Die dreizehnjährige Damasa und ihre Geschwister leben in einem heruntergekommenen Haus im düsteren Hafenviertel von Toledo. Ihre vermeintliche Teilnahmslosigkeit verschleiert die glühende und rebellische Natur des Mädchens, das mit zehn Jahren den Schulunterricht ablehnt, sich von der Kirche abwendet und nach dem tragischen Tod seines Bruders auf See Rettung in der Literatur findet. Die dunklen Schriften Damasas, in denen sie versucht, die flüchtigen Visionen ihres Geistes festzuhalten, ziehen uns in eine fesselnde Welt des Unsichtbaren und der Träume, eine »zweite, unwirkliche Realität«. Aus dem Geheimnis dieser wundersam lyrischen Seiten entspringt ein Alltag voller Armut und Entbehrungen, während sich am Himmel das Schreckensgespenst des Krieges abzeichnet.
In Der Hafen von Toledo webt Anna Maria Ortese eine eindringlich dichte, traumwandlerische Atmosphäre, die den Roman zu einem unvergesslichen Leseerlebnis macht. 1975 erstmals veröffentlicht, ist das rätselhafte und von einer geheimnisvollen Schönheit erfüllte Buch heute ein Klassiker der modernen Literatur - ein Meisterwerk, das es auch hierzulande unbedingt zu entdecken gilt.
In Der Hafen von Toledo webt Anna Maria Ortese eine eindringlich dichte, traumwandlerische Atmosphäre, die den Roman zu einem unvergesslichen Leseerlebnis macht. 1975 erstmals veröffentlicht, ist das rätselhafte und von einer geheimnisvollen Schönheit erfüllte Buch heute ein Klassiker der modernen Literatur - ein Meisterwerk, das es auch hierzulande unbedingt zu entdecken gilt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Pöhlmann hält sich bedeckt. Sie weiß zwar die durch und durch individuelle Anna Maria Ortese als in jeder Hinsicht "schwierige Schriftstellerin" zu schätzen, aber immer wieder stellt sie ihr Lob unter Vorbehalt. Deutlich macht Pöhlmann, dass diesen Roman nur wird genießen können, wer keine stringente Erzählung erwartet, wer sich an einzelnen Formulierungen erfreuen kann und wer damit klar kommt, dass Ortese aus der Rückschau "keine Umbewertung" ihrer Mussolini-artigen Figur Don Pedro vornimmt, wie Pöhlmann etwas kryptisch andeutet. Ob die Kritikerin die Mischung aus Manierismus und Entgrenzung, die Passionen der Autorin "Anti-Schule, Anti-Kirche, Anti-König" überzeugend oder nervend findet, bleibt ebenfalls offen. Eindeutig positiv wertet sie nur die glänzende Übersetzung Marianne Schneiders.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2023Die Normalität ist eine große Lüge
Niemandstochter aus dem Prekariat: Anna Maria Orteses großer Roman "Der Hafen von Toledo" verweigert sich der Realität und feiert die Entgrenzung.
Warnungen gehören heute zum gepflegten Ton einer Lektüreeinladung. Also: "Neapel liegt nicht am Meer" ist kein Training für den "Hafen von Toledo". Für ihre Porträts und Sozialreportagen aus dem "Neapel"-Band erhielt Anna Maria Ortese 1953 den Premio Viareggio. In den einzelnen Beiträgen zeigt sie sich als sensible Erzählerin und aufmerksame Verfasserin von Sozialreportagen. Im Kerntext nimmt sie sich die literarische Szene Neapels vor - und das führt zu dem Stichwort, das schnell fällt, wenn von dieser Autorin die Rede ist: schwierig.
Ortese galt Verlagen als schwierige Partnerin: Feste Termine hielt sie für lose Verabredungen, sie überarbeitete bis zuletzt, und auch um ihre Loyalität schien es nicht immer zum Besten bestellt, sodass am Ende der eine Verlag erhielt, was dem anderen zugesichert worden war. In die Kreise der Nachkriegsliteratur wollte sich die eingefleischte Individualistin nicht einfügen. Ihr Generalverdacht: Diese Literatur diene sich dem Marxismus an. Durch ihre Abrechnung mit dem literarischen Neapel hatte sie es sich obendrein mit allen verscherzt und sah sich genötigt, die Stadt zu verlassen. Sie ging erst nach Mailand, dann nach Rapallo. wo sie bis zu ihrem Tod 1998 lebte.
"Schwierig" ist aber auch zu hören, wenn es um Orteses Hauptwerk geht, den "Hafen von Toledo". Sie selbst räumt das ein. "Als Toledo fertig war, erschien es versiegelt, chiffriert, zugleich unbesonnen und chaotisch, mir selbst verschlossen." Thematisiert wird eine "große Verneinung des Wirklichen", denn "heute war dieses Wirkliche alles". Ihm setzt sie ihre Innenwelt entgegen, die geprägt war von "Stille, Einsamkeit, öder Verlassenheit", Elementen also, die sich gut nachempfinden, aber als solche kaum interpretieren lassen.
Die Ich-Erzählerin, die - unter anderem - Dasa heißt, nennt sich "niemands Tochter" und wächst in prekären Verhältnissen auf. Die frühen Sozialreportagen Orteses sowie der schiere Umfang des Romans könnten ein kritisches Werk, ein "J'accuse" vermuten lassen, doch diese Leseerwartung unterläuft die Autorin: Mit Beginn der Pubertät verweigert sich Dasa zunehmend der Realität, sie frönt den Passionen "Anti-Schule, Anti-Kirche, Anti-König", denn die "alte Natur der Dinge passte mir nicht. Ich erfand daher ein Ich, das einen Nachtrag zur Welt wollte, das gegen die optimale Planung des Lebens aufschrie. Das in der Normalität nur Lüge sah." Ihr Antidot werden Malerei und Literatur, vor allem ihre "Ausdruckswerke". Bei diesen Texten handelt es sich um Jugendwerke Orteses, die sie organisch in ihre "Erinnerungen an ein unwirkliches Leben" integriert, dies der Untertitel des Romans - und wer dieses antiautofiktionale Statement nicht zu würdigen weiß, wird das Buch vermutlich kaum genießen können.
Ein Bruder stirbt, der Vater kündigt, ausgerechnet die große Verweigerin Dasa muss die Familie über Wasser halten. Sie reicht erste literarische Texte ein, arbeitet als Sekretärin, stellt sich ihrem erotischen Begehren, aber weniger den politischen Entwicklungen unter Mussolini, der hier als Don Pedro auftritt. Die Verweigerung der Autorin geht so weit, dass sie auch aus der Rückschau keine Umbewertung Don Pedros vornimmt, auch dies sicher eine Herausforderung.
Schon gar nicht mehr so schwierig sieht die Sache aus, wenn die Lektüre unter völlig anderem Vorzeichen begonnen wird. Ortese webt in ihren Text sehr feine Bezüge ein, vor allem auf El Greco - seinen "Blick auf Toledo" - und dessen Freund, den Dichter Luis de Góngora. In der glänzenden Übersetzung Marianne Schneiders, die Anfang des Jahres verstorben ist, liest sich dies wie eine Mischung aus romantischem Gedicht und heideggerscher Philosophie. Ortese stellt sich in eine Tradition des Manierismus und der Entgrenzung. Die Verweigerung ihrer Protagonistin ist nicht die eines Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" und seines eingestellten Wachstums. Dasa verweigert sich, indem sie sich in der Kunst behaust. Sie sucht wie Góngora die überraschenden Bilder. Und ist bei Franz Marc das Pferd blau, so ist ihr Himmel "Mut-Blau". Wie El Greco mischt sie "an der neuen Farbe der Luft, jenem Graurosa, Aschrosa, das seit Kurzem das Trauerschwarz des Vizekönigreichs ersetzt hatte".
Wenn sie gegen den Strich der Erwartungen schreibt, wenn sie überraschen will, dann kann das erklärte Ziel einer Lektüre nur sein, sich von ihr überraschen zu lassen. Fehlt diese Bereitwilligkeit, wird man dem Text kaum etwas abgewinnen können. Ist sie vorhanden, kann man sprachliche Wendungen genießen und am Ende natürlich auch hinreichend Stoff zum Nachdenken finden. Von Selbstoptimierung bis hin zur vielleicht evidentesten Thematik - wie viel Individualismus verträgt eine Gesellschaft - lässt sich mancherlei durchdenken.
Aber eben ohne Spurvorgabe. Die Analyse umgarnen einzelne Formulierungen: "Wind aus Südwesten, Wind offenen Regens, frischer und weicher Wind, der mich wie kein anderer an mein vierzehntes Jahr erinnert" und freie Assoziationen, die womöglich als überlegen angedacht sind. Die Ich-Erzählerin selbst hält fest: "Trotzdem fasste ich Mut; und aus der zusammengewürfelten Sprache eines Volkes, beherrscht von einer ihm fremden Gegenwart und von einer noch fremderen Zukunft, bastelte ich mir eine Feder, so gut es ging: ein buntscheckiges, zitteriges, bäurisches Stöckchen, das, da gleichzeitig in die dunkle Gegenwart eingetaucht, auch ziemlich leer und düster war. Ja, mitunter ließ es düstere Töne hören."
Von diesem Stöckchen ist es nicht mehr weit zu Eichendorffs "Wünschelrute". Ortese hat vielleicht das Lied gestaltet, das in den Dingen schläft. Mit aller Radikalität. CHRISTIANE PÖHLMANN
Anna Maria Ortese: "Der Hafen von Toledo".
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 729 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Niemandstochter aus dem Prekariat: Anna Maria Orteses großer Roman "Der Hafen von Toledo" verweigert sich der Realität und feiert die Entgrenzung.
Warnungen gehören heute zum gepflegten Ton einer Lektüreeinladung. Also: "Neapel liegt nicht am Meer" ist kein Training für den "Hafen von Toledo". Für ihre Porträts und Sozialreportagen aus dem "Neapel"-Band erhielt Anna Maria Ortese 1953 den Premio Viareggio. In den einzelnen Beiträgen zeigt sie sich als sensible Erzählerin und aufmerksame Verfasserin von Sozialreportagen. Im Kerntext nimmt sie sich die literarische Szene Neapels vor - und das führt zu dem Stichwort, das schnell fällt, wenn von dieser Autorin die Rede ist: schwierig.
Ortese galt Verlagen als schwierige Partnerin: Feste Termine hielt sie für lose Verabredungen, sie überarbeitete bis zuletzt, und auch um ihre Loyalität schien es nicht immer zum Besten bestellt, sodass am Ende der eine Verlag erhielt, was dem anderen zugesichert worden war. In die Kreise der Nachkriegsliteratur wollte sich die eingefleischte Individualistin nicht einfügen. Ihr Generalverdacht: Diese Literatur diene sich dem Marxismus an. Durch ihre Abrechnung mit dem literarischen Neapel hatte sie es sich obendrein mit allen verscherzt und sah sich genötigt, die Stadt zu verlassen. Sie ging erst nach Mailand, dann nach Rapallo. wo sie bis zu ihrem Tod 1998 lebte.
"Schwierig" ist aber auch zu hören, wenn es um Orteses Hauptwerk geht, den "Hafen von Toledo". Sie selbst räumt das ein. "Als Toledo fertig war, erschien es versiegelt, chiffriert, zugleich unbesonnen und chaotisch, mir selbst verschlossen." Thematisiert wird eine "große Verneinung des Wirklichen", denn "heute war dieses Wirkliche alles". Ihm setzt sie ihre Innenwelt entgegen, die geprägt war von "Stille, Einsamkeit, öder Verlassenheit", Elementen also, die sich gut nachempfinden, aber als solche kaum interpretieren lassen.
Die Ich-Erzählerin, die - unter anderem - Dasa heißt, nennt sich "niemands Tochter" und wächst in prekären Verhältnissen auf. Die frühen Sozialreportagen Orteses sowie der schiere Umfang des Romans könnten ein kritisches Werk, ein "J'accuse" vermuten lassen, doch diese Leseerwartung unterläuft die Autorin: Mit Beginn der Pubertät verweigert sich Dasa zunehmend der Realität, sie frönt den Passionen "Anti-Schule, Anti-Kirche, Anti-König", denn die "alte Natur der Dinge passte mir nicht. Ich erfand daher ein Ich, das einen Nachtrag zur Welt wollte, das gegen die optimale Planung des Lebens aufschrie. Das in der Normalität nur Lüge sah." Ihr Antidot werden Malerei und Literatur, vor allem ihre "Ausdruckswerke". Bei diesen Texten handelt es sich um Jugendwerke Orteses, die sie organisch in ihre "Erinnerungen an ein unwirkliches Leben" integriert, dies der Untertitel des Romans - und wer dieses antiautofiktionale Statement nicht zu würdigen weiß, wird das Buch vermutlich kaum genießen können.
Ein Bruder stirbt, der Vater kündigt, ausgerechnet die große Verweigerin Dasa muss die Familie über Wasser halten. Sie reicht erste literarische Texte ein, arbeitet als Sekretärin, stellt sich ihrem erotischen Begehren, aber weniger den politischen Entwicklungen unter Mussolini, der hier als Don Pedro auftritt. Die Verweigerung der Autorin geht so weit, dass sie auch aus der Rückschau keine Umbewertung Don Pedros vornimmt, auch dies sicher eine Herausforderung.
Schon gar nicht mehr so schwierig sieht die Sache aus, wenn die Lektüre unter völlig anderem Vorzeichen begonnen wird. Ortese webt in ihren Text sehr feine Bezüge ein, vor allem auf El Greco - seinen "Blick auf Toledo" - und dessen Freund, den Dichter Luis de Góngora. In der glänzenden Übersetzung Marianne Schneiders, die Anfang des Jahres verstorben ist, liest sich dies wie eine Mischung aus romantischem Gedicht und heideggerscher Philosophie. Ortese stellt sich in eine Tradition des Manierismus und der Entgrenzung. Die Verweigerung ihrer Protagonistin ist nicht die eines Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" und seines eingestellten Wachstums. Dasa verweigert sich, indem sie sich in der Kunst behaust. Sie sucht wie Góngora die überraschenden Bilder. Und ist bei Franz Marc das Pferd blau, so ist ihr Himmel "Mut-Blau". Wie El Greco mischt sie "an der neuen Farbe der Luft, jenem Graurosa, Aschrosa, das seit Kurzem das Trauerschwarz des Vizekönigreichs ersetzt hatte".
Wenn sie gegen den Strich der Erwartungen schreibt, wenn sie überraschen will, dann kann das erklärte Ziel einer Lektüre nur sein, sich von ihr überraschen zu lassen. Fehlt diese Bereitwilligkeit, wird man dem Text kaum etwas abgewinnen können. Ist sie vorhanden, kann man sprachliche Wendungen genießen und am Ende natürlich auch hinreichend Stoff zum Nachdenken finden. Von Selbstoptimierung bis hin zur vielleicht evidentesten Thematik - wie viel Individualismus verträgt eine Gesellschaft - lässt sich mancherlei durchdenken.
Aber eben ohne Spurvorgabe. Die Analyse umgarnen einzelne Formulierungen: "Wind aus Südwesten, Wind offenen Regens, frischer und weicher Wind, der mich wie kein anderer an mein vierzehntes Jahr erinnert" und freie Assoziationen, die womöglich als überlegen angedacht sind. Die Ich-Erzählerin selbst hält fest: "Trotzdem fasste ich Mut; und aus der zusammengewürfelten Sprache eines Volkes, beherrscht von einer ihm fremden Gegenwart und von einer noch fremderen Zukunft, bastelte ich mir eine Feder, so gut es ging: ein buntscheckiges, zitteriges, bäurisches Stöckchen, das, da gleichzeitig in die dunkle Gegenwart eingetaucht, auch ziemlich leer und düster war. Ja, mitunter ließ es düstere Töne hören."
Von diesem Stöckchen ist es nicht mehr weit zu Eichendorffs "Wünschelrute". Ortese hat vielleicht das Lied gestaltet, das in den Dingen schläft. Mit aller Radikalität. CHRISTIANE PÖHLMANN
Anna Maria Ortese: "Der Hafen von Toledo".
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 729 S., geb., 34,- Euro.
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»Ortese hat vielleicht das Lied gestaltet, das in den Dingen schläft. Mit aller Radikalität.« - Christiane Pöhlmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung Christiane Pöhlmann FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230705