"Der Tod war schöner, wenn Baudelaire über ihn schrieb." (S.70)
Ausgerechnet Baudelaire! Eine junge Dame der guten Gesellschaft, Tochter eines angesehenen Richters, versteckt unter ihren Röcken die düsteren Gedichte des französischen enfant terrible. Sie selbst versilbert nicht nur das edle
Geschmeide, dass ihr Patenonkel ihr einst geschenkt hat, sondern unterrichtet auch noch inkognito Frauen…mehr"Der Tod war schöner, wenn Baudelaire über ihn schrieb." (S.70)
Ausgerechnet Baudelaire! Eine junge Dame der guten Gesellschaft, Tochter eines angesehenen Richters, versteckt unter ihren Röcken die düsteren Gedichte des französischen enfant terrible. Sie selbst versilbert nicht nur das edle Geschmeide, dass ihr Patenonkel ihr einst geschenkt hat, sondern unterrichtet auch noch inkognito Frauen der unteren Schichten, und stolpert darüber mitten hinein in einen Kriminalfall.
Was für eine Herausforderung - und wahrscheinlich sogar ein Glücksfall für den frisch ernannten Criminalcommissar Hermann Rieker, der im eigenen Polizeiapparat offenbar wenig Freunde, dafür aber Neider und Gegner hat. Zudem trägt er Erfahrungen aus einer Vergangenheit mit sich, welche die Lektüre um spannende Aspekte bereichern. Nun soll er binnen kürzester Zeit den Mord an der Gelegenheitsprostituierten Ansje lösen, die zufälligerweise bei Johanna Ahrens, der Richtertochter, in die Schule ging.
Und schon ist man mittendrin in diesem spannenden Kriminalfall (den man damals wohl noch mit C schrieb). Gerade diese Kleinigkeiten, das C in aus dem Lateinischen stammenden Wörtern, die französische Schreibweise Bureau, aber auch die Verwendung plattdeutscher Ausdrücke machen das Lesen zu einem atmosphärischen Genuss. Die Beschreibungen der dunklen Seite der Hansestadt sind so lebendig, dass man beim Lesen hautnah das Gefühl hat, dabei zu sein. Schmutz und Körperflüssigkeiten, Gerüche und authentische Beschreibungen der Armut und Not, all dies heben die Besonderheit dieses Romans hervor. Ich hatte nicht das Gefühl, dass dies nur dem Zweck dient, eine düstere Atmosphäre heraufzubeschwören, sondern dass es dem Autor darum ging, ein realistisches Bild der damaligen Zustände zu zeichnen. Und gerade deshalb ist dieser Kriminalfall so unglaublich spannend.
Die Polizeiarbeit im 19. Jahrhundert musste sich noch erfinden. Wissenschaftliche Methode hielten Einzug in die Ermittlungen, die „Criminalpolizei“ war eine neue Erfindung. Im Roman begegnet uns zudem ein heute ausgestorbenes Berufsbild: der Totenfotograf. Dies zeugt von einem anderen Umgang mit dem Tod, der damals viel stärker zum Leben gehörte. Es wird ebenso deutlich, dass Klassenunterschiede über den Tod hinaus eine Rolle spielten.
Es gelingt Ralf H. Dorweiler, den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite aufrecht zu erhalten. Schon lange nicht mehr hat mich ein Krimi so gefesselt. Ich habe mit Johanna Ahrend und Hermann Rieker mitgefiebert, bin Spuren gefolgt, habe mich in die Irre führen lassen habe jede einzelne Zeile genossen. Hier war einfach alles stimmig, die detailliert beschriebenen Personen, der Geist der Zeit, der wohl dossierte Schauer und auch der immer wieder durchscheinende Wortwitz und Humor des Autors. Chapeau!
Mir bleibt nur ein großer Applaus und eine eindeutige Leseempfehlung.
P.S. Don`t judge a book by its cover – Das Cover finde ich ebenfalls sehr gelungen. Die düstere Atmosphäre des nächtlichen Hamburgs, im Hintergrund St. Jacobi, die engen Gassen des Gängeviertels, erleuchtet von einer einsamen Laterne. Ein Mann und eine Frau, beide gut gekleidet (sie von einem Korsett eingeschnürt), erklimmen eine Treppe.
Um noch einmal Beaudelaire zu erwähnen:
Pour ne pas oublier la chose capitale,
Nous avons vu partout, et sans l'avoir cherché,
Du haut jusques en bas de l'échelle fatale,
Le spectacle ennuyeux de l'immortel péché
(Zitat aus le voyage, 1857)
Nur, dass hier absolut gar nichts langweilig war!