Produktdetails
- Verlag: Berlin Verlag
- Seitenzahl: 362
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 564g
- ISBN-13: 9783827001139
- ISBN-10: 3827001137
- Artikelnr.: 12416020
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2004Erzählte Leben
ALS SCHILLER 1789 seine Antrittsvorlesung in Jena hielt, glaubte er noch, daß "die Tat lebt und weiter eilt", während der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleibt. Heute, da auch Taten oft Schall und Rauch sind, zählt die Biographie zu den beliebtesten Genres. Ein Mann auf der Kippe - so zeigt Rüdiger Safranski Friedrich Schiller. Safranskis Buch ist die Biographie des Jahres, nicht nur, weil das Schiller-Jahr bevorsteht, sondern vor allem, weil es Safranski gelungen ist, sich von den ungezählten Titeln und Früchten der Schiller-Literatur freizumachen, ohne sie schlicht zu ignorieren.
Nachdem Harry Graf Kessler gleich für zwei Biographen nicht recht zu fassen war, sollen Selbstzeugnisse für Abhilfe sorgen. In seinen Tagebüchern zeigt sich jetzt eine Gestalt, die unserer Zeit auf faszinierende Weise den Spiegel vorhält, indem sie demonstriert, welch armselige Mischung Selbstbezogenheit und falsch verstandene Weltläufigkeit abgeben. Pflichtlektüre für die Sklaven des guten Geschmacks. Eine Biographie ganz eigener Art hat Viktor Jerofejew geschrieben: Er erzählt einen dramatischen Vater-Sohn-Konflikt im Schatten Stalins und seiner Nachfolger als bewegende Doppelbiographie.
igl
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
ALS SCHILLER 1789 seine Antrittsvorlesung in Jena hielt, glaubte er noch, daß "die Tat lebt und weiter eilt", während der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleibt. Heute, da auch Taten oft Schall und Rauch sind, zählt die Biographie zu den beliebtesten Genres. Ein Mann auf der Kippe - so zeigt Rüdiger Safranski Friedrich Schiller. Safranskis Buch ist die Biographie des Jahres, nicht nur, weil das Schiller-Jahr bevorsteht, sondern vor allem, weil es Safranski gelungen ist, sich von den ungezählten Titeln und Früchten der Schiller-Literatur freizumachen, ohne sie schlicht zu ignorieren.
Nachdem Harry Graf Kessler gleich für zwei Biographen nicht recht zu fassen war, sollen Selbstzeugnisse für Abhilfe sorgen. In seinen Tagebüchern zeigt sich jetzt eine Gestalt, die unserer Zeit auf faszinierende Weise den Spiegel vorhält, indem sie demonstriert, welch armselige Mischung Selbstbezogenheit und falsch verstandene Weltläufigkeit abgeben. Pflichtlektüre für die Sklaven des guten Geschmacks. Eine Biographie ganz eigener Art hat Viktor Jerofejew geschrieben: Er erzählt einen dramatischen Vater-Sohn-Konflikt im Schatten Stalins und seiner Nachfolger als bewegende Doppelbiographie.
igl
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2004Es ballert die rote Fahne im Winterwind
Ein Fall von brutaler Gutmütigkeit: Viktor Jerofejew erklärt Stalin zum Gesamtkunstwerk
Die „goldene Jugend Moskaus” – so nannte man die Söhne und Töchter von Mitgliedern der Nomenklatura der Sowjetunion. Dank der Privilegien ihrer Eltern lebten sie ein in materieller Hinsicht leidlich süßes Leben – zumindest nach dem Maßstab der kommunistischen Mangelwirtschaft. Auch Viktor Jerofejew, 1947 geboren, wuchs unter solchen Verhältnissen auf. Sein Vater war sowjetischer Diplomat, zuletzt vertrat er sein Land bei den Vereinten Nationen in Wien, vorher arbeitete er über Jahre an der sowjetischen Botschaft in Paris. Viktor Jerofejew hat den größten Teil seiner Kindheit in Frankreich verbracht, nur in den Sommerferien kehrte die Familie in die Heimat zurück – in jene Ferienhaussiedlung, in der die Politbüromitglieder ihre Datschen hatten.
In Jerofejews neuem Roman „Der gute Stalin” wird Vladimir Nabokov dreimal auf missgünstige Weise angegangen. Da Jerofejew selbst einige Bücher Nabokovs herausgegeben hat, kann von einer grundsätzlichen literarischen Feindseligkeit nicht ausgegangen werden. Tatsächlich beziehen sich die Rempeleien jedesmal auf die Unbedingtheit, mit der Nabokov seine russische, prärevolutionäre Kindheit in ein sonnendurchflutetes Licht getaucht hat. Nicht, dass Jerofejew ihm dieses Glück neidete – seine eigene Kindheit erzählt er in nicht weniger leuchtenden Farben. Aber was ihn zu wurmen scheint (denn er bleibt hier, wie auch sonst oft, trotz uferlosem Redeschwall ziemlich unartikuliert), ist etwas anderes: Dass bei Nabokov das Schöne und Gute gewissermaßen zusammenfallen. Dass dessen Kindheitsidylle nicht nachträglich durch das Weltgericht der Weltgeschichte diskreditiert wurde. Dass Nabokovs Kindheitsglück auch moralisch auf der richtigen Seite blühte. Und dass ihm deshalb jene existentielle Spannung fehlt, der das Leben in seiner Zweideutigkeit allererst ausmacht.
Beide Schriftsteller haben, respektive: hatten eine innige Vaterbeziehung. Während aber Nabokovs Vater ein vorurteilsloser, freigeistiger Aristokrat und als Parlamentarier ein großer reformerischer Liberaler war, der vor den bolschewistischen Mörderbanden in den Westen floh (wo ihn ein fanatischer Monarchist in einem schaurig-überflüssigen Attentat niederstreckte), begann Jerofejew senior seine Karriere als persönlicher Dolmetscher von Josef Stalin und Zuarbeiter von Außenminister Molotow. Dem innersten Machtzirkel des Kremls immer nah, war er ein unverdrossener Kämpfer im Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts – überzeugt, dass für das große Menschheitsbeglückungsprojekt Kommunismus der GULag kein zu hoher Preis ist. „Ich hatte”, schreibt sein Sohn, „eine glückliche stalinistische Kindheit.”
Aus diesen konfligierenden Rollenbildern von verschmitztem Vater einerseits und kompromisslosem Apparatschik andererseits, aus diesem Widerspruch, der mitten durch seine Familiengeschichte geht, hat Viktor Jerofejew das Drama seines Lebens entwickelt. Und weil Jerofejew ein rastloses Kraftwerk von maßlosem Daseinspathos ist, hat er dieses Drama auf die unerbittlichste Art angenommen. Die Liebe und Anhänglichkeit zu seinem Vater hat er nie widerrufen und doch den politischen Vatermord vollstreckt. Das Ticket zur goldenen Jugend Moskaus hat er in den Wind geschlagen und statt dessen, wie er schreibt, an einer „literarischen Atombombe” gebastelt. Mit anderen Schriftstellerkollegen bringt Jerofejew Ende der siebziger Jahre im Samiszdat (in zwölf Exemplaren) den Almanach „Metropol” mit dissidentischer Prosa heraus. Es ist ein wohlberechneter Skandal. Die Staatsmacht tobt. Verhöre werden angesetzt, Verleumdungskampagnen gestartet. Jerofejew wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, während sein Vater den Botschafterposten verliert.
Wobei die Partei vor einem abscheulichen Druckmittel nicht zurückschreckt: Wenn der Vater seinen Sohn dazu bringe, öffentlich zu bereuen, könne er seinen Job behalten. Damit liegt das Glück der Eltern in den Händen Viktors. Und es ist der Vater, der nach schmerzhaften Tagen seinen Sohn aus dem Dilemma erlöst, indem er sich selbst opfert: „In unserer Familie gibt es schon eine Leiche. Das bin ich. . . . Wenn du den Brief schreibst, haben wir zwei Leichen in der Familie.”
Das ist die Familiengeschichte. In ihr spiegelt der Schriftsteller Jerofejew die umfassendere Frage nach dem Phänomen Stalin, nach dessen Monstrosität und der liebenden Hingabe seiner Untertanen. Der „gute Stalin” – das ist eben der Staatsfamilienvater, dem über alle Grausamkeiten hinweg die Anhänglichkeit gehört. Er ist Väterchen Frost in seiner ganzen brutalen Gutmütigkeit. Ein wenig wie Thomas Mann über „Bruder Hitler” schreibt Jerofejew über Vater Stalin: „Auch ich spüre Stalin in mir.”
Will man das verstehen, muss man begreifen, dass gerade die Grausamkeit der großen Führerfigur Bewunderung auslöst. Die übermenschliche Unbarmherzigkeit ist ein göttliches Attribut. Stalin genoss es, die Ehefrauen seiner engsten Mitarbeiter verhaften zu lassen. Als es einmal der Ehefrau Molotows an den Kragen ging und dieser gegen die Verhaftung aufbegehrte, sagte Stalin: „Wjatsch, für nichts wird man bei uns nicht verhaftet”. Leutseligkeit gehört eben zur Lubjankakultur dazu. Einem anderen Mitarbeiter, der um Gnade für seine Frau bettelte, antwortete Stalin scherzhaft: „Wir finden eine bessere Frau für dich.” In dieser menschlich schwierigen Situation nicht den Humor verloren zu haben, wird von allen, die sich diese Anekdote bewundernd erzählen, als Zeichen sublimer Größe gewürdigt.
Viktor Jerofejews autobiografischer Roman „Der gute Stalin” ist ein aufregendes und zugleich ein schwaches Buch. Jerofejew hat fraglos einen großartigen Stoff, er verfügt über eine blühende, überschießende Phantasie und er wird vorwärtsgetrieben von einem ungestümen Temperament, dem helle Momente nicht versagt bleiben. Und dann holt ihn doch auf jeder Seite sein Hang zur Formlosigkeit, zum nur Halbgedachten, zum präpotent Schlampigen ein. Die Worte können gar nicht groß, die Gedankenflüge gar nicht kühn genug sein. Zuerst ist man von dieser verschwenderischen Maßlosigkeit beeindruckt. Bis man irgendwann merkt: Sehr vieles davon ist einfach nur so in den Wind geballert.
Jerofejew will den Mythos Stalin durchleuchten: Stalin als der unsterbliche Erfinder des „magischen Totalitarismus”. Als der moderne Künstler schlechthin, der die Kluft zwischen Kunst und Publikum überwindet, indem er die Menschen selbst zum Material seines totalen Kunstwillens macht. Den Zusammenhang zwischen der künstlerischen Avantgarde und ihrem Anspruch, sich von jeder Tradition, von aller Vergangenheit zu befreien, und dem stalinschen Vernichtungswillen als deren realer Umsetzung hat Boris Groys in seinem Großessay „Gesamtkunstwerk Stalin” überzeugend aufgeschlossen. Auch Jerofejew will zu diesen Verstrickungen vordringen, aber statt den Mythos aufzuklären, mystifiziert er ihn geradezu.
Einmal bietet Stalin Jerofejews Vater ein Glas Sekt an. Dieser lehnt ab: Während des Dienstes pflege er nicht zu trinken. Stalin schmunzelt und sagt gutmütig: „Mach schon, trink. . . . Molotow hat es erlaubt, du hast ordentlich arbeiten müssen.” Noch nach Jahren, sagt Viktor Jerofejew, löse diese Szene bei ihm, dem rebellischen Sohn, Gerührtheit aus. Und er fügt hinzu: „Ich habe sogar ein Kribbeln in der Nase.” Das ist eine großartige Bemerkung. Schon um solcher Sätze willen muss man dies Buch lesen. Aber es zeigt eben auch, dass die eigentliche Stärke Jerofejews eher in der intuitiv-physiologischen Erkenntnis liegt. Immer habe er den Schreibakt als ekstatischen Zustand erfahren wollen, schreibt dieser anarchische Geist. Manchmal allerdings scheint er auch schon schiere Kopflosigkeit als Ekstase zu akzeptieren.
Dieses Buch hält sich viel auf seine französische Sozialisation zu Gute. Die ewige Zwitterposition Russlands zwischen Europa und Asien wird von Jerofejew gern hervorgehoben. Doch wirkt das Buch mit seinen gedanklichen Durchstechereien, mit seinem bedeutungsschwangeren Dauergeschwafel und seinen grellen Selbstmystifikationen wie ein kraftvoll schnaubendes Monument jenes Russlands, vor dem sich die Klarheit und Vernunft des Westens immer schon gefürchtet hat.
IJOMA MANGOLD
VIKTOR JEROFEJEW: Der gute Stalin. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2004. 363 Seiten, 19,90 Euro.
1939 hat Alexander Gerassimow Stalin porträtiert.
Foto: VG Bildkunst, Bonn 2004
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Fall von brutaler Gutmütigkeit: Viktor Jerofejew erklärt Stalin zum Gesamtkunstwerk
Die „goldene Jugend Moskaus” – so nannte man die Söhne und Töchter von Mitgliedern der Nomenklatura der Sowjetunion. Dank der Privilegien ihrer Eltern lebten sie ein in materieller Hinsicht leidlich süßes Leben – zumindest nach dem Maßstab der kommunistischen Mangelwirtschaft. Auch Viktor Jerofejew, 1947 geboren, wuchs unter solchen Verhältnissen auf. Sein Vater war sowjetischer Diplomat, zuletzt vertrat er sein Land bei den Vereinten Nationen in Wien, vorher arbeitete er über Jahre an der sowjetischen Botschaft in Paris. Viktor Jerofejew hat den größten Teil seiner Kindheit in Frankreich verbracht, nur in den Sommerferien kehrte die Familie in die Heimat zurück – in jene Ferienhaussiedlung, in der die Politbüromitglieder ihre Datschen hatten.
In Jerofejews neuem Roman „Der gute Stalin” wird Vladimir Nabokov dreimal auf missgünstige Weise angegangen. Da Jerofejew selbst einige Bücher Nabokovs herausgegeben hat, kann von einer grundsätzlichen literarischen Feindseligkeit nicht ausgegangen werden. Tatsächlich beziehen sich die Rempeleien jedesmal auf die Unbedingtheit, mit der Nabokov seine russische, prärevolutionäre Kindheit in ein sonnendurchflutetes Licht getaucht hat. Nicht, dass Jerofejew ihm dieses Glück neidete – seine eigene Kindheit erzählt er in nicht weniger leuchtenden Farben. Aber was ihn zu wurmen scheint (denn er bleibt hier, wie auch sonst oft, trotz uferlosem Redeschwall ziemlich unartikuliert), ist etwas anderes: Dass bei Nabokov das Schöne und Gute gewissermaßen zusammenfallen. Dass dessen Kindheitsidylle nicht nachträglich durch das Weltgericht der Weltgeschichte diskreditiert wurde. Dass Nabokovs Kindheitsglück auch moralisch auf der richtigen Seite blühte. Und dass ihm deshalb jene existentielle Spannung fehlt, der das Leben in seiner Zweideutigkeit allererst ausmacht.
Beide Schriftsteller haben, respektive: hatten eine innige Vaterbeziehung. Während aber Nabokovs Vater ein vorurteilsloser, freigeistiger Aristokrat und als Parlamentarier ein großer reformerischer Liberaler war, der vor den bolschewistischen Mörderbanden in den Westen floh (wo ihn ein fanatischer Monarchist in einem schaurig-überflüssigen Attentat niederstreckte), begann Jerofejew senior seine Karriere als persönlicher Dolmetscher von Josef Stalin und Zuarbeiter von Außenminister Molotow. Dem innersten Machtzirkel des Kremls immer nah, war er ein unverdrossener Kämpfer im Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts – überzeugt, dass für das große Menschheitsbeglückungsprojekt Kommunismus der GULag kein zu hoher Preis ist. „Ich hatte”, schreibt sein Sohn, „eine glückliche stalinistische Kindheit.”
Aus diesen konfligierenden Rollenbildern von verschmitztem Vater einerseits und kompromisslosem Apparatschik andererseits, aus diesem Widerspruch, der mitten durch seine Familiengeschichte geht, hat Viktor Jerofejew das Drama seines Lebens entwickelt. Und weil Jerofejew ein rastloses Kraftwerk von maßlosem Daseinspathos ist, hat er dieses Drama auf die unerbittlichste Art angenommen. Die Liebe und Anhänglichkeit zu seinem Vater hat er nie widerrufen und doch den politischen Vatermord vollstreckt. Das Ticket zur goldenen Jugend Moskaus hat er in den Wind geschlagen und statt dessen, wie er schreibt, an einer „literarischen Atombombe” gebastelt. Mit anderen Schriftstellerkollegen bringt Jerofejew Ende der siebziger Jahre im Samiszdat (in zwölf Exemplaren) den Almanach „Metropol” mit dissidentischer Prosa heraus. Es ist ein wohlberechneter Skandal. Die Staatsmacht tobt. Verhöre werden angesetzt, Verleumdungskampagnen gestartet. Jerofejew wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, während sein Vater den Botschafterposten verliert.
Wobei die Partei vor einem abscheulichen Druckmittel nicht zurückschreckt: Wenn der Vater seinen Sohn dazu bringe, öffentlich zu bereuen, könne er seinen Job behalten. Damit liegt das Glück der Eltern in den Händen Viktors. Und es ist der Vater, der nach schmerzhaften Tagen seinen Sohn aus dem Dilemma erlöst, indem er sich selbst opfert: „In unserer Familie gibt es schon eine Leiche. Das bin ich. . . . Wenn du den Brief schreibst, haben wir zwei Leichen in der Familie.”
Das ist die Familiengeschichte. In ihr spiegelt der Schriftsteller Jerofejew die umfassendere Frage nach dem Phänomen Stalin, nach dessen Monstrosität und der liebenden Hingabe seiner Untertanen. Der „gute Stalin” – das ist eben der Staatsfamilienvater, dem über alle Grausamkeiten hinweg die Anhänglichkeit gehört. Er ist Väterchen Frost in seiner ganzen brutalen Gutmütigkeit. Ein wenig wie Thomas Mann über „Bruder Hitler” schreibt Jerofejew über Vater Stalin: „Auch ich spüre Stalin in mir.”
Will man das verstehen, muss man begreifen, dass gerade die Grausamkeit der großen Führerfigur Bewunderung auslöst. Die übermenschliche Unbarmherzigkeit ist ein göttliches Attribut. Stalin genoss es, die Ehefrauen seiner engsten Mitarbeiter verhaften zu lassen. Als es einmal der Ehefrau Molotows an den Kragen ging und dieser gegen die Verhaftung aufbegehrte, sagte Stalin: „Wjatsch, für nichts wird man bei uns nicht verhaftet”. Leutseligkeit gehört eben zur Lubjankakultur dazu. Einem anderen Mitarbeiter, der um Gnade für seine Frau bettelte, antwortete Stalin scherzhaft: „Wir finden eine bessere Frau für dich.” In dieser menschlich schwierigen Situation nicht den Humor verloren zu haben, wird von allen, die sich diese Anekdote bewundernd erzählen, als Zeichen sublimer Größe gewürdigt.
Viktor Jerofejews autobiografischer Roman „Der gute Stalin” ist ein aufregendes und zugleich ein schwaches Buch. Jerofejew hat fraglos einen großartigen Stoff, er verfügt über eine blühende, überschießende Phantasie und er wird vorwärtsgetrieben von einem ungestümen Temperament, dem helle Momente nicht versagt bleiben. Und dann holt ihn doch auf jeder Seite sein Hang zur Formlosigkeit, zum nur Halbgedachten, zum präpotent Schlampigen ein. Die Worte können gar nicht groß, die Gedankenflüge gar nicht kühn genug sein. Zuerst ist man von dieser verschwenderischen Maßlosigkeit beeindruckt. Bis man irgendwann merkt: Sehr vieles davon ist einfach nur so in den Wind geballert.
Jerofejew will den Mythos Stalin durchleuchten: Stalin als der unsterbliche Erfinder des „magischen Totalitarismus”. Als der moderne Künstler schlechthin, der die Kluft zwischen Kunst und Publikum überwindet, indem er die Menschen selbst zum Material seines totalen Kunstwillens macht. Den Zusammenhang zwischen der künstlerischen Avantgarde und ihrem Anspruch, sich von jeder Tradition, von aller Vergangenheit zu befreien, und dem stalinschen Vernichtungswillen als deren realer Umsetzung hat Boris Groys in seinem Großessay „Gesamtkunstwerk Stalin” überzeugend aufgeschlossen. Auch Jerofejew will zu diesen Verstrickungen vordringen, aber statt den Mythos aufzuklären, mystifiziert er ihn geradezu.
Einmal bietet Stalin Jerofejews Vater ein Glas Sekt an. Dieser lehnt ab: Während des Dienstes pflege er nicht zu trinken. Stalin schmunzelt und sagt gutmütig: „Mach schon, trink. . . . Molotow hat es erlaubt, du hast ordentlich arbeiten müssen.” Noch nach Jahren, sagt Viktor Jerofejew, löse diese Szene bei ihm, dem rebellischen Sohn, Gerührtheit aus. Und er fügt hinzu: „Ich habe sogar ein Kribbeln in der Nase.” Das ist eine großartige Bemerkung. Schon um solcher Sätze willen muss man dies Buch lesen. Aber es zeigt eben auch, dass die eigentliche Stärke Jerofejews eher in der intuitiv-physiologischen Erkenntnis liegt. Immer habe er den Schreibakt als ekstatischen Zustand erfahren wollen, schreibt dieser anarchische Geist. Manchmal allerdings scheint er auch schon schiere Kopflosigkeit als Ekstase zu akzeptieren.
Dieses Buch hält sich viel auf seine französische Sozialisation zu Gute. Die ewige Zwitterposition Russlands zwischen Europa und Asien wird von Jerofejew gern hervorgehoben. Doch wirkt das Buch mit seinen gedanklichen Durchstechereien, mit seinem bedeutungsschwangeren Dauergeschwafel und seinen grellen Selbstmystifikationen wie ein kraftvoll schnaubendes Monument jenes Russlands, vor dem sich die Klarheit und Vernunft des Westens immer schon gefürchtet hat.
IJOMA MANGOLD
VIKTOR JEROFEJEW: Der gute Stalin. Roman. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2004. 363 Seiten, 19,90 Euro.
1939 hat Alexander Gerassimow Stalin porträtiert.
Foto: VG Bildkunst, Bonn 2004
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
In diesem "Roman-Essay", so der Rezensent Yaak Karsunke, blickt Viktor Jerofejew auf seine "glückliche stalinistische Kindheit" als Sohn des sowjetischen Vizepräsidenten der UNESCO zurück und auf die Umstände, die ihn diesen "goldenen Käfig" verlassen ließen. Jerofejew erkunde, wie er den Mechanismen des stalinistischen Systems entkommen ist, und gleichzeitig von ihnen "geprägt" blieb, mit der Besonderheit, dass er sie gar nicht als wirkliche Mechanismen sehe, sondern als das Eigentliche des "russischen Nationalcharakters", als dessen Inbegriff Jerofejew seinen Vater begreife: "Der Russe findet nicht die Kraft, sich den Stalinschen Qualitäten zu widersetzen. (?) Der russische Volkscharakter wartet auf die Strafe für seine Unordnung. Stalin wird kommen und ihn bestrafen." Aus einem "Patchwork" von "Anekdoten, Berichten, Erinnerungen und Erzählungen, Gesprächen, Reflexionen und Tagträumen" setzt sich "das Mosaik einer deformierten Gesellschaft" zusammen, das vergleichbar ist mit dem Almanach Metropol, schreibt Karsunke. Die Übersetzerin Beate Rausch lobt er für das "lebendige und bildkräftige Deutsch", in das sie dieses "vielstimmige Ensemble" übertragen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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