Nach dem Tod ihrer kleinen Schwester kommen Willa Jo und Little Sister für eine Weile zu Tante Patty und Onkel Hob. Willa Jo ist darüber eigentlich ganz froh, weil sich nach dem schrecklichen Ereignis endlich wieder etwas zu bewegen, zu verändern scheint. Doch Tante Patty hat so ganz eigene Vorstellungen davon, wie Kinder sich zu benehmen, was sie anzuziehen und welche Freunde sie haben sollten. Nach einem besonders heftigen Streit träumt Willa Jo einen seltsamen Traum und beschließt am Morgen aufs Dach zu klettern ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2001Dem Himmel nah
Zwei Kinder sitzen auf dem Dach,
um die Welt zu verstehen
Orte, von denen aus sich voller Inbrunst auf die Welt gucken und spucken lässt. Wir kennen sie seit Mark Twain. Der Hügel hinterm Dorf, von dem aus man bis zum fernen Horizont alles erträumen darf. Der uralte Baum, von dessen Ästen aus wir das seltsame Treiben der Menschen kopfüber und kopfunter bestaunen können. Und – das Dach. Willa Jo , 13 Jahre alt, sitzt gerade auf einem solchen, auf dem Dach des Hauses von Tante Patty und Onkel Hob. Voller Vertrauen an die große Schwester gelehnt, noch im Nachthemd, „Little Sister” (7 Jahre alt), die mit dem Tod des jüngsten Geschwisterchens vor ein paar Wochen aufgehört hat zu sprechen. Da sitzen die beiden jungen Weltbetrachterinnen von den frühen Morgenstunden an, und niemand weiß, wann sie das Dach wieder verlassen werden. Stoff genug für ein Buch? Aber sicher – Stoff genug für den Debütroman der amerikanischen Schriftstellerin Audrey Couloumbis Der Himmel auf dem Dach, ausgezeichnet mit einer Newbery Honor Medal.
Warum die Kinder da oben auf dem Dach sitzen? Alle wundern und ängstigen sich – vielleicht außer Onkel Hob –, niemand weiß es, und auch wir erfahren es erst nach und nach. Ja selbst die Erzählerin Willa Jo wird sich der Umstände dieses verrückten Tages erst bewusst, als sie die tragischen Ereignisse der vergangenen Wochen an sich vorüberziehen lässt. Noch ist das Mädchen geblendet von der Faszination des Sonnenaufgangs. Auch darin steckt ein Geheimnis, dessen Schleier sich erst im Lauf der Erzählung lüften. Drei Wochen nun befinden sich Willa Jo und Little Sister in der Obhut von Tante Patty, der älteren Schwester ihrer Mutter. Onkel Hob spielt – bis zu dem Augenblick als er im Sonntagsanzug mit Schirm und Gitarre selbst aufs heiße Dach klettert –, zunächst keine entscheidende Rolle. Er ist einfach nur liebenswert und sehr zurückhaltend. Ganz anders Tante Patty. Ihr hochneurotisches Wesen – alles und jeder wird gnadenlos umsorgt –, erhält neue Nahrung, als sie ihrer Schwester zu Hilfe eilt, die nach Babys Tod in Lethargie zu versinken droht und sich mit ihren Kindern in eine Welt aus Trauer, Traum und Trägheit zurückzieht.
Willa Jo ist zuerst erleichtert, als Patty die Zügel in die Hand nimmt. Als Tante Patty jedoch die Kinder zu sich nimmt, um ihre Schwester zu entlasten, ist nichts mehr so wie es war. Ohne Rücksicht auf Gefühle und Weltsichten will sie Willa Jo und Little Sister zum Glück – so wie sie es versteht – zwingen. Doch sie hat nicht mit der Widerspenstigkeit und dem Einfallsreichtum der beiden gerechnet. - Verweigerung - das mag einer der Gründe sein, weshalb Willa Jo und Little Sister an diesem Morgen auf dem Dach sitzen. Aber es ist nicht der einzige Grund. Ein anderer muss etwas mit dem Tod des Geschwisterchens, der Sprachlosigkeit von Little Sister und mit dem Sonnenaufgang zu tun haben.
Audrey Couloumbis erzählt von der Welt der Kinder und der Erwachsenen so
wissend und so behutsam, als habe sie ein Bündnis mit Willa Jo und ihrem Widerpart Tante Patty gleichzeitig. Die Erzählung endet mit einem dramatischen – keinem tragischen – Ereignis auf dem Dach. Hoffnungsvoll und für manchen vielleicht ein bisschen zu amerikanisch, aber ganz im Einverständnis mit den kindlichen Lesern. Bewundernswert ist Audrey Couloumbis’ Empathie, mit der sie ihre Figuren gestaltet: Sie beobachtet präzise, wie die Menschen geworden sind, was sie sind und wie sich zwei Kinder einen Ort „über den Dingen” erobern, an dem sie – wenn auch nur auf Zeit - bei sich selbst sein können, ein Stück begleitet von den Erwachsenen.
Und das ist ein Ort, an dem wir mit Willa Jo und Little Sister lachen und weinen wollen – zur gleichen Zeit. Dem Himmel so nah wie der Hölle. (ab 10 Jahre)
SIGGI SEUSS
AUDREY COULOUMBIS: Der Himmel auf dem Dach. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Hergane. Ueberreuter Verlag 2001. 168 Seiten, 19,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Zwei Kinder sitzen auf dem Dach,
um die Welt zu verstehen
Orte, von denen aus sich voller Inbrunst auf die Welt gucken und spucken lässt. Wir kennen sie seit Mark Twain. Der Hügel hinterm Dorf, von dem aus man bis zum fernen Horizont alles erträumen darf. Der uralte Baum, von dessen Ästen aus wir das seltsame Treiben der Menschen kopfüber und kopfunter bestaunen können. Und – das Dach. Willa Jo , 13 Jahre alt, sitzt gerade auf einem solchen, auf dem Dach des Hauses von Tante Patty und Onkel Hob. Voller Vertrauen an die große Schwester gelehnt, noch im Nachthemd, „Little Sister” (7 Jahre alt), die mit dem Tod des jüngsten Geschwisterchens vor ein paar Wochen aufgehört hat zu sprechen. Da sitzen die beiden jungen Weltbetrachterinnen von den frühen Morgenstunden an, und niemand weiß, wann sie das Dach wieder verlassen werden. Stoff genug für ein Buch? Aber sicher – Stoff genug für den Debütroman der amerikanischen Schriftstellerin Audrey Couloumbis Der Himmel auf dem Dach, ausgezeichnet mit einer Newbery Honor Medal.
Warum die Kinder da oben auf dem Dach sitzen? Alle wundern und ängstigen sich – vielleicht außer Onkel Hob –, niemand weiß es, und auch wir erfahren es erst nach und nach. Ja selbst die Erzählerin Willa Jo wird sich der Umstände dieses verrückten Tages erst bewusst, als sie die tragischen Ereignisse der vergangenen Wochen an sich vorüberziehen lässt. Noch ist das Mädchen geblendet von der Faszination des Sonnenaufgangs. Auch darin steckt ein Geheimnis, dessen Schleier sich erst im Lauf der Erzählung lüften. Drei Wochen nun befinden sich Willa Jo und Little Sister in der Obhut von Tante Patty, der älteren Schwester ihrer Mutter. Onkel Hob spielt – bis zu dem Augenblick als er im Sonntagsanzug mit Schirm und Gitarre selbst aufs heiße Dach klettert –, zunächst keine entscheidende Rolle. Er ist einfach nur liebenswert und sehr zurückhaltend. Ganz anders Tante Patty. Ihr hochneurotisches Wesen – alles und jeder wird gnadenlos umsorgt –, erhält neue Nahrung, als sie ihrer Schwester zu Hilfe eilt, die nach Babys Tod in Lethargie zu versinken droht und sich mit ihren Kindern in eine Welt aus Trauer, Traum und Trägheit zurückzieht.
Willa Jo ist zuerst erleichtert, als Patty die Zügel in die Hand nimmt. Als Tante Patty jedoch die Kinder zu sich nimmt, um ihre Schwester zu entlasten, ist nichts mehr so wie es war. Ohne Rücksicht auf Gefühle und Weltsichten will sie Willa Jo und Little Sister zum Glück – so wie sie es versteht – zwingen. Doch sie hat nicht mit der Widerspenstigkeit und dem Einfallsreichtum der beiden gerechnet. - Verweigerung - das mag einer der Gründe sein, weshalb Willa Jo und Little Sister an diesem Morgen auf dem Dach sitzen. Aber es ist nicht der einzige Grund. Ein anderer muss etwas mit dem Tod des Geschwisterchens, der Sprachlosigkeit von Little Sister und mit dem Sonnenaufgang zu tun haben.
Audrey Couloumbis erzählt von der Welt der Kinder und der Erwachsenen so
wissend und so behutsam, als habe sie ein Bündnis mit Willa Jo und ihrem Widerpart Tante Patty gleichzeitig. Die Erzählung endet mit einem dramatischen – keinem tragischen – Ereignis auf dem Dach. Hoffnungsvoll und für manchen vielleicht ein bisschen zu amerikanisch, aber ganz im Einverständnis mit den kindlichen Lesern. Bewundernswert ist Audrey Couloumbis’ Empathie, mit der sie ihre Figuren gestaltet: Sie beobachtet präzise, wie die Menschen geworden sind, was sie sind und wie sich zwei Kinder einen Ort „über den Dingen” erobern, an dem sie – wenn auch nur auf Zeit - bei sich selbst sein können, ein Stück begleitet von den Erwachsenen.
Und das ist ein Ort, an dem wir mit Willa Jo und Little Sister lachen und weinen wollen – zur gleichen Zeit. Dem Himmel so nah wie der Hölle. (ab 10 Jahre)
SIGGI SEUSS
AUDREY COULOUMBIS: Der Himmel auf dem Dach. Aus dem Amerikanischen von Yvonne Hergane. Ueberreuter Verlag 2001. 168 Seiten, 19,80 Mark.
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