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Es gab eine Epoche, in der man, wenn verschiedene Lebewesen aufeinander trafen, nicht genau wusste, ob es sich um Tiere oder Götter, Dämonen oder Ahnen handelte. Oder einfach um Menschen. Eines Tages, der viele tausend Jahre dauerte, machte Homo etwas, das noch keiner versucht hatte: Er begann die Tiere nachzuahmen, die ihn jagten, die Raubtiere. Er wurde zum Jäger. Es war ein langer und schwieriger Prozess, der Spuren und Narben in Riten und Mythen und im Verhalten hinterließ.
Zahlreiche Kulturen, räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt, brachten einige dieser dramatischen und
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Produktbeschreibung
Es gab eine Epoche, in der man, wenn verschiedene Lebewesen aufeinander trafen, nicht genau wusste, ob es sich um Tiere oder Götter, Dämonen oder Ahnen handelte. Oder einfach um Menschen. Eines Tages, der viele tausend Jahre dauerte, machte Homo etwas, das noch keiner versucht hatte: Er begann die Tiere nachzuahmen, die ihn jagten, die Raubtiere. Er wurde zum Jäger. Es war ein langer und schwieriger Prozess, der Spuren und Narben in Riten und Mythen und im Verhalten hinterließ.

Zahlreiche Kulturen, räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt, brachten einige dieser dramatischen und erotischen Geschehnisse in Verbindung mit der Himmelsregion zwischen Sirius und Orion: dem Ort des Himmlischen Jägers. Dessen Geschichten, in dieses Buch hineingeflochten, greifen in viele Richtungen aus, reichen vom Paläolithikum über Ägypten und das alte Griechenland bis zur Turingmaschine. Sie erkunden die verborgenen Verbindungen innerhalb dieses einen, nicht einzugrenzenden Territoriums, das der Geist ist.
Autorenporträt
Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, war Essayist, Kulturphilosoph und Verleger des Mailänder Verlages Adelphi Edizioni. Zuletzt erschien von ihm Der Himmlische Jäger – als neunter Teil eines »work in progress«, das 1983 mit dem Untergang von Kasch begann. Es folgten Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka, K., Das Rosa Tiepolos, Der Traum Baudelaires, Die Glut und Das unnennbare Heute. Calasso starb im Juli 2021 in Mailand.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Imposant" nennt der hier rezensierende Kulturwissenschaftler Thomas Macho den achten Band von Roberto Calassos groß angelegter Enzyklopädie. Die Grenzen zwischen Themen und Sprachen, zwischen Roman, Sachbuch und Essay immer wieder leichtfüßig überschreitend, denkt der italienische Kulturphilosoph hier über das Jagen als Kulturtechnik nach, klärt der Kritiker auf, der bei Calasso nachliest, wie sich der Mensch zunehmend dem Raubtier anglich und mit dem Töten, Opfern und dem Fleischverzehr das "Zeitalter des Bewusstseins" und der Selbstreflexion einsetzte. Bezüge zu Elias Canettis "Masse und Macht", aber auch zu Ovids "Metamorphosen", Platons "Gesetzen" oder den Forschungen des Anthropologen Lewis R. Binford machen den Band für Macho zu einem ebenso gelehrten wie pointenreichen Lektüreereignis.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2020

Und Töten, was war das eigentlich?

Auf den Spuren von Elias Canetti: Roberto Calasso setzt seine große Enzyklopädie fort und sinnt über Mensch und Tier, Opfer und Jagd nach.

Der achte Band einer beispiellosen Enzyklopädie von Roberto Calasso ist nun in deutscher Übersetzung erschienen. Die Reihe begann 1983 mit "Der Untergang von Kasch". Der neue Band, der im italienischen Original 2016 erschien, trägt den Titel "Der Himmlische Jäger". Roberto Calasso, Verleger von Adelphi Edizioni in Mailand, hat mit diesem Buch ein imposantes Alterswerk vorgelegt: ein labyrinthisch gelehrtes Selbstgespräch, Roman, Essay, Sach- und Fachbuch zugleich, das die Grenzen zwischen Themen, Sprachen und Disziplinen mit bemerkenswerter Eleganz und Leichtigkeit überschreitet. So folgen auf Erzählungen von Mythen und Kulten, oft mit überraschenden Pointen - etwa zur Beisetzung des Odysseus auf der Insel Kirkes, in Gegenwart von Kirke, Penelope und den Söhnen Telemachos und Telegonos (der bei Homer gar nicht erwähnt wird) - dichte Exkurse zu Ovids "Metamorphosen", Platons "Gesetzen", Herodots Berichten aus Ägypten oder Plotins "Enneaden".

Dabei verliert Calasso dennoch nicht seine Hauptthese aus dem Blick. Sie folgt auf manchen Spuren dem Hauptwerk Elias Canettis, "Masse und Macht" (1960). Eines der wichtigsten Kapitel dieses Buches befasst sich mit dem Wesen der Verwandlung. Canetti beginnt es mit Reflexionen über die Verwandlung bei indigenen Ethnien im südlichen Afrika, die als Jäger und Sammler lebten; er nennt sie noch - nach einem inzwischen verpönten Ausdruck - "Buschmänner", heute sprechen wir von "San" oder "Khoisan". Was Canetti interessiert, sind die "Vorgefühle" dieser Ethnien in der Begegnung mit Tieren. Lange bevor sie die Springböcke sehen, nehmen sie am eigenen Körper wahr, wie deren Füße im Gebüsch rascheln; sie spüren den schwarzen Streifen auf dem Kopf des Springbocks im eigenen Gesicht oder seine schwarzen Haare an den eigenen Rippen. Und manchmal fühlen sie sogar das Blut des erlegten Tieres. Bemerkenswert ist allerdings, dass Canetti hier nicht von der Jagd spricht, sondern sich rasch den "Fluchtverwandlungen" zuwendet. Er erweckt geradezu den Anschein, als würden sich die beschriebenen Ethnien auf den Besuch der Springböcke freuen, in die sie sich bei ihrer Annäherung zu verwandeln beginnen. Doch sie wollen die Tiere töten.

Darum schlägt Calasso einen eigenen Weg ein: Er charakterisiert die Jagd als die essentielle Operation der Verwandlung schlechthin. Sie erzeugt Schuld, daher die Transformation in das Opfer. Der Jäger und die Jägerin - ausführliche Exkurse widmet Calasso der Göttin Artemis - verwandeln sich in die erbeuteten Tiere. "Und Töten, was war das eigentlich?", heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs. Calasso gibt gleich die Antwort: "Kaum etwas anderes, als sich töten. Wenn der Mensch zum Bären wurde, erschlug er, wenn er ihn tötete, sich selbst." Und er erinnert an die dunkle Beziehung zwischen Töten und Essen: "Wer isst, lässt etwas verschwinden. Das war sogar noch geheimnisvoller als das Töten. Wohin verschwindet das, was verschwindet? Im Unsichtbaren. Das am Ende von Anwesendem wimmelt. Es gibt nichts Belebteres als die Abwesenheit. Was aber war zu tun im Hinblick auf all jene Wesen? Vielleicht sollte man ihnen den Übergang in die Abwesenheit erleichtern und sie auf einem Abschnitt ihrer Reise begleiten. Die Tötung war wie ein Gruß. Und wie jede Begrüßung verlangte sie bestimmte Gesten, bestimmte Worte. Sie begannen, Opfer zu zelebrieren."

Die Geschichte des Opfers und der Opfermahlzeiten hatte Calasso bereits im vorangegangenen Band über "Die Glut" (2010), einer umfangreichen Analyse und Kommentierung der alten Veden, untersucht; auch darin folgte Calasso übrigens einigen Anregungen aus "Masse und Macht", beispielsweise in den Kapiteln über die Eingeweide der Macht, die Psychologie des Essens oder die Selbstvermehrung und Selbstverzehrung. Mit seinem Schlüsselsatz "Das Gegessene ißt zurück" hatte Canetti das Essen als eine Art von autophagischer Praxis charakterisiert, und dieser Satz könnte auch in vedischen Ritualtexten stehen. Die Tötung des gejagten Tiers ist eine Selbsttötung, wie Calasso betont, und der Verzehr des getöteten Beutetiers eine Art von Selbstverzehrung. "Die Verwandlungen", so schreibt Canetti, "welche den Menschen mit den Tieren, die er ißt, verbinden, sind stark wie Ketten. Ohne sich in Tiere zu verwandeln, hätte er sie nie essen gelernt."

Roberto Calasso hat das Jagen und Töten als Kulturtechnik beschrieben, nicht als eine genuine Tätigkeit der meisten Lebewesen und Menschen. Unter Berufung auf Forschungen von Lewis R. Binford erinnert er daran, dass die Hominiden jahrtausendelang kein Fleisch, sondern nur Wurzeln, Knollen, Körner oder Früchte gegessen haben; von diesem Zeitalter erzählen auch einige Schöpfungsberichte. Erst die Entdeckung des Feuers und die Anfertigung erster Werkzeuge - vor allem aber die genaue Beobachtung von Aasfressern wie den Hyänen - ermöglichte den frühen Menschen einen allmählichen Wandel ihrer Ernährungskultur: Sie traten gleichsam in die Riege der Aasfresser ein und stiegen in die Rangordnung jener Lebewesen auf, die sich nicht von Tieren ernährten, die sie selbst erlegten, sondern von den Resten der von Raubtieren erlegten Beutetiere.

Raubtiere waren demnach die bewunderten Vorbilder der frühen Menschen, anders gesagt: die ersten Gottheiten. Sie sind die himmlischen Jägerinnen und Jäger. Mit der Jagd beginnt das Zeitalter der Verwandlung; noch die Bewohner und Bewohnerinnen des Olymps haben keine Schwierigkeiten, sich in jedes denkbare Tier zu verwandeln. Mit dem Fleischverzehr beginnt das Zeitalter des Bewusstseins, der Schuld und des Selbstbezugs; so viel gilt schon für die aasfressenden Hominiden, denn einen "Körper zu essen, der vom eigenen Feind getötet worden ist, war wie - vermittelt durch ein Skelett - sich selbst essen. Der ferne Ursprung der Selbstreflexion."

Darum vergleicht Calasso das Jagen - und später das Opfern - mit den symbolischen Kulturtechniken, die sich durch potentielle Selbstreferentialität auszeichnen. Das Jagen ist verwandt mit dem Zeichnen ("Wie könnte ich auf die Jagd gehen, wenn ich vorher nicht zeichnete?"), mit dem Schreiben ("Also beginnt die Jagd. Man beginnt zu schreiben"), ja sogar mit dem Lieben, denn: "Die Jagd ist der Inzest", Ausdruck einer "extremen Affinität zwischen dem Jäger und dem gejagten Tier".

Mit dem Zeitalter des Jagens beginnt bei Calasso das Zeitalter des Bewusstseins, der Selbstreflexion und Verwandlung, aber auch das Zeitalter der Täuschung; der Blick des Narziss fällt in den spiegelglatten See, während der Ruf der Bergnymphe Echó verhallt.

THOMAS MACHO

Roberto Calasso:

"Der Himmlische Jäger".

Aus dem Italienischen von Reimar Klein und Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 624 S., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Calasso ... ist ein mitreißender Denker, der mit präzis geführten Schnitten durch das Gewebe populärer Gewissheiten rauscht.« Alfons Huckebrink neues deutschland 20210201