Der Hochverratsprozeß gegen den "ledigen Schriftsteller" Adolf Hitler aus dem österreichischen Braunau und neun Mitangeklagte vor dem bayerischen Volksgericht München I im Frühjahr 1924 wurde der folgenschwerste politische Strafprozeß des 20. Jahrhunderts. Die Fakten sind in großen Zügen bekannt, viele Details (z.B. Zechprellerei und Diebstahl im Bürgerbräukeller, erste Exzesse gegen Juden, Geiselnahme, Banknotenraub, vier tote Polizisten) jedoch nicht. Hitler kam mit einer milden Strafe von nur fünf Jahren Festungshaft davon, wurde nach knapp neun Monaten zur Bewährung entlassen und - obwohl Ausländer - nicht des Landes verwiesen. Das Urteil ist für die bayerische Justiz kein Ruhmesblatt. Weil der Angeklagte vermeintlich "von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet" schien, sah man über zwingende Vorschriften des formellen und materiellen Rechts hinweg. So verhandelte den Fall ein unzuständiges Gericht, Hitlers Vorstrafe wurde übersehen, Fakten fiele n unter den Tisch.
Gritschneders neues Buch legt den Schwerpunkt auf das Versagen der Justiz. Er schildert den Putschversuch und den Prozeß nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse. Erstmals wird, abgesehen von der großen vierbändigen Dokumentation, das Urteil vollständig abgedruckt. Daraus wird auch deutlich, wie skandalös der Freispruch Ludendorffs war. Erstmals wird die Biographie des damaligen Landgerichtsdirektors Dr. Georg Neithardt beleuchtet, der schon am 1. September 1933 den Dank der Nationalsozialisten empfing: Er wurde Präsident des Oberlandesgerichts München. Otto Gritschneder (geb. 1914), Promotion und juristische Examina in seiner Geburtsstadt München. Seit 1945 Rechtsanwalt, vorher Berufsverbot und fünfeinhalb Jahre Zwangsrekrutrierung in Hitlers "Wehr"macht. 1948 bis 1952 (parteiloser) Stadtrat in München, Autor zeitgeschichtlicher und juristischer Bücher, vieler Rundfunkkommentare und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Für zeithistorisch interessierte Leser, Ju risten, Historiker, Studenten
Gritschneders neues Buch legt den Schwerpunkt auf das Versagen der Justiz. Er schildert den Putschversuch und den Prozeß nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse. Erstmals wird, abgesehen von der großen vierbändigen Dokumentation, das Urteil vollständig abgedruckt. Daraus wird auch deutlich, wie skandalös der Freispruch Ludendorffs war. Erstmals wird die Biographie des damaligen Landgerichtsdirektors Dr. Georg Neithardt beleuchtet, der schon am 1. September 1933 den Dank der Nationalsozialisten empfing: Er wurde Präsident des Oberlandesgerichts München. Otto Gritschneder (geb. 1914), Promotion und juristische Examina in seiner Geburtsstadt München. Seit 1945 Rechtsanwalt, vorher Berufsverbot und fünfeinhalb Jahre Zwangsrekrutrierung in Hitlers "Wehr"macht. 1948 bis 1952 (parteiloser) Stadtrat in München, Autor zeitgeschichtlicher und juristischer Bücher, vieler Rundfunkkommentare und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften. Für zeithistorisch interessierte Leser, Ju risten, Historiker, Studenten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2002Rechtsbeuger
HITLER. Zum Prozeß nach dem gescheiterten "Marsch auf die Feldherrnhalle" am 9. November 1923 und dem skandalösen Urteil erschien jüngst ein lesenswertes Buch aus der Feder des in München lebenden Juristen Otto Gritschneder (Jahrgang 1914). Die nationalsozialistischen Justizbehörden attestierten ihm einst fachliche Eignung, aber gleichermaßen "politische Unzuverlässigkeit" und verwehrten ihm deshalb die Zulassung als Rechtsanwalt im "Dritten Reich". Gegenüber dem von Lothar Gruchmann und Reinhard Weber herausgegebenen mehrbändigen Standardwerk "Der Hitler-Prozeß 1924" hat Gritschneders Buch den Vorzug, daß erstmals Lebens- und Berufsdaten der im Hitler-Prozeß beteiligten Richter offengelegt werden. Nach Auswertung der unlängst freigegebenen Personalunterlagen und Spruchkammerakten kommt Gritschneder zu dem Befund, daß der Vorsitzende Richter Georg Neithardt "ein unfähiger, der rechten Szene zuneigender und den demokratiefeindlichen Politikern im Bayern der zwanziger Jahre höriger Richter" gewesen sei. Er habe den Nationalsozialisten den Weg zur Macht geebnet. Neithardt "gehörte zu den positivistischen Gesetzesanwendungslaufbahnbeamten, die den Namen ,Richter' zu Unrecht führten". Das Hitler-Urteil strotze "von Rechtsverstößen und Rechtsbeugungen": Das Bayerische Volksgericht (bestehend aus zwei Berufsrichtern und drei Laienbeisitzern) war offensichtlich für Hochverratsverfahren im Frühjahr 1924 nicht zuständig, ja seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (11. August 1919), auf die Neithardt den Eid geleistet hatte, illegitim. Eine pflichtgemäße Prüfung der gerichtlichen Zuständigkeit durch den Vorsitzenden Richter sei unterlassen worden. Die Ausweisung des wegen Hochverrats verurteilten Österreichers Adolf Hitler wäre laut Republikschutzgesetz zwingend vorgeschrieben gewesen. Unter Verletzung der Strafprozeßordnung habe Neithardt in rechtsbeugerischer Weise die Vorstrafen Hitlers (wegen fortgesetzter übler Nachrede und Landfriedensbruchs mit Bewährung) nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. Die Zubilligung beziehungsweise Inaussichtstellung einer weiteren Bewährungsfrist sei eine "klare Rechtsbeugung" gewesen. Die Verhängung der Mindeststrafe (fünf Jahre Festungshaft) für Hitler sei überdies fehlerhaft gewesen, da "gewichtige Straferschwerungsgründe" in der Urteilsbegründung vernachlässigt worden seien. (Otto Gritschneder: Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neithardt. Verlag C. H. Beck, München 2001. 167 Seiten, 18,50 Euro.)
HANS-JÜRGEN DÖSCHER
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HITLER. Zum Prozeß nach dem gescheiterten "Marsch auf die Feldherrnhalle" am 9. November 1923 und dem skandalösen Urteil erschien jüngst ein lesenswertes Buch aus der Feder des in München lebenden Juristen Otto Gritschneder (Jahrgang 1914). Die nationalsozialistischen Justizbehörden attestierten ihm einst fachliche Eignung, aber gleichermaßen "politische Unzuverlässigkeit" und verwehrten ihm deshalb die Zulassung als Rechtsanwalt im "Dritten Reich". Gegenüber dem von Lothar Gruchmann und Reinhard Weber herausgegebenen mehrbändigen Standardwerk "Der Hitler-Prozeß 1924" hat Gritschneders Buch den Vorzug, daß erstmals Lebens- und Berufsdaten der im Hitler-Prozeß beteiligten Richter offengelegt werden. Nach Auswertung der unlängst freigegebenen Personalunterlagen und Spruchkammerakten kommt Gritschneder zu dem Befund, daß der Vorsitzende Richter Georg Neithardt "ein unfähiger, der rechten Szene zuneigender und den demokratiefeindlichen Politikern im Bayern der zwanziger Jahre höriger Richter" gewesen sei. Er habe den Nationalsozialisten den Weg zur Macht geebnet. Neithardt "gehörte zu den positivistischen Gesetzesanwendungslaufbahnbeamten, die den Namen ,Richter' zu Unrecht führten". Das Hitler-Urteil strotze "von Rechtsverstößen und Rechtsbeugungen": Das Bayerische Volksgericht (bestehend aus zwei Berufsrichtern und drei Laienbeisitzern) war offensichtlich für Hochverratsverfahren im Frühjahr 1924 nicht zuständig, ja seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (11. August 1919), auf die Neithardt den Eid geleistet hatte, illegitim. Eine pflichtgemäße Prüfung der gerichtlichen Zuständigkeit durch den Vorsitzenden Richter sei unterlassen worden. Die Ausweisung des wegen Hochverrats verurteilten Österreichers Adolf Hitler wäre laut Republikschutzgesetz zwingend vorgeschrieben gewesen. Unter Verletzung der Strafprozeßordnung habe Neithardt in rechtsbeugerischer Weise die Vorstrafen Hitlers (wegen fortgesetzter übler Nachrede und Landfriedensbruchs mit Bewährung) nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. Die Zubilligung beziehungsweise Inaussichtstellung einer weiteren Bewährungsfrist sei eine "klare Rechtsbeugung" gewesen. Die Verhängung der Mindeststrafe (fünf Jahre Festungshaft) für Hitler sei überdies fehlerhaft gewesen, da "gewichtige Straferschwerungsgründe" in der Urteilsbegründung vernachlässigt worden seien. (Otto Gritschneder: Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neithardt. Verlag C. H. Beck, München 2001. 167 Seiten, 18,50 Euro.)
HANS-JÜRGEN DÖSCHER
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