Freund, das Schwimmen und Tauchen am Sommerhäuschen und vor allem die Klavierstunden bei Fräulein Andersson. Überall fühlt er sich wohler als in Gegenwart seiner überspannten Mutter und des dominanten Vaters, der für seinen Sohn eine Zukunft als Mediziner vorsieht. Doch als Laurits 18 wird, ist eine Karriere als Konzertpianist zum Greifen nah, und er spielt um sein Leben. Dann kommt alles anders als gedacht; Laurits findet seine Bestimmung als Arzt - und mit seiner großen Liebe Silja und der gemeinsamen Tochter Liis das Glück. Bis er Jahre später bei einem Familienfest erfahren muss, dass sein Leben auf Sand gebaut ist. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung.'Der Grund' erzählt die Geschichte eines Mannes, der immer wieder gezwungen ist, sich neu zu erfinden - und entwickelt dabei einen atmosphärischen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit allen Sinnen erlebt man zusammen mit Laurits Licht und Schatten im großbürgerlichen Elternhaus zwischen Pflichterfüllung und Freiheitsdrang und begleitet ihn auf seiner Suche nach Aussöhnung, die ihn um die ganze Welt führt.'Ich habe mich in dieses Buch verliebt: Je näher ich ihm gekommen bin, desto ehrlicher hat es zurückgeschaut. Wunderbar!' Heikko Deutschmann
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2014Er will sich das Herz rausreißen
Von der Zerbrechlichkeit des Lebens: Anne von Canal erzählt in ihrem Roman "Der Grund" von der Trauer der "Estonia"-Angehörigen
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich mit der "Estonia" zu befassen, die in den baltischen Aufbruchsjahren im Linienverkehr zwischen Schweden und Estland unterwegs war, bevor sie am 28. September 1994 auf halber Strecke in der Ostsee versank. Die erste läuft auf einen Thriller hinaus, auf eine nach den Verantwortlichen suchende Story, die aufgreift, was an Verschwörungstheorien im Raum schwebt. Das ist reizvoll, geht aber schnell in die Binsen, wie 2003 der Spielfilm "Baltic Storm" nach Ideen von Jutta Rabe gezeigt hat.
Die zweite ist nicht minder riskant. Sie macht eine Geschichte zum papierenen Denkmal für die Opfer. Und läuft dabei Gefahr, die Ostsee in ein Tränenmeer zu verwandeln, in dem der Leser für ein paar Euro herumplanschen darf.
Anne von Canal hat zum Gedenken an die Katastrophe vor zwanzig Jahren Variante zwei gewählt - und alles richtig gemacht. Natürlich kommt man auch bei ihr um ein paar Tränen nicht herum. Am Ende ihres Romans "Der Grund" aber werden wir bloß am Leuchtturm von Tahkuna stehen und die Totenglocke läuten, die man dort aufgehängt hat. Die Autorin hat einen sehr respektvollen Weg gefunden, an das Unglück mit seinen 852 Toten und die Trauer der Familien zu erinnern.
Vielleicht ist das Kernelement ihres Buchs, die Geschichte eines unglücklichen Pianisten, zu bürgerlich-brav - und was gibt es mittlerweile nicht alles an Musikern in der Literatur mit Skandinavien-Bezug, von Ketil Bjørnstads jungem Pianisten Aksel Vinding bis zum alten Orgelbauer Johannes Thomasson, dessen Frau in Robert Asbackas preisgekröntem "Das zerbrechliche Leben" an Bord der "Estonia" starb. "Der Grund" aber liest sich so flüssig herunter, dass man in die warme Kulissen-Ausleuchtung bereitwillig eintaucht. Und dass die Hauptfigur Victor Alexander Laurentius Simonsen Pianist an Bord eines Schiffs ist, ist eben auch Hommage: an Asbacka und Erik Fosnes Hansens "Titanic"-Roman "Choral am Ende der Reise". Die Autorin weiß, was sie tut. Sie ist Skandinavistin, war lange im Lektorat namhafter Verlage tätig, und als Übersetzerin einer Bestseller-Autorin kennt man sie auch.
Die eigentlichen "Estonia"-Passagen beschränkt sie auf einen sehr knappen, kaum drei Seiten kurzen impressionistischen Abschnitt. Stattdessen verfrachtet sie uns auf ein anderes Boot in einem anderen Meer, auf ein Kreuzfahrtschiff, das im August 2005, elf Jahre nach den Ereignissen in der Ostsee also, die Lagune von Venedig in Richtung Gibraltar und Dover verlässt: "Rosa hat alles kaputtgemacht. Und ich verstehe einfach nicht, warum."Der Verzweifelte, aus dessen Warte die mit Positionsangaben versehenen Logbuch-Passagen des Buchs erzählt sind, erweist sich nach wenigen Zeilen als gebrochener, sich nächtens in der Kabine wie in einem selbstgewählten Gefängnis verkriechender Mann: "Am liebsten möchte ich mir das Herz rausreißen." Wobei man ahnt, dass seine Trauer mit einem Kind zusammenhängt. Denn dass Rosa ein Kind erwartet, empört ihn. Das Leben empört ihn. Er wird von einem Jungen mit Kappe verfolgt.
Trotzdem bleibt lange offen, welche Rolle diesem Laurits an jenem Tag im Herbst 1994 zugedacht war, an dem die "Estonia" vor dem Südwesten Finnlands versank. War er damals an Bord? Bevor sie das enthüllt, blättert Anne von Canal in das Schweden der siebziger Jahre zurück, in dem Laurits als fleißig Klavierstunden absolvierender Arztsohn aufwuchs. In Vaters Arbeitszimmer schwamm ein Auge Stalins in einem Glas.
In dieser Welt, die schon vor der Sache mit der "Estonia" nicht so heil war, wie sie erscheinen wollte, spielen sich die Abendessen wie Theaterszenen ab. Da trifft Laurits auf Silja, deren Eltern im Kriegsherbst 1944 aus der estnischen Hafenstadt Pärnu geflohen waren. Die einen haben eine "unstillbare Sehnsucht" nach der Heimat jenseits der See. Der andere sucht erfolglos nach einem Notausgang, je weiter er sich im Leben verläuft.
Viel größer ist das Setting von "Der Grund" nicht. Viel lauter wird es auch nicht. Mit Feingespür für die historisch-kulturelle Verortung über Details und herausgeputzten Sätzen erzählt Anne von Canal einfach eine kleine zurückhaltende Geschichte, in der sich beide Länder spiegeln dürfen, zwischen denen die "Estonia" unterwegs war. Sie verdrängt keine der tausend echten Geschichten, die im Herbst 1994 zusammenfanden. Nur 137 Menschen überlebten, was im Sturm damals geschah.
MATTHIAS HANNEMANN.
Anne von Canal: "Der Grund". Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2014. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Zerbrechlichkeit des Lebens: Anne von Canal erzählt in ihrem Roman "Der Grund" von der Trauer der "Estonia"-Angehörigen
Es gibt zwei Möglichkeiten, sich mit der "Estonia" zu befassen, die in den baltischen Aufbruchsjahren im Linienverkehr zwischen Schweden und Estland unterwegs war, bevor sie am 28. September 1994 auf halber Strecke in der Ostsee versank. Die erste läuft auf einen Thriller hinaus, auf eine nach den Verantwortlichen suchende Story, die aufgreift, was an Verschwörungstheorien im Raum schwebt. Das ist reizvoll, geht aber schnell in die Binsen, wie 2003 der Spielfilm "Baltic Storm" nach Ideen von Jutta Rabe gezeigt hat.
Die zweite ist nicht minder riskant. Sie macht eine Geschichte zum papierenen Denkmal für die Opfer. Und läuft dabei Gefahr, die Ostsee in ein Tränenmeer zu verwandeln, in dem der Leser für ein paar Euro herumplanschen darf.
Anne von Canal hat zum Gedenken an die Katastrophe vor zwanzig Jahren Variante zwei gewählt - und alles richtig gemacht. Natürlich kommt man auch bei ihr um ein paar Tränen nicht herum. Am Ende ihres Romans "Der Grund" aber werden wir bloß am Leuchtturm von Tahkuna stehen und die Totenglocke läuten, die man dort aufgehängt hat. Die Autorin hat einen sehr respektvollen Weg gefunden, an das Unglück mit seinen 852 Toten und die Trauer der Familien zu erinnern.
Vielleicht ist das Kernelement ihres Buchs, die Geschichte eines unglücklichen Pianisten, zu bürgerlich-brav - und was gibt es mittlerweile nicht alles an Musikern in der Literatur mit Skandinavien-Bezug, von Ketil Bjørnstads jungem Pianisten Aksel Vinding bis zum alten Orgelbauer Johannes Thomasson, dessen Frau in Robert Asbackas preisgekröntem "Das zerbrechliche Leben" an Bord der "Estonia" starb. "Der Grund" aber liest sich so flüssig herunter, dass man in die warme Kulissen-Ausleuchtung bereitwillig eintaucht. Und dass die Hauptfigur Victor Alexander Laurentius Simonsen Pianist an Bord eines Schiffs ist, ist eben auch Hommage: an Asbacka und Erik Fosnes Hansens "Titanic"-Roman "Choral am Ende der Reise". Die Autorin weiß, was sie tut. Sie ist Skandinavistin, war lange im Lektorat namhafter Verlage tätig, und als Übersetzerin einer Bestseller-Autorin kennt man sie auch.
Die eigentlichen "Estonia"-Passagen beschränkt sie auf einen sehr knappen, kaum drei Seiten kurzen impressionistischen Abschnitt. Stattdessen verfrachtet sie uns auf ein anderes Boot in einem anderen Meer, auf ein Kreuzfahrtschiff, das im August 2005, elf Jahre nach den Ereignissen in der Ostsee also, die Lagune von Venedig in Richtung Gibraltar und Dover verlässt: "Rosa hat alles kaputtgemacht. Und ich verstehe einfach nicht, warum."Der Verzweifelte, aus dessen Warte die mit Positionsangaben versehenen Logbuch-Passagen des Buchs erzählt sind, erweist sich nach wenigen Zeilen als gebrochener, sich nächtens in der Kabine wie in einem selbstgewählten Gefängnis verkriechender Mann: "Am liebsten möchte ich mir das Herz rausreißen." Wobei man ahnt, dass seine Trauer mit einem Kind zusammenhängt. Denn dass Rosa ein Kind erwartet, empört ihn. Das Leben empört ihn. Er wird von einem Jungen mit Kappe verfolgt.
Trotzdem bleibt lange offen, welche Rolle diesem Laurits an jenem Tag im Herbst 1994 zugedacht war, an dem die "Estonia" vor dem Südwesten Finnlands versank. War er damals an Bord? Bevor sie das enthüllt, blättert Anne von Canal in das Schweden der siebziger Jahre zurück, in dem Laurits als fleißig Klavierstunden absolvierender Arztsohn aufwuchs. In Vaters Arbeitszimmer schwamm ein Auge Stalins in einem Glas.
In dieser Welt, die schon vor der Sache mit der "Estonia" nicht so heil war, wie sie erscheinen wollte, spielen sich die Abendessen wie Theaterszenen ab. Da trifft Laurits auf Silja, deren Eltern im Kriegsherbst 1944 aus der estnischen Hafenstadt Pärnu geflohen waren. Die einen haben eine "unstillbare Sehnsucht" nach der Heimat jenseits der See. Der andere sucht erfolglos nach einem Notausgang, je weiter er sich im Leben verläuft.
Viel größer ist das Setting von "Der Grund" nicht. Viel lauter wird es auch nicht. Mit Feingespür für die historisch-kulturelle Verortung über Details und herausgeputzten Sätzen erzählt Anne von Canal einfach eine kleine zurückhaltende Geschichte, in der sich beide Länder spiegeln dürfen, zwischen denen die "Estonia" unterwegs war. Sie verdrängt keine der tausend echten Geschichten, die im Herbst 1994 zusammenfanden. Nur 137 Menschen überlebten, was im Sturm damals geschah.
MATTHIAS HANNEMANN.
Anne von Canal: "Der Grund". Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2014. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nur Gutes lässt Kristina Maidt-Zinke über diesen Roman verlauten, den sie in der Kategorie anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur durchaus empfiehlt. Anne von Canal - der Name klingt wie ein Pseudonym, ist aber echt, weiß die Rezensentin - erzählt die Geschichte eines Frauenarztes aus wohlhabendem, aber übelmeindem Stockholmer Hause, der mit dem Unglück der Ostseefähre Estonia einen schweren Schicksalsschlag erleidet, und der nun als Pianist auf seinem Kreuzfahrtschiff sein von "Irrtümern und Schuldgefühlen überschattetes Leben" fristet. Man merkt: Musik, Arzt, Liebe, die weite Welt - alles ist drin in diesem "dezidiert maritimen" Buch, das die Rezensentin allerdings auch mit Aromen von "Waldesduft" und einige Stilblüten beglückte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2014Katastrophen
am Klavier
„Am Grund“, ein Kreuzfahrt-
Roman von Anne von Canal
Die Costa Concordia ist geborgen, ihr Schiffbruch liegt zwei Jahre zurück, und es darf darauf gewettet werden, dass spätestens in drei Jahren der erste Roman erscheint, der das Unglück zum Thema macht: Die Magie der runden, neuerdings auch halbrunden Gedenkdaten scheint im Literaturbetrieb eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Der Untergang der Ostseefähre Estonia, mit 852 Toten die schwerste Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegsgeschichte, ereignete sich vor 20 Jahren und ist schon verschiedentlich filmisch und literarisch verarbeitet worden, im deutschsprachigen Raum allerdings nur in Form eines leicht dubiosen Thrillers. Mehr Tiefgang hat das Prosadebüt der Autorin Anne von Canal, deren Name verdächtig gut zum Mare-Verlag passt, sich aber der Heirat mit einem Moselwinzer verdankt.
Es geht im Roman „Der Grund“ nicht, wie man erwarten könnte, um die ungeklärten Hintergründe des Estonia-Dramas und die Verschwörungstheorien, die sich um das nie geborgene Wrack ranken – die Boulevard-Frage „Liegt die Wahrheit auf dem Meeresgrund?“ führt in diesem Fall in die Irre. Der Roman der studierten Skandinavistin Anne von Canal handelt von einer – frei erfundenen – schwedisch-estnischen Familie, die durch die Schiffstragödie betroffen ist und an diesem Schicksalsschlag zerbricht.
Im Zentrum steht der aus Stockholm stammende Mittvierziger und Ex-Gynäkologe Laurits Simonsen, der als Bordpianist auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, sein von Irrtümern und Schuldgefühlen überschattetes Leben an sich vorüberziehen lässt und versucht, seinen widersprüchlichen Erfahrungen, Entscheidungen und Empfindungen auf den Grund zu kommen.
In verschachtelten Rückblenden und mit gutem Gespür für Atmosphärisches erzählt die Autorin von der Kindheit und Jugend des Arztsohns im großbürgerlichen Stockholmer Milieu und von den Anfängen einer Pianistenkarriere, die der dominante, musikfeindliche Vater durch eine Intrige auf die Medizinerlaufbahn umlenkt. Das jedoch erfährt Laurits Simonsen, inzwischen erfolgreicher Frauenarzt, glücklich mit einer Estlandschwedin verheiratet und Vater einer abgöttisch geliebten Tochter, erst bei einer Familienfeier im Stockholmer „Operakällaren“. Entsetzt über die eigene Blindheit, entschließt er sich zum Bruch mit den Eltern und zu einem Neuanfang in Tallinn. Zwei Jahre später, nach dem Untergang der Estonia, steht er abermals vor den Trümmern seiner Existenz, und diesmal schreibt er – so irrational wie nachvollziehbar – sich selbst die Verantwortung zu.
Von nun an ist er ziel- und heimatlos auf den Meeren unterwegs, eine Art Fliegender Holländer am Klavier, der gerade rechtzeitig entdeckt hat, dass ihm die Musik von Michael Nyman eigentlich viel mehr liegt als Beethoven, Schubert und Chopin, den seine depressive Verfassung jedoch immer wieder zum ungezügelten Konsum von Whisky, Rohypnol und käuflichen Frauen verleitet.
Am Ende darf der Leser hoffen, dass ausgerechnet Venedig für den unglücklichen Helden zur neuen Heimat werden könnte, hat er dort doch eine Floristin namens Rosa geschwängert, sich aber fürs Erste aus der Affäre gezogen – mit dem lakonischen Kommentar: „Dabei mag ich diese Stadt.“ So sind sie, die Skandinavier. Und kein Wort zum brisanten Öko-Thema „Kreuzfahrtschiffe in der Lagune“, das der Schwede von seinem schwimmenden Arbeitsplatz aus doch wenigstens kurz hätte kommentieren können.
Nun ist es aber ohnehin nicht gerade wenig, was Anne von Canal in ihrem dezidiert maritimen, stellenweise auch mit Waldesduft aromatisierten Erstling unterbringt: den Musiker- und den Arztroman, den Familien- und den Liebesroman, den Reise- und den Katastrophenroman, und das Ganze als ein Schweden-Epos aus deutscher Feder, das nebenbei noch Probleme im schwedisch-estnischen Verhältnis thematisiert. Dass das Buch keine schwere Schlagseite bekommen hat, liegt vor allem daran, dass sie sich andererseits auf die Kunst des Weglassens versteht. So ist ein Stück Unterhaltungsliteratur der anspruchsvolleren Art dabei herausgekommen, das durchaus zu fesseln und zu bewegen vermag und dabei sprachlich angenehm dezent bleibt.
Umso hartnäckiger hat sich eine singuläre Stilblüte in der Erinnerung festgesetzt. Als Laurits Simonsen in der Schicksalsnacht am Piano sitzt und seine Frau Silja plötzlich, nur mit einem kurzen Unterhemd bekleidet, im Türrahmen steht, heißt es: „ . . . und ihre Scham, ein schmal rasierter Streifen krauser dunkelblonder Haare, guckte ihm kurz unter Augenhöhe unbedarft entgegen.“ Dank sei dem Lektor, der das übersah, denn wo so ernste Dinge verhandelt werden wie Schuld, Verlust und namenlose Trauer, kann selbst das unfreiwillig Komische noch Balsam für die Seele sein.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Anne von Canal: Der Grund. Roman. Mare Verlag,
Hamburg 2014. 272 Seiten,
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
am Klavier
„Am Grund“, ein Kreuzfahrt-
Roman von Anne von Canal
Die Costa Concordia ist geborgen, ihr Schiffbruch liegt zwei Jahre zurück, und es darf darauf gewettet werden, dass spätestens in drei Jahren der erste Roman erscheint, der das Unglück zum Thema macht: Die Magie der runden, neuerdings auch halbrunden Gedenkdaten scheint im Literaturbetrieb eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Der Untergang der Ostseefähre Estonia, mit 852 Toten die schwerste Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegsgeschichte, ereignete sich vor 20 Jahren und ist schon verschiedentlich filmisch und literarisch verarbeitet worden, im deutschsprachigen Raum allerdings nur in Form eines leicht dubiosen Thrillers. Mehr Tiefgang hat das Prosadebüt der Autorin Anne von Canal, deren Name verdächtig gut zum Mare-Verlag passt, sich aber der Heirat mit einem Moselwinzer verdankt.
Es geht im Roman „Der Grund“ nicht, wie man erwarten könnte, um die ungeklärten Hintergründe des Estonia-Dramas und die Verschwörungstheorien, die sich um das nie geborgene Wrack ranken – die Boulevard-Frage „Liegt die Wahrheit auf dem Meeresgrund?“ führt in diesem Fall in die Irre. Der Roman der studierten Skandinavistin Anne von Canal handelt von einer – frei erfundenen – schwedisch-estnischen Familie, die durch die Schiffstragödie betroffen ist und an diesem Schicksalsschlag zerbricht.
Im Zentrum steht der aus Stockholm stammende Mittvierziger und Ex-Gynäkologe Laurits Simonsen, der als Bordpianist auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet, sein von Irrtümern und Schuldgefühlen überschattetes Leben an sich vorüberziehen lässt und versucht, seinen widersprüchlichen Erfahrungen, Entscheidungen und Empfindungen auf den Grund zu kommen.
In verschachtelten Rückblenden und mit gutem Gespür für Atmosphärisches erzählt die Autorin von der Kindheit und Jugend des Arztsohns im großbürgerlichen Stockholmer Milieu und von den Anfängen einer Pianistenkarriere, die der dominante, musikfeindliche Vater durch eine Intrige auf die Medizinerlaufbahn umlenkt. Das jedoch erfährt Laurits Simonsen, inzwischen erfolgreicher Frauenarzt, glücklich mit einer Estlandschwedin verheiratet und Vater einer abgöttisch geliebten Tochter, erst bei einer Familienfeier im Stockholmer „Operakällaren“. Entsetzt über die eigene Blindheit, entschließt er sich zum Bruch mit den Eltern und zu einem Neuanfang in Tallinn. Zwei Jahre später, nach dem Untergang der Estonia, steht er abermals vor den Trümmern seiner Existenz, und diesmal schreibt er – so irrational wie nachvollziehbar – sich selbst die Verantwortung zu.
Von nun an ist er ziel- und heimatlos auf den Meeren unterwegs, eine Art Fliegender Holländer am Klavier, der gerade rechtzeitig entdeckt hat, dass ihm die Musik von Michael Nyman eigentlich viel mehr liegt als Beethoven, Schubert und Chopin, den seine depressive Verfassung jedoch immer wieder zum ungezügelten Konsum von Whisky, Rohypnol und käuflichen Frauen verleitet.
Am Ende darf der Leser hoffen, dass ausgerechnet Venedig für den unglücklichen Helden zur neuen Heimat werden könnte, hat er dort doch eine Floristin namens Rosa geschwängert, sich aber fürs Erste aus der Affäre gezogen – mit dem lakonischen Kommentar: „Dabei mag ich diese Stadt.“ So sind sie, die Skandinavier. Und kein Wort zum brisanten Öko-Thema „Kreuzfahrtschiffe in der Lagune“, das der Schwede von seinem schwimmenden Arbeitsplatz aus doch wenigstens kurz hätte kommentieren können.
Nun ist es aber ohnehin nicht gerade wenig, was Anne von Canal in ihrem dezidiert maritimen, stellenweise auch mit Waldesduft aromatisierten Erstling unterbringt: den Musiker- und den Arztroman, den Familien- und den Liebesroman, den Reise- und den Katastrophenroman, und das Ganze als ein Schweden-Epos aus deutscher Feder, das nebenbei noch Probleme im schwedisch-estnischen Verhältnis thematisiert. Dass das Buch keine schwere Schlagseite bekommen hat, liegt vor allem daran, dass sie sich andererseits auf die Kunst des Weglassens versteht. So ist ein Stück Unterhaltungsliteratur der anspruchsvolleren Art dabei herausgekommen, das durchaus zu fesseln und zu bewegen vermag und dabei sprachlich angenehm dezent bleibt.
Umso hartnäckiger hat sich eine singuläre Stilblüte in der Erinnerung festgesetzt. Als Laurits Simonsen in der Schicksalsnacht am Piano sitzt und seine Frau Silja plötzlich, nur mit einem kurzen Unterhemd bekleidet, im Türrahmen steht, heißt es: „ . . . und ihre Scham, ein schmal rasierter Streifen krauser dunkelblonder Haare, guckte ihm kurz unter Augenhöhe unbedarft entgegen.“ Dank sei dem Lektor, der das übersah, denn wo so ernste Dinge verhandelt werden wie Schuld, Verlust und namenlose Trauer, kann selbst das unfreiwillig Komische noch Balsam für die Seele sein.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Anne von Canal: Der Grund. Roman. Mare Verlag,
Hamburg 2014. 272 Seiten,
19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ich habe mich in dieses Buch verliebt: Je näher ich ihm gekommen bin, desto ehrlicher hat es zurückgeschaut. Wunderbar!" (Heikko Deutschmann)