1978, ein Dorf in der Eifel: Sanne und Ulrike haben Osterferien. Wenn sie nicht auf dem Hof helfen müssen, düsen sie mit ihren Fahrrädern durch die Gegend und kriegen alles mit. In zwei Monaten ist Fußball-WM, die Mädchen bekommen aber einfach nicht genug Hanuta-Bilder für ihre Sammelalben. Also schneiden sie ein paar Männerköpfe aus dem Fahndungsplakat in der Post. Denn das ganze Land ist gerade in Aufruhr über drei Buchstaben. RAF. Und dann geschieht tatsächlich ein Bankraub. Festgenommen wird der einzige Langhaarige im Dorf. Dass er es nicht gewesen sein kann, wissen Sanne und Ulrike genau. Und sie wissen noch viel mehr, Sachen, die nicht nur die Polizisten in der nächsten Kleinstadt interessieren würden ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2021Mädchen im Getriebe
Max Annas pirscht mit der RAF durch die Eifel
"Das erste Fußballsammelbild seit mehr als einer Woche. Ein Österreicher. Er heißt Hans Krankl. Nett sieht er irgendwie aus. Nicht so, als könnte er gut Fußball spielen. Aber wir haben noch keinen Österreicher, glaube ich." - Die Fußballweltmeisterschaft im Juni 1978 steht vor der Tür, Sammelbilder sind auch für Mädchen Pflicht, Bonanzaräder sowieso. Zwei Elfjährige, Sanne und Ulrike, haben Osterferien und eine unheimliche Neugier auf alles, was in ihrem stillen Eifeldorf geschieht. Viel ist es dem ersten Anschein nach nicht, aber die beiden haben von ihrem Versteck, dem Hochsitz, der dem Roman den Titel gibt, alles im Blick.
Nach zwei Romanen aus den späten Jahren der DDR hat sich der Berliner Schriftsteller Max Annas ans andere Ende der alten Bundesrepublik begeben, an die Grenze zu Luxemburg, erneut mit historischem Stoff im Gepäck: Der Deutsche Herbst liegt gerade ein halbes Jahr zurück, die RAF-Fahndungsplakate hängen in jedem Postamt, im kleinen Grenzverkehr blüht der Schmuggel, Zigaretten, Kaffee, am lukrativsten aber sind Drogen.
Dorfpolizist Reiter ist kein Titan seines Faches, aber Verdächtige fallen ihm schon auf. Zwei Lesben in einem Opel Ascona, die beim Überholen blinken. Das tut hier sonst niemand. Sanne und Ulrike aber sehen noch viel mehr, etwa den Bürgermeister im Mercedes, der mit Frau Söhnker in den Wald fährt; den langhaarigen Lehrling, der seinen amourösen Verpflichtungen nachkommt; die verrückte Frau Teichert, die immer wieder autoaggressiv in den Bach springt; die Polizisten, die bei strömendem Regen die deutsch-luxemburgischen Grenzschutz-Kooperationstage absolvieren.
Die Bauern sind in Aufruhr, weil ein mysteriöser Amerikaner sich in einem Cadillac über die Dörfer chauffieren lässt und unverhältnismäßig hohe Summen für manche Höfe bietet. Zudem häufen sich Straftaten. Erst wird ein Fahndungsplakat gestohlen. Einem tödlichen Verkehrsunfall folgt ein bewaffneter Raubüberfall, ein Verdächtiger wird festgenommen. Dass er es nicht gewesen sein kann, wissen nur Sanne und Ulrike. Die Bauern rufen nach dem Staat, so einer wie der Strauß, der könne es richten. Ein Bauernsohn stürzt mit dem Motorrad, ein Geist in schwarzem Anzug, mit Umhang und Schlapphut erschießt ihn. Auch dafür gibt es zwei Augenzeuginnen, die lieber auf eigenes Risiko weiter herumschnüffeln.
Max Annas traut sich, was leicht schiefgehen kann: Kinder als Ermittler, die eigentlich zum Ermitteln noch viel zu klein sind. Arg frühreif sind sie, gewitzt und furchtlos. Sie steigen in Häuser ein, sichern Beweismittel, geraten unter Beschuss und müssen mitansehen, wie zwei Frauen eine Frauenleiche in den Wald schleppen. Von der politischen Dimension haben die Mädchen keinen Begriff. Die überlässt Annas der Erinnerung beziehungsweise der Phantasie seiner Leser, die sich noch des Ausnahmezustands jener Jahre entsinnen. Und welche Rolle Hans Krankl bei der WM spielte.
Sanne funktioniert als Erzählerin, auch wenn sie gelegentlich weit enteilt wirkt. Der Autor hat noch diverse andere unzuverlässige Erzähler, denen er es überlässt, die Geschichte in vielen Kurzkapiteln multiperspektivisch voranzutreiben, ohne sie aufzulösen. Annas setzt hier stark auf die Ellipse, beschweigt im Zweifelsfall, überlässt vieles der Kombinationsgabe des Lesers, verweigert das auktoriale Händchen, das sicher durch den nächtlichen Wald führen könnte. Man kann ins Schlingern geraten, bis die Puzzleteile ein Bild andeuten.
"Der Hochsitz" zeigt, dass Max Annas neugierig auf andere Erzählweisen bleibt. Dafür riskiert er, dass ihm Konsumenten eindimensionaler Krimikost nicht folgen werden. Und, Serienfreunde, aufgepasst: Der Roman ist, neudeutsch, ein "Stand-alone", dem keine Fortsetzung folgen wird. Muss auch gar nicht. Das Finale, stilistisch abgekoppelt vom Rest, reserviert Annas für ein Ballett mit zwei Terroristinnen und zwei Polizisten, die sich unvermittelt mitten in der Nacht gegenüberstehen. Es spricht für Annas' Erzählwitz, wie er diese Szene löst. Einmal nur spielt hier die Vernunft eine Rolle, und die ist im Kriminalroman keine der üblichen Verdächtigen. HANNES HINTERMEIER.
Max Annas: "Der Hochsitz". Roman.
Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2021. 272 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Max Annas pirscht mit der RAF durch die Eifel
"Das erste Fußballsammelbild seit mehr als einer Woche. Ein Österreicher. Er heißt Hans Krankl. Nett sieht er irgendwie aus. Nicht so, als könnte er gut Fußball spielen. Aber wir haben noch keinen Österreicher, glaube ich." - Die Fußballweltmeisterschaft im Juni 1978 steht vor der Tür, Sammelbilder sind auch für Mädchen Pflicht, Bonanzaräder sowieso. Zwei Elfjährige, Sanne und Ulrike, haben Osterferien und eine unheimliche Neugier auf alles, was in ihrem stillen Eifeldorf geschieht. Viel ist es dem ersten Anschein nach nicht, aber die beiden haben von ihrem Versteck, dem Hochsitz, der dem Roman den Titel gibt, alles im Blick.
Nach zwei Romanen aus den späten Jahren der DDR hat sich der Berliner Schriftsteller Max Annas ans andere Ende der alten Bundesrepublik begeben, an die Grenze zu Luxemburg, erneut mit historischem Stoff im Gepäck: Der Deutsche Herbst liegt gerade ein halbes Jahr zurück, die RAF-Fahndungsplakate hängen in jedem Postamt, im kleinen Grenzverkehr blüht der Schmuggel, Zigaretten, Kaffee, am lukrativsten aber sind Drogen.
Dorfpolizist Reiter ist kein Titan seines Faches, aber Verdächtige fallen ihm schon auf. Zwei Lesben in einem Opel Ascona, die beim Überholen blinken. Das tut hier sonst niemand. Sanne und Ulrike aber sehen noch viel mehr, etwa den Bürgermeister im Mercedes, der mit Frau Söhnker in den Wald fährt; den langhaarigen Lehrling, der seinen amourösen Verpflichtungen nachkommt; die verrückte Frau Teichert, die immer wieder autoaggressiv in den Bach springt; die Polizisten, die bei strömendem Regen die deutsch-luxemburgischen Grenzschutz-Kooperationstage absolvieren.
Die Bauern sind in Aufruhr, weil ein mysteriöser Amerikaner sich in einem Cadillac über die Dörfer chauffieren lässt und unverhältnismäßig hohe Summen für manche Höfe bietet. Zudem häufen sich Straftaten. Erst wird ein Fahndungsplakat gestohlen. Einem tödlichen Verkehrsunfall folgt ein bewaffneter Raubüberfall, ein Verdächtiger wird festgenommen. Dass er es nicht gewesen sein kann, wissen nur Sanne und Ulrike. Die Bauern rufen nach dem Staat, so einer wie der Strauß, der könne es richten. Ein Bauernsohn stürzt mit dem Motorrad, ein Geist in schwarzem Anzug, mit Umhang und Schlapphut erschießt ihn. Auch dafür gibt es zwei Augenzeuginnen, die lieber auf eigenes Risiko weiter herumschnüffeln.
Max Annas traut sich, was leicht schiefgehen kann: Kinder als Ermittler, die eigentlich zum Ermitteln noch viel zu klein sind. Arg frühreif sind sie, gewitzt und furchtlos. Sie steigen in Häuser ein, sichern Beweismittel, geraten unter Beschuss und müssen mitansehen, wie zwei Frauen eine Frauenleiche in den Wald schleppen. Von der politischen Dimension haben die Mädchen keinen Begriff. Die überlässt Annas der Erinnerung beziehungsweise der Phantasie seiner Leser, die sich noch des Ausnahmezustands jener Jahre entsinnen. Und welche Rolle Hans Krankl bei der WM spielte.
Sanne funktioniert als Erzählerin, auch wenn sie gelegentlich weit enteilt wirkt. Der Autor hat noch diverse andere unzuverlässige Erzähler, denen er es überlässt, die Geschichte in vielen Kurzkapiteln multiperspektivisch voranzutreiben, ohne sie aufzulösen. Annas setzt hier stark auf die Ellipse, beschweigt im Zweifelsfall, überlässt vieles der Kombinationsgabe des Lesers, verweigert das auktoriale Händchen, das sicher durch den nächtlichen Wald führen könnte. Man kann ins Schlingern geraten, bis die Puzzleteile ein Bild andeuten.
"Der Hochsitz" zeigt, dass Max Annas neugierig auf andere Erzählweisen bleibt. Dafür riskiert er, dass ihm Konsumenten eindimensionaler Krimikost nicht folgen werden. Und, Serienfreunde, aufgepasst: Der Roman ist, neudeutsch, ein "Stand-alone", dem keine Fortsetzung folgen wird. Muss auch gar nicht. Das Finale, stilistisch abgekoppelt vom Rest, reserviert Annas für ein Ballett mit zwei Terroristinnen und zwei Polizisten, die sich unvermittelt mitten in der Nacht gegenüberstehen. Es spricht für Annas' Erzählwitz, wie er diese Szene löst. Einmal nur spielt hier die Vernunft eine Rolle, und die ist im Kriminalroman keine der üblichen Verdächtigen. HANNES HINTERMEIER.
Max Annas: "Der Hochsitz". Roman.
Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2021. 272 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Auf den Krimi-Autor Max Annas lässt Rezensent Thomas Wörtche nichts kommen. Wenn Annas nach zwei DDR-Romanen nun die BRD-Geschichte in den Blick nimmt, dann macht sich Wörtche darauf gefasst, die siebziger Jahre "in einer Nussschale" präsentiert zu bekommen: Fußball-WM, RAF-Terrorismus, westdeutsche Provinz und - als Referenz an Dürrenmatt - Geld streuende Amerikaner. Sprachlich und literarisch überzeugend findet Wörtche diesen Roman und auch als Versuch überzeugend, bundesdeutsche Geschichte mit Mitteln von heute zu reflektieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Literarisch ist das als Konzert der Stimmen so perfekt geschnitten wie atmosphärisch authentisch. So war's. Welt am Sonntag 20210822
Rezensent Hannes Hintermeier mag den neuen Krimi von Max Annas, der multiperspektivisch in vielen, kurzen Kapiteln die Geschichte eines Eifeldorfs bei Luxemburg, kurz nach dem Deutschen Herbst erzählt. Das Buch ist bereits der dritte Roman des Berliner Schriftstellers, der in den späten DDR-Jahren spielt, doch diesmal ist die alte BRD hauptsächlich Ort der Handlung, weiß Hintermeier. Dass die zwei elfjährigen Protagonistinnen Sanne und Ulrike als Kinder-Ermittlerinnen fungieren, findet der Rezensent mutig, doch die Frühreife, Gewitztheit und Furchtlosigkeit der beiden macht das ganze gut möglich. Durch die unzuverlässige Erzählweise aller ProtagonistInnen und die unerwähnte politische Ebene riskiert der Autor Hintermeier zufolge zwar, dass viele der LeserInnen der Geschichte nicht folgen könnten, er freut sich aber über die Neugier Annas' auf verschiedene Erzählweisen. Der Rezensent weiß, dass dieser Roman keine Fortsetzung bekommen wird, aber das kann er verkraften und freut sich stattdessen lieber über die gewitzte Lösung des "stilistisch abgekoppelten" Finales.
© Perlentaucher Medien GmbH
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