Nicolas Berg untersucht die Schwierigkeiten der westdeutschen Geschichtswissenschaft im Umgang mit dem Holocaust.Geschichte und Gedächtnis, so Charles Péguy Anfang des Jahrhunderts, stehen im »rechten Winkel« zueinander: jene verlaufe parallel zum Ereignis, dieses gehe senkrecht durch es hindurch. Nicolas Berg zeigt, wie das Verhältnis der deutschen Nachkriegshistoriographie zur NS-Judenvernichtung nur mit dem Blick auf beides zugleich historisiert werden kann. Er ergänzt den historiographiegeschichtlichen Ansatz durch die Gedächtnisgeschichte und fragt nicht nur nach dem Wissensstand im Verlauf der Jahrzehnte, sondern auch nach seiner jeweiligen Historizität und seiner Veränderung. Fokus der Analyse ist der sich wandelnde Begriff von »Auschwitz« in der westdeutschen Geschichtswissenschaft vom Ende des Zweiten Weltkrieges an bis zur gegenwärtigen Diskussion. Beleuchtet werden sowohl die Spannungen zwischen den Perspektiven verschiedener Generationen, als auch die Auseinandersetzungen um die angemessenen Theorien, Methoden und Begriffe. Dabei werden nicht nur die kanonisierten Schlüsselschriften herangezogen, sondern auch lebensgeschichtliche Texte wie Briefwechsel, Tagebücher, Erinnerungen und Autobiographien berücksichtigt, viele von ihnen aus Archivbeständen. Daß es hinter der bekannt mühevollen deutschen Geschichtserinnerung an den Holocaust eine jüdische Außenseiter-Perspektive gab, der viele Jahre lang der wissenschaftliche Wert aberkannt wurde, wird an der Ablehnung der Arbeiten von Joseph Wulf deutlich, die in der vorliegenden Studie erstmals rehabilitiert werden.3. durchgesehene Auflage mit Personenregister
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ein Problem der mittlerweile einsetzenden Historisierung der alten Bundesrepublik sieht Rezensent Christian Geulen in der Schwierigkeit, von den Positionen, die untersucht werden, loszukommen. Eine Schwierigkeit, die seines Erachtens auch in Nicolas Bergs systematischer Rekonstruktion der westdeutschen Holocaustforschung wiederkehrt. Wie Geulen ausführt, bespricht Berg alle wichtigen Positionen der vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnte, von den frühen Darstellungen des "Dritten Reichs" von Friedrich Meinecke oder Gerhard Ritter über die des Münchner Instituts für Zeitgeschichte bis hin zu den Möglichkeiten, den Nationalsozialismus strukturalistisch zu deuten. Damit liegt nach Auskunft Geulens die "erste Gesamtdarstellung" dieses Themas überhaupt vor, die zudem so "umfassend und sorgfältig recherchiert" sei, "dass sie sicher für eine ganze Weile ein Standardwerk in diesem Bereich sein wird". Kritisch sieht Geulen allerdings, dass bei Berg nur Ansätze legitim erscheinen, die sich nicht nur der Erforschung, sondern vor allem der Erinnerung des Holocausts widmen, während jede bewusste oder unbewusste Abweichung von dieser Betroffenheit in Bergs Sichtweise auf den falschen Weg führe. Dabei vernachlässige Berg die Geschichte des Holocausts, seine Vorgeschichte ebenso wie seine Nachgeschichte. Geulen hält ihm überdies vor in den bewertenden Passagen seines Buches, "Erinnerung und Erforschung als Alternativen gegeneinander auszuspielen". Als eine "Art voluminöse Sammelbesprechung der westdeutschen Holocaustliteratur seit 1945" findet er Bergs Buch dennoch sehr verdienstvoll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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