Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur im deutschen Recht allgegenwärtig; als ungeschriebener Grundsatz hat er auch in verschiedenen Bereichen des Völkerrechts Bedeutung erlangt. Das gilt sowohl für das ius in bello, als auch für das ius ad bellum. Die Forderung nach der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dient dabei vor allem der Begrenzung des Ausmaßes der jeweiligen Gewaltanwendung. Da bislang keine Einigung über die einzelnen Bestandteile des völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erzielt werden konnte, mithin sein Inhalt weitgehend ungeklärt ist, begegnet die rechtliche Würdigung konkreter Handlungen am Maßstab der Verhältnismäßigkeit erheblichen Schwierigkeiten.
Die von der deutschen Rechtswissenschaft in bezug auf den nationalen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz herausgearbeiteten grundsätzlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten kommen auch im völkerrechtlichen Kontext zum Tragen. Vor diesem Hintergrund werden die Grundlagen für eine die Besonderheiten des Völkerrechts berücksichtigende Inhaltsgebung entwickelt. Im Mittelpunkt stehen das Gebot der Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit i.e.S. Es zeigt sich, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Völkerrecht zwar stets ersteres zum Inhalt hat, nicht aber auch die regelmäßig als Verhältnismäßigkeit i.e.S. bezeichnete Angemessenheit. Die ihr anhaftenden Schwächen führen zu der Erkenntnis, daß das Abwägungsgebot außerhalb des Individualrechtsschutzes im Völkerrecht der Gegenwart keinen legitimen Anwendungsbereich haben kann.
Die von der deutschen Rechtswissenschaft in bezug auf den nationalen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz herausgearbeiteten grundsätzlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten kommen auch im völkerrechtlichen Kontext zum Tragen. Vor diesem Hintergrund werden die Grundlagen für eine die Besonderheiten des Völkerrechts berücksichtigende Inhaltsgebung entwickelt. Im Mittelpunkt stehen das Gebot der Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit i.e.S. Es zeigt sich, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Völkerrecht zwar stets ersteres zum Inhalt hat, nicht aber auch die regelmäßig als Verhältnismäßigkeit i.e.S. bezeichnete Angemessenheit. Die ihr anhaftenden Schwächen führen zu der Erkenntnis, daß das Abwägungsgebot außerhalb des Individualrechtsschutzes im Völkerrecht der Gegenwart keinen legitimen Anwendungsbereich haben kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2004Wer Wind sät . . .
Läßt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit präzisieren?
Michael Krugmann: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht. Verlag Duncker&Humblot, Berlin 2004. 136 Seiten, 49,80 [Euro].
Statt der erwarteten Entspannung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben schwere innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo-Konflikt und internationale Terrorakte zu einem vermehrten Einsatz militärischer Gewalt geführt. Michael Krugmann untersucht, ob der vor allem im deutschen Recht entwickelte und inzwischen auch in das europäische Recht eingegangene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hierbei zu berücksichtigen ist. Dieser ist allerdings generell weder vertraglich vereinbart noch als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. In Betracht kommt er nur beim völkerrechtlichen Recht auf Selbstverteidigung der Staaten mit dem Sonderfall der "präventiven Intervention", der humanitären Intervention zum Schutz der Menschenrechte, der Repressalie, den Maßnahmen des Sicherheitsrats zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, bei den humanitären Beschränkungen der Kriegsführung und beim Individualrechtsschutz nach den Menschenrechtspakten. Im einzelnen ergeben sich hierbei allerdings viele Streitfragen nicht nur zur Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern schon zur Reichweite des Gewaltverbotes und des Selbstverteidigungsrechts.
Auf der Suche nach einer Präzisierung gibt Krugmann zunächst einen Überblick über den Ursprung und die Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im deutschen Staatsrecht. Zu unterscheiden sind die Geeignetheit von Maßnahmen, ihre Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, das Abwägungsgebot. Besonders hinsichtlich des letzteren seien bisher kaum inhaltliche Maßstäbe gefunden worden. Ein wichtiges Hilfsmittel sei immerhin die Je-desto-Formel: Je intensiver der Eingriff in eine geschützte Individualrechtsposition wirkt, desto dringlicher muß die Verwirklichung öffentlicher Interessen sein. Wichtig sei auch die Wahrung der grundrechtlichen Mindestpositionen des Bürgers, die sich eng mit dem erforderlichen Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte berühre. Der Autor warnt vor einer Ausweitung des Abwägungsverfahrens zu einer Verwerfung von durch methodengerechte Auslegung erzielten Ergebnissen.
Auch im europäischen Unionsrecht setzt sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer mehr durch, jedenfalls in Gestalt der Erforderlichkeit, während das Abwägungsgebot zurückgedrängt werde. Auf dieser Grundlage kommt Krugmann zur Beurteilung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Völkerrecht. Das Erforderlichkeitsgebot könne nicht wie beim Individualrechtsschutz aus den Menschenrechten hergeleitet werden, sondern nur aus dem allgemeinen Rechtsmißbrauchs- und Schädigungsverbot. Hier seien jedoch die inhaltlichen Anforderungen und die Abgrenzung zu verwandten Grundsätzen umstritten. Eine Begrenzung könne sich nur aus völkerrechtlich verbotenen Zwecken wie den Verboten des Völkermords, der Sklaverei und der Gewalt ergeben; es bedürfe aber nicht mehr der Figur des Rechtsmißbrauchs, da bereits eine allgemeine Rechtsverletzung vorliege. Eine Abwägung sei beim Menschenrechtsschutz vertretbar, nicht aber als allgemeiner völkerrechtlicher Grundsatz.
Anhand des fiktiven Falles, daß ein Staat auf die Blockade seines einzigen Hafens durch einen Nachbarstaat zunächst mit einer Repressalie und nach einem daraufhin vorgenommenen konventionellen Angriff wegen der Umstellung seiner Verteidigung auf eine nukleare Bewaffnung mit einem Atomangriff mit kleinstmöglicher Zerstörungskraft reagiert, legt Krugmann dar, daß das Abwägungsgebot für das Völkerrecht unbrauchbar ist. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten zur Zulässigkeit von Atomwaffentests die Frage der Zulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen weitgehend offengelassen. Die Ächtung des Nuklearwaffeneinsatzes sei auch im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts nicht mit Hilfe der Abwägung erreichbar. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genieße bei seinen Entscheidungen einen weiten Ermessensspielraum, so daß das Abwägungsgebot nur in äußersten Extremfällen als verletzt gelten könne. Vernachlässige der Sicherheitsrat nachhaltig seine Aufgabe, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, so könne unter bestimmten Umständen die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Friedensbrüchen in die Verantwortung der Staaten fallen. Erforderlich seien aber zusätzliche Verfahrenssicherungen bis zur Einbindung der Generalversammlung.
Krugmann hat sich nicht darum bemüht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu präzisieren und zu verfeinern, sondern versucht, durch die Herausarbeitung seiner Unklarheit seine Unbrauchbarkeit aufzuzeigen. Ob er damit zu einer Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots beiträgt, erscheint allerdings fraglich.
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Läßt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit präzisieren?
Michael Krugmann: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht. Verlag Duncker&Humblot, Berlin 2004. 136 Seiten, 49,80 [Euro].
Statt der erwarteten Entspannung nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben schwere innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo-Konflikt und internationale Terrorakte zu einem vermehrten Einsatz militärischer Gewalt geführt. Michael Krugmann untersucht, ob der vor allem im deutschen Recht entwickelte und inzwischen auch in das europäische Recht eingegangene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hierbei zu berücksichtigen ist. Dieser ist allerdings generell weder vertraglich vereinbart noch als Völkergewohnheitsrecht anerkannt. In Betracht kommt er nur beim völkerrechtlichen Recht auf Selbstverteidigung der Staaten mit dem Sonderfall der "präventiven Intervention", der humanitären Intervention zum Schutz der Menschenrechte, der Repressalie, den Maßnahmen des Sicherheitsrats zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, bei den humanitären Beschränkungen der Kriegsführung und beim Individualrechtsschutz nach den Menschenrechtspakten. Im einzelnen ergeben sich hierbei allerdings viele Streitfragen nicht nur zur Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, sondern schon zur Reichweite des Gewaltverbotes und des Selbstverteidigungsrechts.
Auf der Suche nach einer Präzisierung gibt Krugmann zunächst einen Überblick über den Ursprung und die Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im deutschen Staatsrecht. Zu unterscheiden sind die Geeignetheit von Maßnahmen, ihre Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, das Abwägungsgebot. Besonders hinsichtlich des letzteren seien bisher kaum inhaltliche Maßstäbe gefunden worden. Ein wichtiges Hilfsmittel sei immerhin die Je-desto-Formel: Je intensiver der Eingriff in eine geschützte Individualrechtsposition wirkt, desto dringlicher muß die Verwirklichung öffentlicher Interessen sein. Wichtig sei auch die Wahrung der grundrechtlichen Mindestpositionen des Bürgers, die sich eng mit dem erforderlichen Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte berühre. Der Autor warnt vor einer Ausweitung des Abwägungsverfahrens zu einer Verwerfung von durch methodengerechte Auslegung erzielten Ergebnissen.
Auch im europäischen Unionsrecht setzt sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer mehr durch, jedenfalls in Gestalt der Erforderlichkeit, während das Abwägungsgebot zurückgedrängt werde. Auf dieser Grundlage kommt Krugmann zur Beurteilung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Völkerrecht. Das Erforderlichkeitsgebot könne nicht wie beim Individualrechtsschutz aus den Menschenrechten hergeleitet werden, sondern nur aus dem allgemeinen Rechtsmißbrauchs- und Schädigungsverbot. Hier seien jedoch die inhaltlichen Anforderungen und die Abgrenzung zu verwandten Grundsätzen umstritten. Eine Begrenzung könne sich nur aus völkerrechtlich verbotenen Zwecken wie den Verboten des Völkermords, der Sklaverei und der Gewalt ergeben; es bedürfe aber nicht mehr der Figur des Rechtsmißbrauchs, da bereits eine allgemeine Rechtsverletzung vorliege. Eine Abwägung sei beim Menschenrechtsschutz vertretbar, nicht aber als allgemeiner völkerrechtlicher Grundsatz.
Anhand des fiktiven Falles, daß ein Staat auf die Blockade seines einzigen Hafens durch einen Nachbarstaat zunächst mit einer Repressalie und nach einem daraufhin vorgenommenen konventionellen Angriff wegen der Umstellung seiner Verteidigung auf eine nukleare Bewaffnung mit einem Atomangriff mit kleinstmöglicher Zerstörungskraft reagiert, legt Krugmann dar, daß das Abwägungsgebot für das Völkerrecht unbrauchbar ist. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten zur Zulässigkeit von Atomwaffentests die Frage der Zulässigkeit des Einsatzes von Atomwaffen weitgehend offengelassen. Die Ächtung des Nuklearwaffeneinsatzes sei auch im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts nicht mit Hilfe der Abwägung erreichbar. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genieße bei seinen Entscheidungen einen weiten Ermessensspielraum, so daß das Abwägungsgebot nur in äußersten Extremfällen als verletzt gelten könne. Vernachlässige der Sicherheitsrat nachhaltig seine Aufgabe, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, so könne unter bestimmten Umständen die Zuständigkeit für die Bekämpfung von Friedensbrüchen in die Verantwortung der Staaten fallen. Erforderlich seien aber zusätzliche Verfahrenssicherungen bis zur Einbindung der Generalversammlung.
Krugmann hat sich nicht darum bemüht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu präzisieren und zu verfeinern, sondern versucht, durch die Herausarbeitung seiner Unklarheit seine Unbrauchbarkeit aufzuzeigen. Ob er damit zu einer Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots beiträgt, erscheint allerdings fraglich.
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Letztlich nicht zufrieden zeigt sich Rezensent Friedrich-Christian Schroeder mit Michael Krugmanns Untersuchung "Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht". Die Frage nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht scheint Schroeder angesichts des vermehrten Einsatz militärischer Gewalt etwa bei innerstaatlichen Menschenrechtsverletzungen wie im Kosovo-Konflikt von Bedeutung. Krugmann wolle klären, ob der vor allem im deutschen Recht entwickelte und inzwischen auch in das europäische Recht eingegangene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hierbei zu berücksichtigen sei. Nach einem Überblick über den Ursprung und die Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im deutschen Staatsrecht mache sich Krugmann daran, den Grundsatz im Völkerrecht zu beurteilen. Kritisch sieht Schroeder dabei vor allem, dass es Krugmann nicht darum geht, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu präzisieren und zu verfeinern. Stattdessen versuche er, durch die Herausarbeitung seiner Unklarheit seine Unbrauchbarkeit aufzuzeigen. "Ob er damit zu einer Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots beiträgt", resümiert Schroeder, "erscheint allerdings fraglich".
© Perlentaucher Medien GmbH
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