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Der junge Barnum wird in eine Welt geboren, die von Frauen geprägt ist und von alten Familiengeheimnissen. Da ist seine Urgroßmutter, ein ehemaliger Stummfilmstar aus Dänemark, die immer noch ihrem Verlobten nachtrauert, der von einer Exkursion ins ewige Eis Grönlands nicht zurückgekehrt ist. Da ist seine Großmutter Boletta, die die Familie als Telefonistin über Wasser hält und den Vater ihrer unehelichen Tochter nicht verraten will. Und da ist Barnums Mutter Vera selbst, die in den letzten Kriegstagen auf dem Trockenboden vergewaltigt wird und daraufhin einen Sohn zur Welt bringt, den sie…mehr

Produktbeschreibung
Der junge Barnum wird in eine Welt geboren, die von Frauen geprägt ist und von alten Familiengeheimnissen. Da ist seine Urgroßmutter, ein ehemaliger Stummfilmstar aus Dänemark, die immer noch ihrem Verlobten nachtrauert, der von einer Exkursion ins ewige Eis Grönlands nicht zurückgekehrt ist. Da ist seine Großmutter Boletta, die die Familie als Telefonistin über Wasser hält und den Vater ihrer unehelichen Tochter nicht verraten will. Und da ist Barnums Mutter Vera selbst, die in den letzten Kriegstagen auf dem Trockenboden vergewaltigt wird und daraufhin einen Sohn zur Welt bringt, den sie Fred nennt. Er ist Barnums Halbbruder - der schließlich mit seinem Verschwinden das Leben aller Familienmitglieder unwiderruflich in neue Bahnen lenkt ...

Eine große norwegische Familiensaga vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis heute.
Autorenporträt
Lars Saabye Christensen, geboren 1953 in Oslo, ist ein sehr bedeutender norwegischer Autor der Gegenwart. Publikation zahlreicher Romane, Kurzgeschichten und neun Gedichtbänden. 1984 literarischer Durchbruch in Norwegen. Vielfache Auszeichnungen, z. T. Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2004

Besteigung eines Achthunderters
Salzig eingelegtes Schicksal: Lars Saabye Christensen sorgt vor

Solche Literatur bleibt gerne mal liegen. Ziegeldick ruht sie im Fundament einer Lesehalde, läßt einen Winter zerschmelzen, einen Sommer verstreichen, läßt Blätter stürzen, Vögel ziehen, Winde buhen - und ist sich selbst genug: siebenhundert Seiten tief und mehr, angefüllt mit Schicksalsschlägen, bittersüßer Jugendwehmut, Alkoholismus, Scham und Toden, daß es dem Leser eine Freude ist. Denn der will ja solcherlei sturmgepeitschte Wasser der Imagination befahren, gerade jetzt, wo man sich wieder in Decken einrollt, die Sonntage zu Regentagen werden, man sich einkuschelt ins gefühlte Skandinavien; kalt und dunkel und wohlig. Ein Erzähler erzählt uns: wie er mal ein kleiner Junge war. Ein ganz besonders kleiner sogar. Ein geprügelter, unterdrückter, verdruckster, ein salzig eingelegtes Schicksal mit groß geschriebenem "hicks". Endlich mal wieder!

Laßt Krüppel und Säufer und Versterbende um uns sein, laßt uns eine Menschlichkeit verspüren, die keine Konsequenzen verlangt als das teeselige Weitererzählen und Weiterempfehlen, wie es mittlerweile im Fernsehen seinen Platz hat: "Also mein Lieblingskapitel ist ja das, wo Barnum sich nachts in die Hose macht und ihm die Plateausohlen abgeknickt werden und er wegen dieser einen, total peinlichen Kußszene aus der Tanzstunde fliegt." Dieses Kapitel gibt es natürlich nicht. Das wäre ja Verdichtung. Die herzschnurrenden Peinlichkeiten müssen über einen gigantischen, dunklen Seitenwald verstreut werden, durch den wir großäugig tapern und dann und wann haltmachen, um die schummrig beleuchteten Szenen des kleinen Elends zu beschauen. Wer will, kann natürlich auch joggen, das geht schneller, empfiehlt sich aber nur bei Ausleihe. Der Buchkäufer möchte verständlicherweise etwas länger etwas vom Erstandenen haben, möchte sich durch- und einarbeiten, jedes Seitenhundert vertieft die Empfindsamkeit, veredelt etwas in uns - und gibt vor allem auch den ansonsten so gebeutelten Figuren das unbestimmte Gefühl, an etwas Großem und Wichtigem mitgewirkt zu haben.

Und jetzt raffen wir das mal. Dies ist die Geschichte-von-Barnum-to-go. An eins: heißt er Barnum, schon mal schlecht, selbst für einen Norweger. An zwei: hat er eine Familiengeschichte voller Gewalt und Elend im Nacken, immer verschwinden die Männer, wenden die Frauen sich Johnny Walker und den Seinen zu. Arg traurig das, aber doch irgendwie auch rührend, in einer Rezension standen dicht gedrängt die subsumierenden Worte "beschädigte Akteure", "liebenswert", "Schicksale", "bewältigen", "menschenfreundliches Credo". (Und unter dem Strich natürlich: Begeisterung.) An drei: hat Barnum diesen gewaltbereiten, unruhigen Halbbruder (der, ohje, einer Vergewaltigung entstammt). An vier: bleibt Barnum kleinwüchsig. Kann fünftens keine Kinder zeugen oder glaubt das zumindest. Wird, sechstens, trunksüchtig und nachhaltig unannehmbar im Umgang. Hat siebtens keinen Erfolg, obwohl er doch möglicherweise ein hochbegabter Drehbuchautor ist. Hat achtens bis pp. eine derart gründlich verkorkste Jugend erlebt, daß er heute noch schinkentief daraus berichten kann und will.

Denn Barnum ahnt, wie es um den Leser bestellt ist: Einen knappen Achthunderter hat der erstanden und mit ihm den unverbrüchlichen Anspruch, tief zwischen Sesselohren und Tränenwogen zu versinken; er will regredieren ins wonnige Kindgefühl hinein, will am liebsten eine verschluchzte Jugend erleben sowie auch sein Herz für die Schwachen und zu kurz Gebliebenen - mag aber kein Jugendbuch kaufen. Jugendbücher kommen nicht gut.

Die Mehrheit will den Schinken. Der Schinken ist die Literatur. Schön dick und gut gesalzen soll er sein, und damit auch diejenigen, deren Hirn vom Innendruck philologischer Allgemeinbildung geplagt wird, sich ein wenig erleichtern können, sollten erkennbare Anspielungen etwa auf Hamsun oder die Filmgeschichte in Maßen eingefügt werden, sollte vielleicht auch die Form dann und wann ein wenig ins Postmodernere hineinspielen, wenn zum Beispiel ein Drehbuchmanuskript von Barnum direkt eingefügt wird; auch machen sich Kapiteltitel in Kleinschreibung und mit Klammern drumherum gut, etwa: "(der leberfleck)" oder "(die wohnung)".

Der Schinken sollte konsumierbar sein, nicht zu verstörend, er sollte eine freundlich plaudernde Erzählstimme enthalten und Figuren, deren Schicksalen man die Träne nicht versagen kann; schneeraupengleich sollte er im Original alles an Preisen abgeräumt haben, was abzuräumen ging. Lars Saabye Christensen hat das Seinige erledigt, und hätte die Übersetzung Christel Hildebrandts nicht die klare, gelenke Originalsprache mit einem feinen Staubschleier überzogen, wäre dies der perfekte Schinken. Auf den aber gibt es nur eine passende Antwort: den Buchtip, zehn Zeilen. Er enthält die Begriffe "episch", "anrührend", "groß" und "zutiefst menschlich". Jetzt schon an Weihnachten denken!

KLAUS UNGERER

Lars Saabye Christensen: "Der Halbbruder". Roman. btb, München 2003. 767 S., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Offensichtlich unter seinem Niveau hat sich Rezensent Klaus Ungerer von diesem fast achthundertseitigen Schmöker unterhalten gefühlt. Der Rezensent in ihm verreißt diesen Roman zwar ziemlich gnadenlos als "über einen gigantischen dunklen Seitenwald" verstreute herzschnurrende Peinlichkeiten. Er fühle sich verurteilt, großäugig durch diesen Wald zu tapern, um dann und wann halt zu machen und "die schummrig beleuchteten kleinen Szenen des Elends" zu beschauen, die der Roman aus dem Leben eines gewissen Barnum biete. Auf der anderen Seite lässt sich zwischen den zynischen Zeilen des Rezensenten auch heimlicher Genuss am Kitsch und am Versinken "zwischen Sesselohren und Tränenwogen" spüren - die mit einiger Hingabe zelebrierte Regression ins "wonnige Kindgefühl", als man noch wirklich ein Herz für die Schwachen und zu kurz gebliebenen haben durfte. Deswegen empfiehlt er diesen gut gesalzenen Schinken auch für den weihnachtlichen Gabentisch, wenngleich die Übersetzung seinem Eindruck zufolge diesen Schinken mit einer feinen Staubschicht überzogen hat.

© Perlentaucher Medien GmbH"
"Mit seinen 760 Seiten gehört 'Der Halbbruder' zu den grossen Zeitepen, die von Autoren wie Jan Kjaerstadt und Erik Fosnes Hansen geschaffen wurden und von einem bemerkenswerten Aufschwung der norwegischen Prosa zeugen." (NZZ vom 28.09.03)
"Eigenwillig und wortgewaltig: Der norwegische Schriftsteller Lars Saabye Christensen brilliert mit der melancholisch-wundersamen Familiensage 'Der Halbbruder' (...) Mit seinem außerordentlichen Einfallsreichtum und komödiantischen Talent versteht der Autor es meisterhaft, seine verschlungenen Handlungsfäden irgendwann wieder zusammenzuführen beziehungsweise zu entwirren. Er hat einen warmherzigen Blick auf seine Helden, die sich mühevoll durchs Leben wurschteln, dabei keine Angst vor Pathos und Poesie, vor grimmigem Humor und derbem Witz. In seinen grotesken Details erinnert der Roman manchmal an die wundersamen Geschichten von John Irving. Selten hat ein Schriftsteller so klug, feinfühlig und liebevoll von den Mühen des Erwachsenwerdens, von Geschwisterliebe, Freundschaft, Tod und der Kraft der Vergebung erzählt." (Angela Gatterburg im SPIEGEL special Bücher)
"Um alle Details und Finessen dieses grandios komponierten Romans zu erfassen, für den Christensen den Nordischen Literaturpreis erhielt, ist wohl ein zweiter Lesedurchgang nötig. 'Der Halbbruder' ist eines jener Bücher, bei denen man bereits zur Hälfte bedauert, dem Schluss schon so nah zu sein." (Hamburger Abendblatt)