Als Esther fünfzehn wird, bekommt sie ein ungewöhnliches Geburtstagsgeschenk: ein Foto von Albert Einstein. Gemeinsam mit Nils, der ebenfalls auf dem Foto zu sehen ist, aber nur von wenigen entdeckt wird, beginnt sie sich mit Einsteins revolutionären Ideen zu befassen. Dabei erfährt auch der Leser jede Menge über Galilei, Newton, den Doppler-Effekt und natürlich über die Relativitätstheorie und Einsteins Formel E = mc zum Quadrat. Frank Vermeulen hat einen unterhaltsamen Roman über die berühmteste Formel der Welt geschrieben - eine Herausforderung für alle, die Spaß am Denken haben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2003Schenkelklopfen, Händeklatschen
Der kleinen Esther wird die Relativitätstheorie erklärt
Esther bekommt zu ihrem fünfzehnten Geburtstag ein Foto von Albert Einstein geschenkt. Aus dem Foto entsteigt ein geheimnisvolle „Beobachter” namens Nils (keine Verwandtschaft mit Nils Bohr), der sich, gelegentlich unterstützt von den erwachsenen Familienmitgliedern, daran macht, Esther in stundenlangen Gesprächen die Anfangsgründe der klassischen Mechanik, speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie zu erklären. Man wird Frank Vermeulens dialoglastigen Roman nicht wegen der Rahmenhandlung lesen. Auch ist es nur natürlich, dass ein Gespräch, bei dem ein Wissender einem Unwissenden komplizierte Dinge erklärt, leicht in einen Monolog ausartet. Schon Platon musste mit dem Problem fertig werden, dass die Gesprächspartner von Sokrates zu den tiefen Einsichten des Meisters meist nicht mehr beisteuern konnten als hier und da ein „Gewiß!”, „Ei freilich!” (Schenkelklopfen, Händeklatschen) oder „Das dünkt mich so!” Bei Vermeulen kommt allerdings erschwerend hinzu, dass die Antworten des kleinen Mädchens den Erzählfluss des Lehrers völlig zufällig mit mal Zustimmung, mal skeptischer Rückfrage oder wortgleicher Paraphrase der Lehrerworte unterbrechen. Das Lesen wird so zur Qual, aber das Versprechen, auf diesem Wege die Relativitätstheorie verstehen zu dürfen, wird manchen Leser die Qual vergessen lassen.
Thematisch umfasst der Roman etwa den Stoff, den Albert Einstein selbst 1917 in ein kleines populärwissenschaftliches Büchlein „Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie” gefasst hat (aktuell im Nachdruck der 23. Auflage, Springer Verlag, Berlin, 19,95 Euro). Allerdings liefert Einstein auf seinen 112 Seiten zusätzlich auch noch eine simple mathematische Ableitung seiner berühmtesten Formeln, die sich mit der Schulmathematik der 8. Klasse nachvollziehen lässt, während Vermeulen völlig auf die bildliche Anschauung vertraut und Formeln nur zur Illustration einführt. Der größere Platzbedarf von Vermeulen liegt weniger an den Romanelementen (für die er nur wenige Seiten verschwendet) als an der Strategie des Autors, alles zuerst ein bisschen zu erklären, dann erst etwas anderes, dann wieder ein bisschen und später nochmals. Was man hundert Mal gesagt bekommt, muss schließlich wahr sein.
Experiment im Eimer
Hier ist interessant, was Vermeulen, der sein Buch im Untertitel einen „Roman über Einsteins Gedankenexperimente” nennt, über die Methode des Gedankenexperiments zu sagen hat. Ein Gedankenexperiment ist ein Experiment, das man sich nur ausdenkt. Was man daraus folgert, ist auch nur ausgedacht, nicht real beobachtet. „Aber wenn sich jeder als Ergebnis ausdenken kann, was er will, dann sind wir noch keinen Schritt weiter”, bemerkt dazu Esther ungewöhnlich scharfsinnig. „Stimmt.”, antwortet ihr Nils, „Gedankenexperimente machen nur dann Sinn, wenn man sie nach bestimmten Regeln aufbaut. Eine dieser Regeln ist, dass ein Gedankenexperiment bei achtzig Prozent der Menschen zum gleichen Ergebnis führen muss.” – „Wieso nicht hundert Prozent?” „Weil es immer Leute gibt, die sich irgendwie quer legen wollen . . . .”
Im Roman ist Esther mit dieser Antwort zufriedengestellt. Wahrheit, wir hatten es immer geahnt, ist demokratisch. Die einfache Mehrheit genügt, um Einstein zu widerlegen, und wer von den jungen Lesern den kritischen Geist eines zukünftigen Naturforschers besitzt, wird sich ein Vergnügen daraus machen, alternative Schlüsse aus Vermeulens Gedankenexperimenten zu ziehen. Die wild gestikulierende, von visueller Suggestion abhängige Argumentation und das joviale Gehabe des Lehrers bieten hierfür viel Gelegenheit.
Der Roman enthält die vermutlich umständlichste Erklärung des sogenannten „Zwillingsparadox” in der populärwissenschaftlichen Literatur. Dafür wurde Newtons „Eimer-Experiment” ins Unverständliche verkürzt. Galileo Galilei stellt Vermeulen zu Recht als einen großen Naturwissenschaftler vor, der mit empirischen Fakten die Vorurteile seiner Zeitgenossen widerlegen konnte. Aber später heißt es bei Vermeulen, Galilei habe „vor allem Gedankenexperimente angestellt. Sie gaben ihm Gelegenheit, darüber nachzudenken, was geschieht, wenn man Körper fallen lässt. Er beobachtet in Gedanken wie schwere Köper fallen, und vor allem auch, wie schnell sie fallen.” Esther hat von ihrem Schöpfer leider nicht den Geist eingehaucht bekommen, hier lauthals zu protestieren.
Auch Galilei hat seine „Unterredungen und mathematische Demonstrationen” in Dialogform geschrieben, in einer grandiosen Sprache, übervoll von Einsichten von solcher Klarheit und Tiefe, die noch heute jugendliche Anfänger und alte Experten gleichermaßen faszinieren (Harry Deutsch Verlag, Frankfurt a. M., 350 Seiten, 26,80 Euro). Als kleine Wiedergutmachung für das Leid der Kinder, die ihren ersten Kontakt mit der Physik über Vermeulens – in den ersten Verkaufsmonaten anscheinend sehr erfolgreichen – Roman machen mussten, sollten Eltern sie vielleicht mit Galilei belohnen. Wer Galilei gelesen hat, dem fällt auch die Relativitätstheorie später nicht mehr schwer.
ULRICH KÜHNE
FRANK VERMEULEN: Der Herr Albert. Ein Roman über Einsteins Gedankenexperimente. Deutsch von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2003. 412 S., 22 Euro, „ab 14 Jahren”.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Der kleinen Esther wird die Relativitätstheorie erklärt
Esther bekommt zu ihrem fünfzehnten Geburtstag ein Foto von Albert Einstein geschenkt. Aus dem Foto entsteigt ein geheimnisvolle „Beobachter” namens Nils (keine Verwandtschaft mit Nils Bohr), der sich, gelegentlich unterstützt von den erwachsenen Familienmitgliedern, daran macht, Esther in stundenlangen Gesprächen die Anfangsgründe der klassischen Mechanik, speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie zu erklären. Man wird Frank Vermeulens dialoglastigen Roman nicht wegen der Rahmenhandlung lesen. Auch ist es nur natürlich, dass ein Gespräch, bei dem ein Wissender einem Unwissenden komplizierte Dinge erklärt, leicht in einen Monolog ausartet. Schon Platon musste mit dem Problem fertig werden, dass die Gesprächspartner von Sokrates zu den tiefen Einsichten des Meisters meist nicht mehr beisteuern konnten als hier und da ein „Gewiß!”, „Ei freilich!” (Schenkelklopfen, Händeklatschen) oder „Das dünkt mich so!” Bei Vermeulen kommt allerdings erschwerend hinzu, dass die Antworten des kleinen Mädchens den Erzählfluss des Lehrers völlig zufällig mit mal Zustimmung, mal skeptischer Rückfrage oder wortgleicher Paraphrase der Lehrerworte unterbrechen. Das Lesen wird so zur Qual, aber das Versprechen, auf diesem Wege die Relativitätstheorie verstehen zu dürfen, wird manchen Leser die Qual vergessen lassen.
Thematisch umfasst der Roman etwa den Stoff, den Albert Einstein selbst 1917 in ein kleines populärwissenschaftliches Büchlein „Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie” gefasst hat (aktuell im Nachdruck der 23. Auflage, Springer Verlag, Berlin, 19,95 Euro). Allerdings liefert Einstein auf seinen 112 Seiten zusätzlich auch noch eine simple mathematische Ableitung seiner berühmtesten Formeln, die sich mit der Schulmathematik der 8. Klasse nachvollziehen lässt, während Vermeulen völlig auf die bildliche Anschauung vertraut und Formeln nur zur Illustration einführt. Der größere Platzbedarf von Vermeulen liegt weniger an den Romanelementen (für die er nur wenige Seiten verschwendet) als an der Strategie des Autors, alles zuerst ein bisschen zu erklären, dann erst etwas anderes, dann wieder ein bisschen und später nochmals. Was man hundert Mal gesagt bekommt, muss schließlich wahr sein.
Experiment im Eimer
Hier ist interessant, was Vermeulen, der sein Buch im Untertitel einen „Roman über Einsteins Gedankenexperimente” nennt, über die Methode des Gedankenexperiments zu sagen hat. Ein Gedankenexperiment ist ein Experiment, das man sich nur ausdenkt. Was man daraus folgert, ist auch nur ausgedacht, nicht real beobachtet. „Aber wenn sich jeder als Ergebnis ausdenken kann, was er will, dann sind wir noch keinen Schritt weiter”, bemerkt dazu Esther ungewöhnlich scharfsinnig. „Stimmt.”, antwortet ihr Nils, „Gedankenexperimente machen nur dann Sinn, wenn man sie nach bestimmten Regeln aufbaut. Eine dieser Regeln ist, dass ein Gedankenexperiment bei achtzig Prozent der Menschen zum gleichen Ergebnis führen muss.” – „Wieso nicht hundert Prozent?” „Weil es immer Leute gibt, die sich irgendwie quer legen wollen . . . .”
Im Roman ist Esther mit dieser Antwort zufriedengestellt. Wahrheit, wir hatten es immer geahnt, ist demokratisch. Die einfache Mehrheit genügt, um Einstein zu widerlegen, und wer von den jungen Lesern den kritischen Geist eines zukünftigen Naturforschers besitzt, wird sich ein Vergnügen daraus machen, alternative Schlüsse aus Vermeulens Gedankenexperimenten zu ziehen. Die wild gestikulierende, von visueller Suggestion abhängige Argumentation und das joviale Gehabe des Lehrers bieten hierfür viel Gelegenheit.
Der Roman enthält die vermutlich umständlichste Erklärung des sogenannten „Zwillingsparadox” in der populärwissenschaftlichen Literatur. Dafür wurde Newtons „Eimer-Experiment” ins Unverständliche verkürzt. Galileo Galilei stellt Vermeulen zu Recht als einen großen Naturwissenschaftler vor, der mit empirischen Fakten die Vorurteile seiner Zeitgenossen widerlegen konnte. Aber später heißt es bei Vermeulen, Galilei habe „vor allem Gedankenexperimente angestellt. Sie gaben ihm Gelegenheit, darüber nachzudenken, was geschieht, wenn man Körper fallen lässt. Er beobachtet in Gedanken wie schwere Köper fallen, und vor allem auch, wie schnell sie fallen.” Esther hat von ihrem Schöpfer leider nicht den Geist eingehaucht bekommen, hier lauthals zu protestieren.
Auch Galilei hat seine „Unterredungen und mathematische Demonstrationen” in Dialogform geschrieben, in einer grandiosen Sprache, übervoll von Einsichten von solcher Klarheit und Tiefe, die noch heute jugendliche Anfänger und alte Experten gleichermaßen faszinieren (Harry Deutsch Verlag, Frankfurt a. M., 350 Seiten, 26,80 Euro). Als kleine Wiedergutmachung für das Leid der Kinder, die ihren ersten Kontakt mit der Physik über Vermeulens – in den ersten Verkaufsmonaten anscheinend sehr erfolgreichen – Roman machen mussten, sollten Eltern sie vielleicht mit Galilei belohnen. Wer Galilei gelesen hat, dem fällt auch die Relativitätstheorie später nicht mehr schwer.
ULRICH KÜHNE
FRANK VERMEULEN: Der Herr Albert. Ein Roman über Einsteins Gedankenexperimente. Deutsch von Rolf Erdorf. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2003. 412 S., 22 Euro, „ab 14 Jahren”.
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"Ein intellektuelles Abenteuer, das nicht nur Jugendlichen zum Verständnis der Naturwissenschaften verhilft. Wer mitdenkt, wird am Ende fast unbemerkt eine Theorie verstanden haben, die man bis dahin für unbegreiflich hielt." (Buchmarkt)