Christoph Maria Merki untersucht in seiner Studie die Anfänge des motorisierten Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz bis zum Jahre 1930. Die Verbreitung des Automobils wird meist mit der Erfindung einer "selbstfahrenden" Maschine erklärt, die ihre Vorläufer Kutsche, Fuhrwerk und Fahrrad betriebswirtschaftlich hinter sich gelassen hat. Diese Erklärung greift nach Merkis Untersuchungen zu kurz. In Gang gesetzt wurde die Motorisierung durch die Statusbedürfnisse der vergnügungssüchtigen Oberschicht der Metropole Paris. Sie begeisterte sich um 1900 für Autorennen und das Idol des chevaleresken "Herrenfahrers". Das Auto stieß anfänglich auf großen gesellschaftlichen Widerstand, weil es die allen offenstehende Straße zu einer bloßen Fahrbahn entwertete. Als der sportlich-männliche Charakter des PKWs in den Hintergrund trat, flaute der Widerstand ab. Dazu trug auch die Politik bei. Sie machte die Kraftfahrer für jene Kosten haftbar, die diese der Allgemeinheit aufbürdeten (Straßenbau, Unfallgefahr). Im Gegensatz zum Pkw hatten Nutzfahrzeuge wie LKW und Omnibus von Anfang an freie Fahrt. Weniger angefeindet wurde auch das Motorrad, das sich vor allem in Deutschland zu einem wichtigen Vorreiter der Motorisierung entwickelte.
Merkis Studie stützt sich auf zahlreiche, bislang meist unbekannte Dokumente aus mehreren Dutzend Archiven und Bibliotheken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2002Kutscher, wollt ihr ewig schlafen?
Tollkühne Männer in ihren rasenden Kisten: Christoph Maria Merki zum frühen Automobilismus
"Was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten?" fragte im November 1928 die Zeitschrift "Literarische Welt" den Ökonomen Werner Sombart. Dieser machte aus seinem Groll keinen Hehl und antwortete: "Verbieten: 1. allen Luftverkehr, 2. allen Automobilverkehr und 3. allen Motorradverkehr." Als die Allgemeine Automobil-Zeitung bei Sombart nachfragte, gab dieser Vollgas. In seiner Antwort an die Redaktion geißelte Sombart das Motorrad als "Landplage" und vertrat die Ansicht, der Automobilverkehr habe diverse Gegenden von Paradiesen zu Höllen verwandelt. Der Ökonom Sombart meinte, Flugzeug, Motorrad und Automobil hätten keine ökonomische Bedeutung, allenfalls der Lastkraftwagen.
Christoph Maria Merki, der das amüsante Dokument in seiner preisgekrönten Berner Habilitationsschrift im Anhang abdruckt, überschätzt solche pointierten Einzelstimmen glücklicherweise nicht. Er weiß, daß sie für die Verbreitung ebensowenig ausschlaggebend waren wie ihr Gegenteil, die automobilfreundlichen Selbstinszenierungen früher Dandys, wie die vielzitierte Verherrlichung seiner Alpenüberquerung von Otto Julius Bierbaum, die dieser 1902 unternahm. Für die Geschichte des frühen Automobilismus ist Merkis Buch ein Glücksfall: Dort, wo bisher parteiische Firmengeschichten und empirisch nicht abgesicherte, aber historisch argumentierende Technikphilosophie das Bild dominierten, hat der Berner Sozial- und Wirtschaftshistoriker eine planvoll angelegte Quellenstudie vorgelegt, die zudem durch Lesbarkeit und visuellen Charme einnimmt.
Merki beobachtet die Ausbreitung des Automobils in seinen ersten Jahrzehnten und fragt nach Ursachen, Bedingungen und Verlaufsformen der Motorisierung. Viele Grundlinien waren zuvor bereits bekannt, doch Merki vertieft die Fragen und bringt bei wesentlichen Details Korrekturen an. Keineswegs, so Merki, war das Automobil anfangs eine Konkurrenzunternehmung zur Eisenbahn. Der Kampf um die Vorherrschaft auf der Straße spielte sich vielmehr zwischen ihm und dem Pferdefuhrwerk ab: Die Benzindroschke löste sukzessiv den "Hafermotor" ab. Während die Motorpresse auf schlafende Kutscher und schwerhörig-renitente Passanten schimpfte, schoß sich das Publikum auf das Feindbild von der "arroganten und mörderischen Sport-Plutokratie" und den "Auto-Wildlingen" ein.
Seiner Durchsetzung zugute kamen zweifellos technische Fortschritte, die in benachbarten Wirtschaftszweigen stattfanden. Achse an Achse bewegte sich der frühe Automobil- mit dem Maschinenbau sowie den Kutschen. Heute noch wird die Anlehnung an den Kutschenbau in den sprachlichen Wendungen vom "Chassis", "Kabriolett", "Limousine" und so weiter deutlich, während der "Chauffeur" auf das Vorläufergefährt Dampfkraftwagen verweist, das mit Kohle betrieben wurde. Auch das Fahrrad rollte als Wegbereiter des Automobils voran, und zwar nicht nur in der Technik (Luftreifen, Kettenantrieb, Kugellager), sondern auch bei Marketing, Verbandsbildung, Besteuerung und bei der Mentalität seiner Benutzer: Radler und "Autler" schätzten beide den Geschwindigkeitsrausch den ihre Renngefährte hervorrufen.
Der kulturelle Kontext, in dem sich der Automobilismus als eine Lebensart etablierte, war den gleichen Vorbildern geschuldet: Von Pferde- und Fahrradrennen übernahmen Sportsleute und Fabrikanten die Emotionalisierungen, den Starkult und das Sponsoring und entwickelten dabei schnell modern anmutende Strategien der Verkaufsförderung, ohne allerdings die albernen Begriffe des modernen Marketing zu verwenden. Diese Ausbreitung, die sich anfangs auf das Prestigebedürfnis wohlhabender Privatleute stützte ("Das Autofahren ist herrlich, das Autobesitzen noch herrlicher"), geriet in eine brisante Wechselwirkung mit staatlicher Rahmensetzung, je größere Verbreitung das Automobil fand. In der Analyse von fiskalischen Maßnahmen der Verkehrssteuerung, der Entwicklung der Verkehrszeichen und des Verkehrsrechts liegen die innovativsten Teile von Merkis kurzweiligem Buch. Dabei wird sichtbar, wie der errungene Konsens zwischen dem allgemeinen Publikum und dem Automobilismus verrechtlicht wurde und in Formen des ökonomischen Interessenausgleichs geriet. Zudem verhinderten technische Maßnahmen eine weitere Eskalation der Konflikte: Hupe, Blinker und Rückspiegel ermöglichten eine Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern, Gebots-, Warn- und Verbotstafeln sowie die famose Ampel kamen obrigkeitlich-regulierend hinzu.
Die Unterschiede zwischen den drei Ländern stellen sich am Ende als vergleichsweise gering dar. Der raschen Ausbreitung in Frankreich kam - so Merkis intelligente Spekulation - womöglich eine höfische Tradition des Luxuskonsums und Genießens entgegen. Umgekehrt hatte es der profane Lastkraftwagen hier um so schwerer. Deutschland entwickelte sich unter dem Vorzeichen begünstigender Steuergesetzgebung zu der Motorradnation überhaupt. In der Schweiz trafen die Automobilisten auf die größten Hindernisse, wie auch das legendäre Totalverbot des Automobils in Graubünden zwischen 1900 und 1925 einen internationalen Sonderfall des frühen Automobilismus darstellt: Aus Bündener Sicht gerieten die ohnehin kostspieligen Alpenstraßen im Unterhalt zu teuer, wenn auswärtige Automobile sie abnützten. Die Kritik an Unfällen, Lärm, Gestank und Verdrängung des allgemeinen Publikums von der Straße kulminierte hier in einer kantonalen Gesetzgebung, die erst mit der fortschreitenden Motorisierung der Schweiz revidiert wurde.
Merki diskutiert eine Fülle von behindernden und begünstigenden Gesichtspunkten. Es gelingt ihm dabei, technikgeschichtliche, mentalitätsgeschichtliche, ökonomische und juristische Aspekte in klaren Grundlinien zu analysieren. Wie so oft sind auch hier die historischen Geschlechterrollenklischees und medizingeschichtlichen Ausführungen ein besonderer Quell des Amüsements: Ärzte empfahlen das Autofahren als Therapeutikum wahlweise zur Nervenstärkung oder -beruhigung, Fahrer schwärmten von der erfrischenden "Luftdusche", während die Gerichtspsychiater die Frauen am liebsten ob ihrer "Nervosität" vom Steuer verbannt hätten. Im Detail ließe sich manches vertiefen und noch differenzierter darstellen, als es Merkis zusammenfassende Studie betreibt. Auch die Basis der gedruckten Materialien hätte noch verbreitert werden können. Ob deswegen allerdings andere Ergebnisse zutage getreten wären, darf man bezweifeln.
MILOS VEC.
Christoph Maria Merki: "Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930." Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2002. 471 S., 44 S/W-Abb., 2 Karten, 30 Tab., geb., 45,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tollkühne Männer in ihren rasenden Kisten: Christoph Maria Merki zum frühen Automobilismus
"Was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten?" fragte im November 1928 die Zeitschrift "Literarische Welt" den Ökonomen Werner Sombart. Dieser machte aus seinem Groll keinen Hehl und antwortete: "Verbieten: 1. allen Luftverkehr, 2. allen Automobilverkehr und 3. allen Motorradverkehr." Als die Allgemeine Automobil-Zeitung bei Sombart nachfragte, gab dieser Vollgas. In seiner Antwort an die Redaktion geißelte Sombart das Motorrad als "Landplage" und vertrat die Ansicht, der Automobilverkehr habe diverse Gegenden von Paradiesen zu Höllen verwandelt. Der Ökonom Sombart meinte, Flugzeug, Motorrad und Automobil hätten keine ökonomische Bedeutung, allenfalls der Lastkraftwagen.
Christoph Maria Merki, der das amüsante Dokument in seiner preisgekrönten Berner Habilitationsschrift im Anhang abdruckt, überschätzt solche pointierten Einzelstimmen glücklicherweise nicht. Er weiß, daß sie für die Verbreitung ebensowenig ausschlaggebend waren wie ihr Gegenteil, die automobilfreundlichen Selbstinszenierungen früher Dandys, wie die vielzitierte Verherrlichung seiner Alpenüberquerung von Otto Julius Bierbaum, die dieser 1902 unternahm. Für die Geschichte des frühen Automobilismus ist Merkis Buch ein Glücksfall: Dort, wo bisher parteiische Firmengeschichten und empirisch nicht abgesicherte, aber historisch argumentierende Technikphilosophie das Bild dominierten, hat der Berner Sozial- und Wirtschaftshistoriker eine planvoll angelegte Quellenstudie vorgelegt, die zudem durch Lesbarkeit und visuellen Charme einnimmt.
Merki beobachtet die Ausbreitung des Automobils in seinen ersten Jahrzehnten und fragt nach Ursachen, Bedingungen und Verlaufsformen der Motorisierung. Viele Grundlinien waren zuvor bereits bekannt, doch Merki vertieft die Fragen und bringt bei wesentlichen Details Korrekturen an. Keineswegs, so Merki, war das Automobil anfangs eine Konkurrenzunternehmung zur Eisenbahn. Der Kampf um die Vorherrschaft auf der Straße spielte sich vielmehr zwischen ihm und dem Pferdefuhrwerk ab: Die Benzindroschke löste sukzessiv den "Hafermotor" ab. Während die Motorpresse auf schlafende Kutscher und schwerhörig-renitente Passanten schimpfte, schoß sich das Publikum auf das Feindbild von der "arroganten und mörderischen Sport-Plutokratie" und den "Auto-Wildlingen" ein.
Seiner Durchsetzung zugute kamen zweifellos technische Fortschritte, die in benachbarten Wirtschaftszweigen stattfanden. Achse an Achse bewegte sich der frühe Automobil- mit dem Maschinenbau sowie den Kutschen. Heute noch wird die Anlehnung an den Kutschenbau in den sprachlichen Wendungen vom "Chassis", "Kabriolett", "Limousine" und so weiter deutlich, während der "Chauffeur" auf das Vorläufergefährt Dampfkraftwagen verweist, das mit Kohle betrieben wurde. Auch das Fahrrad rollte als Wegbereiter des Automobils voran, und zwar nicht nur in der Technik (Luftreifen, Kettenantrieb, Kugellager), sondern auch bei Marketing, Verbandsbildung, Besteuerung und bei der Mentalität seiner Benutzer: Radler und "Autler" schätzten beide den Geschwindigkeitsrausch den ihre Renngefährte hervorrufen.
Der kulturelle Kontext, in dem sich der Automobilismus als eine Lebensart etablierte, war den gleichen Vorbildern geschuldet: Von Pferde- und Fahrradrennen übernahmen Sportsleute und Fabrikanten die Emotionalisierungen, den Starkult und das Sponsoring und entwickelten dabei schnell modern anmutende Strategien der Verkaufsförderung, ohne allerdings die albernen Begriffe des modernen Marketing zu verwenden. Diese Ausbreitung, die sich anfangs auf das Prestigebedürfnis wohlhabender Privatleute stützte ("Das Autofahren ist herrlich, das Autobesitzen noch herrlicher"), geriet in eine brisante Wechselwirkung mit staatlicher Rahmensetzung, je größere Verbreitung das Automobil fand. In der Analyse von fiskalischen Maßnahmen der Verkehrssteuerung, der Entwicklung der Verkehrszeichen und des Verkehrsrechts liegen die innovativsten Teile von Merkis kurzweiligem Buch. Dabei wird sichtbar, wie der errungene Konsens zwischen dem allgemeinen Publikum und dem Automobilismus verrechtlicht wurde und in Formen des ökonomischen Interessenausgleichs geriet. Zudem verhinderten technische Maßnahmen eine weitere Eskalation der Konflikte: Hupe, Blinker und Rückspiegel ermöglichten eine Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern, Gebots-, Warn- und Verbotstafeln sowie die famose Ampel kamen obrigkeitlich-regulierend hinzu.
Die Unterschiede zwischen den drei Ländern stellen sich am Ende als vergleichsweise gering dar. Der raschen Ausbreitung in Frankreich kam - so Merkis intelligente Spekulation - womöglich eine höfische Tradition des Luxuskonsums und Genießens entgegen. Umgekehrt hatte es der profane Lastkraftwagen hier um so schwerer. Deutschland entwickelte sich unter dem Vorzeichen begünstigender Steuergesetzgebung zu der Motorradnation überhaupt. In der Schweiz trafen die Automobilisten auf die größten Hindernisse, wie auch das legendäre Totalverbot des Automobils in Graubünden zwischen 1900 und 1925 einen internationalen Sonderfall des frühen Automobilismus darstellt: Aus Bündener Sicht gerieten die ohnehin kostspieligen Alpenstraßen im Unterhalt zu teuer, wenn auswärtige Automobile sie abnützten. Die Kritik an Unfällen, Lärm, Gestank und Verdrängung des allgemeinen Publikums von der Straße kulminierte hier in einer kantonalen Gesetzgebung, die erst mit der fortschreitenden Motorisierung der Schweiz revidiert wurde.
Merki diskutiert eine Fülle von behindernden und begünstigenden Gesichtspunkten. Es gelingt ihm dabei, technikgeschichtliche, mentalitätsgeschichtliche, ökonomische und juristische Aspekte in klaren Grundlinien zu analysieren. Wie so oft sind auch hier die historischen Geschlechterrollenklischees und medizingeschichtlichen Ausführungen ein besonderer Quell des Amüsements: Ärzte empfahlen das Autofahren als Therapeutikum wahlweise zur Nervenstärkung oder -beruhigung, Fahrer schwärmten von der erfrischenden "Luftdusche", während die Gerichtspsychiater die Frauen am liebsten ob ihrer "Nervosität" vom Steuer verbannt hätten. Im Detail ließe sich manches vertiefen und noch differenzierter darstellen, als es Merkis zusammenfassende Studie betreibt. Auch die Basis der gedruckten Materialien hätte noch verbreitert werden können. Ob deswegen allerdings andere Ergebnisse zutage getreten wären, darf man bezweifeln.
MILOS VEC.
Christoph Maria Merki: "Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930." Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2002. 471 S., 44 S/W-Abb., 2 Karten, 30 Tab., geb., 45,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz begeistert ist Milos Vec von der "preisgekrönten" Habilitationsschrift des Berner Sozial- und Wirtschaftshistorikers Christoph Maria Merki über die frühen Jahre des Automobils. Geradezu ein "Glücksfall" sei diese Studie, denn bisher habe es über dieses Kapitel der Autogeschichte nur "parteiische Firmengeschichten" oder eine empirisch nicht belegte "Technikphilosophie" gegeben. Die "planvoll angelegte Quellenstudie", in der Merki technik- und mentalitätsgeschichtliche, ökonomische und juristische Aspekte "klar" analysiert, schafft da endlich Abhilfe, freut sich der Rezensent. "Im Detail ließe sich manches vertiefen", merkt Vec an, doch zweifelt er daran, dass dies noch andere Ergebnisse zeitigen würde als die "zusammenfassende Studie" des Schweizer Historikers, die auch noch gut lesbar und visuell ansprechend ist, wie Vec betont.
© Perlentaucher Medien GmbH
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