Alles begann im Jahr 1958. Jean Hilliker hatte sich von ihrem untreuen Ehemann scheiden lassen. Sie trank. Ihr Sohn James war zehn Jahre alt, lebte beim Vater, hasste und vermisste seine Mutter und wünschte ihr sogar den Tod. Drei Monate später wurde sie ermordet. Der Hilliker-Fluch ist das Bekenntnis eines Jägers, eine Abhandlung über Schuld, aber vor allem ein Aufschrei. James Ellroy beschreibt offen seine kaputte Kindheit, seine Jahre als Kleinkrimineller, sein Leben als Schriftsteller, seine Affären und Ehen, seinen Zusammenbruch und schließlich den Beginn der Beziehung mit einer Frau, die vielleicht die lang Gesuchte ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2013Hardcore-Beethoven
Zwischen Wahn und Sentimentalität: James Ellroy schreibt sein Leben auf
Er sei jetzt ein junger Mann, sagt die Mutter an einem Februartag des Jahres 1958 zu ihrem zehnjährigen Sohn James; er müsse sich entscheiden, ob er bei ihr oder seinem Vater leben wolle. Er entscheidet sich für den Vater, sie schlägt ihm ins Gesicht, er verflucht sie und wünscht sich, sie wäre tot. Drei Monate später wird Jean Hilliker brutal ermordet. Der Fluch, den James Ellroy als Kind über seine Mutter gesprochen hat, wird zum Fluch seines Lebens.
James Ellroy ist Meister der Selbstinszenierung und Selbststilisierung als reaktionärer Provokateur und hartgekochter Außenseiter. Sein großes Vorbild? Beethoven, ein, wie Ellroy glaubt, in gleichem Maße Besessener wie er selbst. So ist es möglicherweise beinahe eine Art von Happy End, wenn Ellroy ganz am Ende seiner Autobiografie „Der Hilliker-Fluch“ feststellt: „Ich bin der Beethoven der letzten Quartette, dem sein Gehör wiedergeschenkt wird.“ Bis dahin ist Ellroy fünfzig Jahre lang durch die Hölle gegangen, und er schreibt sein Leben auf wie einen Ellroy-Roman: im rasenden Stakkatostil, als Anti-Erziehungsgeschichte des Herzens.
Also: harte Kindheit, Kalifornien, L. A., der Vater Faktotum von Rita Hayworth und Croupier in Mexiko, ein Herumtreiber. Die Mutter auch eine Herumtreiberin und eine Säuferin noch dazu, rothaarig, schön, gefährlich und gefährdet. Dann der Mord und der Absturz des Sohnes. James läuft durch die Bezirke der Reichen, glotzt Frauen an, spricht Frauen an. Eine Ersatzhandlung. Er sucht die eine und findet Hunderte. Nur findet er bei ihnen keine Erlösung, im Gegenteil – alles, was er unternimmt, treibt diesen Ellroy nur in noch tiefere Schwärze, in Alkohol- und Drogenprobleme, Kriminalität, psychotische Zustände, Hypochondrie.
Die Kunst als Ausweg? Endet zunächst in einer Sackgasse. Der junge Ellroy frequentiert Prostituierte und stellt Orchestermusikerinnen nach. Seine Erkenntnis: „Ich verstand die Unterschiede zwischen den beiden Berufen und behandelte beide Gruppen gleich. Bei den Nutten suchte ich Kultur und bei den Streicherinnen Lüsternheit. Erstere durfte ich bumsen, bei letzteren durfte ich gar nichts. Meine ausgeprägte Sinnesschärfe war wahnhaft und selbstbezogen.“
In Passagen wie diesen offenbart sich das Problem dieser Lebenserforschungen, die nicht selten gut formuliert sind, aber letztlich auf geradezu deprimierende Weise banal bleiben. „Der Hilliker-Fluch“ ist eine monotone Abfolge von Rauschzuständen, Ekstasen und Abstürzen, ein Gehämmer von Sexsucht, Schlaflosigkeit, Phantasien und paranoiden Verlustphantasien. Ellroy wird zum erfolgreichen Autor, das Konto wächst an – die Ängste bleiben. Beziehungen wechseln, Ehen scheitern.
Das Urteil über eine Biografie ist strikt zu trennen von einem Urteil über den autobiografischen Text: Sein Leben darf man Ellroy nicht vorwerfen; die Art und Weise, wie er es uns vor die Füße knallt, allerdings schon. Denn der Hardcore-Ton nutzt sich schnell ab. Wer sich, wie Ellroy, stilistisch so bequem einrichtet, ist von Sentimentalität nicht weit entfernt.
Aus „Der Hilliker-Fluch“ spricht weniger Getriebenheit als eine Haltung des Aufgehobenseins im Leid, die immerhin zu künstlerischer Produktivität führt: Knapp zwanzig Bücher hat Ellroy in den vergangenen 30 Jahren veröffentlicht und sich eine große Fangemeinde erschrieben. Die Frau, nach der er stets gesucht hat, glaubt er nun auch gefunden zu haben. Jean Hilliker wäre heute knapp 100 Jahre alt. Der Mord an ihr wurde nie aufgeklärt. Möge sie endlich in Frieden ruhen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
James Ellroy: Der Hilliker-Fluch. Aus dem Englischen von Stephen Tree. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 254 Seiten, 19,99 Euro.
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Zwischen Wahn und Sentimentalität: James Ellroy schreibt sein Leben auf
Er sei jetzt ein junger Mann, sagt die Mutter an einem Februartag des Jahres 1958 zu ihrem zehnjährigen Sohn James; er müsse sich entscheiden, ob er bei ihr oder seinem Vater leben wolle. Er entscheidet sich für den Vater, sie schlägt ihm ins Gesicht, er verflucht sie und wünscht sich, sie wäre tot. Drei Monate später wird Jean Hilliker brutal ermordet. Der Fluch, den James Ellroy als Kind über seine Mutter gesprochen hat, wird zum Fluch seines Lebens.
James Ellroy ist Meister der Selbstinszenierung und Selbststilisierung als reaktionärer Provokateur und hartgekochter Außenseiter. Sein großes Vorbild? Beethoven, ein, wie Ellroy glaubt, in gleichem Maße Besessener wie er selbst. So ist es möglicherweise beinahe eine Art von Happy End, wenn Ellroy ganz am Ende seiner Autobiografie „Der Hilliker-Fluch“ feststellt: „Ich bin der Beethoven der letzten Quartette, dem sein Gehör wiedergeschenkt wird.“ Bis dahin ist Ellroy fünfzig Jahre lang durch die Hölle gegangen, und er schreibt sein Leben auf wie einen Ellroy-Roman: im rasenden Stakkatostil, als Anti-Erziehungsgeschichte des Herzens.
Also: harte Kindheit, Kalifornien, L. A., der Vater Faktotum von Rita Hayworth und Croupier in Mexiko, ein Herumtreiber. Die Mutter auch eine Herumtreiberin und eine Säuferin noch dazu, rothaarig, schön, gefährlich und gefährdet. Dann der Mord und der Absturz des Sohnes. James läuft durch die Bezirke der Reichen, glotzt Frauen an, spricht Frauen an. Eine Ersatzhandlung. Er sucht die eine und findet Hunderte. Nur findet er bei ihnen keine Erlösung, im Gegenteil – alles, was er unternimmt, treibt diesen Ellroy nur in noch tiefere Schwärze, in Alkohol- und Drogenprobleme, Kriminalität, psychotische Zustände, Hypochondrie.
Die Kunst als Ausweg? Endet zunächst in einer Sackgasse. Der junge Ellroy frequentiert Prostituierte und stellt Orchestermusikerinnen nach. Seine Erkenntnis: „Ich verstand die Unterschiede zwischen den beiden Berufen und behandelte beide Gruppen gleich. Bei den Nutten suchte ich Kultur und bei den Streicherinnen Lüsternheit. Erstere durfte ich bumsen, bei letzteren durfte ich gar nichts. Meine ausgeprägte Sinnesschärfe war wahnhaft und selbstbezogen.“
In Passagen wie diesen offenbart sich das Problem dieser Lebenserforschungen, die nicht selten gut formuliert sind, aber letztlich auf geradezu deprimierende Weise banal bleiben. „Der Hilliker-Fluch“ ist eine monotone Abfolge von Rauschzuständen, Ekstasen und Abstürzen, ein Gehämmer von Sexsucht, Schlaflosigkeit, Phantasien und paranoiden Verlustphantasien. Ellroy wird zum erfolgreichen Autor, das Konto wächst an – die Ängste bleiben. Beziehungen wechseln, Ehen scheitern.
Das Urteil über eine Biografie ist strikt zu trennen von einem Urteil über den autobiografischen Text: Sein Leben darf man Ellroy nicht vorwerfen; die Art und Weise, wie er es uns vor die Füße knallt, allerdings schon. Denn der Hardcore-Ton nutzt sich schnell ab. Wer sich, wie Ellroy, stilistisch so bequem einrichtet, ist von Sentimentalität nicht weit entfernt.
Aus „Der Hilliker-Fluch“ spricht weniger Getriebenheit als eine Haltung des Aufgehobenseins im Leid, die immerhin zu künstlerischer Produktivität führt: Knapp zwanzig Bücher hat Ellroy in den vergangenen 30 Jahren veröffentlicht und sich eine große Fangemeinde erschrieben. Die Frau, nach der er stets gesucht hat, glaubt er nun auch gefunden zu haben. Jean Hilliker wäre heute knapp 100 Jahre alt. Der Mord an ihr wurde nie aufgeklärt. Möge sie endlich in Frieden ruhen.
CHRISTOPH SCHRÖDER
James Ellroy: Der Hilliker-Fluch. Aus dem Englischen von Stephen Tree. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 254 Seiten, 19,99 Euro.
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""Der Hilliker Fluch" ist eine ebenso ungewöhnliche Liebesgeschichte wie schonungslose Beichte." Arte Metropolis 20121020