Der Bürgermeister von Jerusalem, Yusuf Diya al-Khalidi, schrieb 1899, beunruhigt über die Forderung nach einer jüdischen Heimstätte in Palästina, einen Brief an Theodor Herzl: Das Land habe eine einheimische Bevölkerung, die ihre Vertreibung nicht akzeptieren würde. Er schloss mit den Worten: »In Gottes Namen, lasst Palästina in Frieden.« So beginnt Rashid Khalidi, der Groß-Großneffe von al-Khalidi, diese Gesamtdarstellung des Konflikts aus palästinensischer Perspektive.
Rashid Khalidi, Nachfolger Edward Saids an der Columbia University und einer der führenden Historiker des Nahen Ostens, stützt sich auf eine Fülle von unerschlossenem Archivmaterial. Er zeichnet die Geschichte eines hundertjährigen Kolonialkriegs gegen die Palästinenser nach und legt den Finger auch auf die Fehler der palästinensischen Führung.
Rashid Khalidi, Nachfolger Edward Saids an der Columbia University und einer der führenden Historiker des Nahen Ostens, stützt sich auf eine Fülle von unerschlossenem Archivmaterial. Er zeichnet die Geschichte eines hundertjährigen Kolonialkriegs gegen die Palästinenser nach und legt den Finger auch auf die Fehler der palästinensischen Führung.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Eckhard Jesse kritisiert das Buch des amerikanisch-palästinensischen Historikers Rashid Khalidis über die historischen Ursachen des Nahostkonflikts als unfair. Zwar findet er die erzählerische Herangehensweise Khalidis, der neben Archivmaterial auch Erlebnisse seiner Familie in den Text einbaut, anschaulich, doch hätte er sich mehr Analyse und Differenziertheit gewünscht. Khalidis Wahrnehmung findet er selektiv, etwa wenn der Autor Israel durchgängig als agierenden, Palästina als reagierenden Akteur im Konflikt darstellt. Khalidi ist für Jesse ein eindeutiger Fürsprecher der Palästinenser. Diese Position des Autors muss der Leser sich klarmachen, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.06.2024Modernisierung eines Mythos
Der Historiker Rashid Khalidi kritisierte einst auch die arabischen Eliten. Jetzt hat er
ein Buch über die jüngere Geschichte Palästinas geschrieben. Von Reinhard Schulze
Vor 40 Jahren begann in der israelischen akademischen Öffentlichkeit ein Prozess, der das historische Selbstverständnis, auf das Israel seine politische Kultur gründete, einer grundlegenden Revision unterzog. Soziologische und zeithistorische Forschungen unterwarfen die geschichtspolitischen Leitmotive der israelischen Deutung einer minutiösen Kritik: Warum verließen die palästinensischen Araber das Land? Warum hat Israel den Krieg von 1948 gewonnen? War es ein Kampf zwischen David und Goliath? Gab es wirklich eine geschlossene Ablehnungsfront der arabischen Staaten gegen Friedensschlüsse vor 1967? War Israel wirklich der Schmelztiegel, der den vielen Juden eine gleichberechtigte Heimat schuf? Der israelische Streit weckte die Hoffnung, dass die Überwindung einer historisch-mythischen Selbstblockade dem Staat Israel eine neue, moderne Legitimation verleihen und der komplexen israelischen Gesellschaft neue Wege der Rechtfertigung einer sozialen Integration eröffnen würde, die das Jüdischsein des Staates mit der kulturellen Pluralität des Landes politisch verbindet.
Der „Krieg der Historiker“ (Avi Shlaim) erreichte in den Neunzigerjahren einen ersten Höhepunkt, zeitgleich mit den zunehmenden Bemühungen um einen Friedensprozess im Nahen Osten. Nicht nur die akademische Welt suchte damals nach palästinensischen Historikerinnen und Historikern, die in ähnlicher Weise das historische Selbstverständnis des arabischen Palästina einer fundamentalen Kritik unterziehen und damit die ideologische Selbstblockade aufbrechen würden. Mit einer solchen Kritik, so die Erwartung, würde Palästina als Gesellschaft neue Legitimität gewinnen und sich einer Souveränität vergewissern, auf deren Grundlage ein moderner Zivilstaat gegründet werden könnte.
Ein Name, der in dieser Zeit immer wieder genannt wurde, war der des Palästinahistorikers Rashid Khalidi. Khalidi, der selbst an der Madrider Konferenz von 1991 teilgenommen hatte, galt zwar als Historiker der PLO (was er selbst stets bestritt), aber der damals an der University of Chicago lehrende Historiker war einer der einflussreichsten Kommentatoren der palästinensischen Geschichte, die selbst genealogisch mit Palästina verbunden waren. Tatsächlich ließen einige seiner akademischen Schriften vermuten, dass er mit den Neuen Historikern in Israel gleichziehen wollte. Insbesondere seine Kritik an der Politik der arabisch-palästinensischen Eliten weckte Erwartungen.
Nach seiner Berufung an die Columbia University in New York kehrte der 1948 in New York geborene Khalidi jedoch zum klassischen Modell der palästinensischen Nationalgeschichte zurück und radikalisierte es sogar. Sein 2006 erschienener historischer Essay „The Iron Cage“, der das Scheitern des arabischen Palästina in seinem Bemühen um Staatlichkeit thematisiert, erinnert nicht nur im Titel an Vladimir Ze’ev Jabotinskys Essay „The Iron Wall – We and the Arabs“ von 1923, sondern auch in der Grundthese: Israel habe sich von seiner arabischen Umwelt durch eine eiserne Mauer getrennt, die nun das arabische Palästina wie ein Käfig umschließe.
14 Jahre später veröffentlichte Khalidi unter dem Titel „The Hundred Years’ War on Palestine: A History of Settler Colonialism and Resistance, 1917 – 2017“ eine Summe seiner historischen Forschungen zur jüngeren palästinensischen Geschichte, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Für die Übersetzung wurde eine als „Nachbemerkung“ bezeichnete Betrachtung des „jüngsten Krieges“ in Gaza angefügt. Wer gehofft hatte, Khalidi würde die Chance nutzen, die palästinensische Nationalgeschichtsschreibung aus ihrer Selbstblockade zu befreien (die darin besteht, dass sie sich nicht auf die akademische Kritik ihrer Narrative einlässt), sieht sich jedoch enttäuscht.
Das Buch bietet nicht den Hauch einer Revision. Im Gegenteil: Khalidi radikalisiert seine bereits im Aufsatz von 2006 dargelegte Deutung zu einer parteiischen Ereignisgeschichte, die in ein Potpourri von geschilderten Ereignissen mündet, die keinem analytischen Verfahren unterworfen und daher auch nicht durch klare Schlussfolgerungen oder Hypothesen argumentativ erschlossen werden.
In seinem Nachwort fasst Khalidi die „Grundthesen“ seines Buchs selbst wie folgt zusammen: „Ich habe darin dargestellt, dass die Entwicklungen in Palästina im Wesentlichen auf einen mehrstufigen Krieg zurückgehen, den verschiedene Großmächte im Bündnis mit der zionistischen Bewegung gegen die in Palästina lebende Bevölkerung geführt haben – eine Bewegung, die zunächst zugleich siedlerkolonialistisch und nationalistisch war und auf einen Bevölkerungsaustausch in der angestammten Heimat der Palästinenser abzielte. Als Israel als Nationalstaat gegründet wurde, schlossen die Großmächte ein enges Bündnis mit diesem neuen Staat. Während dieses hundertjährigen Prozesses haben sich die Palästinenser der Usurpation ihres Landes widersetzt.“
Die Assoziation mit dem Hundertjährigen Krieg in Frankreich klingt bewusst gewählt: So wie sich Frankreich in einem langen Krieg schließlich von der englischen Herrschaft befreit habe, so werde sich auch das palästinensische Volk von der zionistischen Herrschaft befreien. Khalidis Ausgangspunkt ist im Großen und Ganzen eine nationalromantische Verklärung der vormodernen Geschichte des Landes, das in einem verschlafenen Winkel der Weltgeschichte ein beschauliches Leben geboten habe. Plötzlich sei es zum Objekt einer Verschwörung welthistorischen Ausmaßes geworden.
Britische Imperialisten hätten im Bündnis mit den Zionisten das Land zum Ziel eines siedlerkolonialistischen Projekts gemacht, das in der Balfour-Deklaration von 1917 politisch festgeschrieben worden sei. Erzählerischer Höhepunkt des Buchs ist die Nakba von 1948/49, die Khalidi auf seine eigene Familiengeschichte bezieht und als geplante Politik der Vertreibung interpretiert. Im Kern geht es Khalidi darum, die palästinensische Geschichte als eine Geschichte des aktiven Widerstands gegen eine siedlerkolonialistische Verschwörung zu deuten.
Diese Verschwörung richtete sich gegen den gezielten „Austausch“ der einheimischen Bevölkerung durch eine kolonialistische Einwanderergesellschaft, die von Agenturen des Zionismus gesteuert wurde und im Dienst eines größeren imperialistischen Projekts stand, das zunächst von Großbritannien und dann von den USA getragen wurde. Palästina sei eine Geschichte des Widerstands, die Palästinenser seien nicht nur Opfer, sondern mächtige Subjekte dieses Widerstands. Die Geschichte Palästinas müsse daher als Geschichte des Kampfes um die Rechte der Palästinenser, ja als permanenter Kampf um die Existenz des palästinensischen Volkes verstanden werden. Dass dieser Kampf bereits 100 Jahre andauere, sei auf das Machtgefälle zurückzuführen, das seit Beginn des Krieges zwischen dem Imperium, dessen Agenturen und der palästinensischen Gesellschaft bestanden habe. Es sei ein Krieg gegen das palästinensische Volk, der in sieben „Kriegserklärungen“ gipfelte, die Khalidi zum Gliederungsprinzip seines Buchs macht.
Hier finden sich alle Topoi wieder, die die alte nationale Geschichtsmythologie bestimmen: Schon die Balfour-Deklaration habe auf der Missachtung palästinensischer Selbstbestimmung beruht, es habe nie eine Konsultation mit der arabisch-palästinensischen Mehrheit gegeben, im Widerstand habe das Volk zu sich selbst gefunden, die Nakba sei eine bewusste Strategie der Vertreibung gewesen, die politische Teilung von 1947 habe das bestehende Machtungleichgewicht zementiert, Friedensprozesse seien Intrigen, um die Ohnmacht der Palästinenser aufrechtzuerhalten und die Siedlerherrschaft auszubauen. Gegen diese geballte imperialistische Verschwörung habe das palästinensische Volk trotz der Besatzung von 1967 militanten und institutionellen Widerstand geleistet, als Intifada in Form zivilen Ungehorsams, als bewaffneten Widerstand und, auch als Folge eines innerpalästinensischen Konkurrenz, in Form von Terroranschlägen in Israel selbst.
Khalidi überhöht die militärische Stärke Israels, um den Widerstandswillen der Palästinenser hervorzuheben. Er sieht sich in der israelischen Reaktion auf den Terror des 7. Oktober bestätigt, die er als „Hammerschläge“ einer Vergeltungsstrategie begreift, die zu einer Katastrophe geführt habe, die selbst die Nakba von 1948/49 in den Schatten stelle. Den Terror des 7. Oktober versteht Khalidi als Reaktion auf die israelische Gewaltpolitik, die zur ersten großen Niederlage Israels in der Auseinandersetzung mit dem palästinensischen Widerstand geführt habe. Khalidi spielt den religiösen Ultranationalismus der Hamas zu einem „sozialkonservativen Programm“ herunter und sieht in der Hamas vor allem eine Widerstandsbewegung und eine Bewegung der Unzufriedenen, die nach dem Gewaltverzicht der PLO 1988 das Erbe der antikolonialen Militanz angetreten und sich in Konkurrenz zur PLO weiter radikalisiert habe. Den Terrorismus im palästinensischen Widerstand versteht Khalidi entweder als Reaktion auf Israels militärische Übermacht oder als Handlungsfeld terroristischer Randgruppen.
Dort, wo das Buch einen kritischen Ton anschlägt, geht es um Strategien der politischen Führung der alten nationalen Eliten und später der PLO. Sie hätten immer wieder aus purem Eigeninteresse falsche Entscheidungen getroffen und damit den Widerstand gegen das „siedlerkolonialistische Projekt“ untergraben. Allerdings verzichtet Khalidi auf eine Klärung, was er genau als Siedlerkolonialismus versteht. Im Text spricht er meist von „Siedlern“.
Solche Leerstellen gibt es viele: Antisemitismus ist für Khalidi ein fast ausschließlich europäisches Phänomen. Im palästinensischen Kontext ist es nur die Hamas, die er mit antisemitischen Haltungen in Verbindung bringt. An keiner Stelle gewährt Khalidi dem Publikum Einblick in die Denkwelten des religiösen Nationalismus, der heute eine Deutungshoheit in der palästinensischen Öffentlichkeit beansprucht, nirgendwo wird die Rolle des Kalten Krieges bei der ideologischen Konfiguration des palästinensischen Widerstands angesprochen, die Komplexität der palästinensischen Gesellschaft mit ihren verzweigten Solidaritätsnetzwerken, dem tiefgreifenden Stadt-Land-Konflikt und dem Nord-Süd-Gefälle, die verzwickten sozialen Hierarchien durch die Konservierung der Flüchtlingsbiografien und vor allem die antipolitischen Prozesse, die informelle Kooperationen auch mit israelischen Akteuren ermöglichen, bleiben im ganzen Buch außen vor.
Khalidis selektive Ereignisgeschichte eines Hundertjährigen Krieges um Palästina beziehungsweise gegen die palästinensische Bevölkerung ist keine kritische Revision eines historischen Selbstverständnisses, sondern die Modernisierung eines historischen Mythos. Weder werden Argumente abgewogen, noch werden dem Publikum andere mögliche Sichtweisen angeboten oder neue historische Sachverhalte geschildert, die nicht schon zum Standardrepertoire der Nationalgeschichte gehörten. Das Geschehen wird nicht durch sozial-, ideologie- und religionsgeschichtliche Sichtweisen weitergehend erschlossen, sodass die Schilderungen erstaunlich eindimensional bleiben.
Allein die Verwendung von Quellen aus dem Archiv der notablen Familie Khalidi verleiht dem Buch eine besondere Note. Die Lektüre ist jedoch ermüdend, da jede Wendung und jede Interpretation aufgrund des Erzählschemas vorhersehbar ist und keine Überraschungen bietet. Es ist ein Buch, das ein überkommenes historisches Selbstbild fortschreibt, in dem die palästinensische Politik seit Jahrzehnten gefangen ist. Es ist ein Buch, das deutlich macht, wie wichtig die Revision der palästinensischen Nationalgeschichtsschreibung für eine neue, konstruktive Auslegung eines palästinensischen politischen Selbstverständnisses ist.
Reinhard Schulze wurde 1953 in Berlin geboren und war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern.
Antisemitismus ist für
Khalidi ein vor allem
europäisches Phänomen
Nationalsymbol Al-Aksa-Moschee: Palästinensischer Demonstrant am Tempelberg in Jerusalem.
Foto: Mahmoud Illean / dpa
Rashid Khalidi:
Der Hundertjährige
Krieg um Palästina –
Eine Geschichte von
Siedlerkolonialismus und Widerstand. Aus dem Englischen von Lucien Leitess. Unionsverlag, Zürich 2024. 379 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Historiker Rashid Khalidi kritisierte einst auch die arabischen Eliten. Jetzt hat er
ein Buch über die jüngere Geschichte Palästinas geschrieben. Von Reinhard Schulze
Vor 40 Jahren begann in der israelischen akademischen Öffentlichkeit ein Prozess, der das historische Selbstverständnis, auf das Israel seine politische Kultur gründete, einer grundlegenden Revision unterzog. Soziologische und zeithistorische Forschungen unterwarfen die geschichtspolitischen Leitmotive der israelischen Deutung einer minutiösen Kritik: Warum verließen die palästinensischen Araber das Land? Warum hat Israel den Krieg von 1948 gewonnen? War es ein Kampf zwischen David und Goliath? Gab es wirklich eine geschlossene Ablehnungsfront der arabischen Staaten gegen Friedensschlüsse vor 1967? War Israel wirklich der Schmelztiegel, der den vielen Juden eine gleichberechtigte Heimat schuf? Der israelische Streit weckte die Hoffnung, dass die Überwindung einer historisch-mythischen Selbstblockade dem Staat Israel eine neue, moderne Legitimation verleihen und der komplexen israelischen Gesellschaft neue Wege der Rechtfertigung einer sozialen Integration eröffnen würde, die das Jüdischsein des Staates mit der kulturellen Pluralität des Landes politisch verbindet.
Der „Krieg der Historiker“ (Avi Shlaim) erreichte in den Neunzigerjahren einen ersten Höhepunkt, zeitgleich mit den zunehmenden Bemühungen um einen Friedensprozess im Nahen Osten. Nicht nur die akademische Welt suchte damals nach palästinensischen Historikerinnen und Historikern, die in ähnlicher Weise das historische Selbstverständnis des arabischen Palästina einer fundamentalen Kritik unterziehen und damit die ideologische Selbstblockade aufbrechen würden. Mit einer solchen Kritik, so die Erwartung, würde Palästina als Gesellschaft neue Legitimität gewinnen und sich einer Souveränität vergewissern, auf deren Grundlage ein moderner Zivilstaat gegründet werden könnte.
Ein Name, der in dieser Zeit immer wieder genannt wurde, war der des Palästinahistorikers Rashid Khalidi. Khalidi, der selbst an der Madrider Konferenz von 1991 teilgenommen hatte, galt zwar als Historiker der PLO (was er selbst stets bestritt), aber der damals an der University of Chicago lehrende Historiker war einer der einflussreichsten Kommentatoren der palästinensischen Geschichte, die selbst genealogisch mit Palästina verbunden waren. Tatsächlich ließen einige seiner akademischen Schriften vermuten, dass er mit den Neuen Historikern in Israel gleichziehen wollte. Insbesondere seine Kritik an der Politik der arabisch-palästinensischen Eliten weckte Erwartungen.
Nach seiner Berufung an die Columbia University in New York kehrte der 1948 in New York geborene Khalidi jedoch zum klassischen Modell der palästinensischen Nationalgeschichte zurück und radikalisierte es sogar. Sein 2006 erschienener historischer Essay „The Iron Cage“, der das Scheitern des arabischen Palästina in seinem Bemühen um Staatlichkeit thematisiert, erinnert nicht nur im Titel an Vladimir Ze’ev Jabotinskys Essay „The Iron Wall – We and the Arabs“ von 1923, sondern auch in der Grundthese: Israel habe sich von seiner arabischen Umwelt durch eine eiserne Mauer getrennt, die nun das arabische Palästina wie ein Käfig umschließe.
14 Jahre später veröffentlichte Khalidi unter dem Titel „The Hundred Years’ War on Palestine: A History of Settler Colonialism and Resistance, 1917 – 2017“ eine Summe seiner historischen Forschungen zur jüngeren palästinensischen Geschichte, die nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Für die Übersetzung wurde eine als „Nachbemerkung“ bezeichnete Betrachtung des „jüngsten Krieges“ in Gaza angefügt. Wer gehofft hatte, Khalidi würde die Chance nutzen, die palästinensische Nationalgeschichtsschreibung aus ihrer Selbstblockade zu befreien (die darin besteht, dass sie sich nicht auf die akademische Kritik ihrer Narrative einlässt), sieht sich jedoch enttäuscht.
Das Buch bietet nicht den Hauch einer Revision. Im Gegenteil: Khalidi radikalisiert seine bereits im Aufsatz von 2006 dargelegte Deutung zu einer parteiischen Ereignisgeschichte, die in ein Potpourri von geschilderten Ereignissen mündet, die keinem analytischen Verfahren unterworfen und daher auch nicht durch klare Schlussfolgerungen oder Hypothesen argumentativ erschlossen werden.
In seinem Nachwort fasst Khalidi die „Grundthesen“ seines Buchs selbst wie folgt zusammen: „Ich habe darin dargestellt, dass die Entwicklungen in Palästina im Wesentlichen auf einen mehrstufigen Krieg zurückgehen, den verschiedene Großmächte im Bündnis mit der zionistischen Bewegung gegen die in Palästina lebende Bevölkerung geführt haben – eine Bewegung, die zunächst zugleich siedlerkolonialistisch und nationalistisch war und auf einen Bevölkerungsaustausch in der angestammten Heimat der Palästinenser abzielte. Als Israel als Nationalstaat gegründet wurde, schlossen die Großmächte ein enges Bündnis mit diesem neuen Staat. Während dieses hundertjährigen Prozesses haben sich die Palästinenser der Usurpation ihres Landes widersetzt.“
Die Assoziation mit dem Hundertjährigen Krieg in Frankreich klingt bewusst gewählt: So wie sich Frankreich in einem langen Krieg schließlich von der englischen Herrschaft befreit habe, so werde sich auch das palästinensische Volk von der zionistischen Herrschaft befreien. Khalidis Ausgangspunkt ist im Großen und Ganzen eine nationalromantische Verklärung der vormodernen Geschichte des Landes, das in einem verschlafenen Winkel der Weltgeschichte ein beschauliches Leben geboten habe. Plötzlich sei es zum Objekt einer Verschwörung welthistorischen Ausmaßes geworden.
Britische Imperialisten hätten im Bündnis mit den Zionisten das Land zum Ziel eines siedlerkolonialistischen Projekts gemacht, das in der Balfour-Deklaration von 1917 politisch festgeschrieben worden sei. Erzählerischer Höhepunkt des Buchs ist die Nakba von 1948/49, die Khalidi auf seine eigene Familiengeschichte bezieht und als geplante Politik der Vertreibung interpretiert. Im Kern geht es Khalidi darum, die palästinensische Geschichte als eine Geschichte des aktiven Widerstands gegen eine siedlerkolonialistische Verschwörung zu deuten.
Diese Verschwörung richtete sich gegen den gezielten „Austausch“ der einheimischen Bevölkerung durch eine kolonialistische Einwanderergesellschaft, die von Agenturen des Zionismus gesteuert wurde und im Dienst eines größeren imperialistischen Projekts stand, das zunächst von Großbritannien und dann von den USA getragen wurde. Palästina sei eine Geschichte des Widerstands, die Palästinenser seien nicht nur Opfer, sondern mächtige Subjekte dieses Widerstands. Die Geschichte Palästinas müsse daher als Geschichte des Kampfes um die Rechte der Palästinenser, ja als permanenter Kampf um die Existenz des palästinensischen Volkes verstanden werden. Dass dieser Kampf bereits 100 Jahre andauere, sei auf das Machtgefälle zurückzuführen, das seit Beginn des Krieges zwischen dem Imperium, dessen Agenturen und der palästinensischen Gesellschaft bestanden habe. Es sei ein Krieg gegen das palästinensische Volk, der in sieben „Kriegserklärungen“ gipfelte, die Khalidi zum Gliederungsprinzip seines Buchs macht.
Hier finden sich alle Topoi wieder, die die alte nationale Geschichtsmythologie bestimmen: Schon die Balfour-Deklaration habe auf der Missachtung palästinensischer Selbstbestimmung beruht, es habe nie eine Konsultation mit der arabisch-palästinensischen Mehrheit gegeben, im Widerstand habe das Volk zu sich selbst gefunden, die Nakba sei eine bewusste Strategie der Vertreibung gewesen, die politische Teilung von 1947 habe das bestehende Machtungleichgewicht zementiert, Friedensprozesse seien Intrigen, um die Ohnmacht der Palästinenser aufrechtzuerhalten und die Siedlerherrschaft auszubauen. Gegen diese geballte imperialistische Verschwörung habe das palästinensische Volk trotz der Besatzung von 1967 militanten und institutionellen Widerstand geleistet, als Intifada in Form zivilen Ungehorsams, als bewaffneten Widerstand und, auch als Folge eines innerpalästinensischen Konkurrenz, in Form von Terroranschlägen in Israel selbst.
Khalidi überhöht die militärische Stärke Israels, um den Widerstandswillen der Palästinenser hervorzuheben. Er sieht sich in der israelischen Reaktion auf den Terror des 7. Oktober bestätigt, die er als „Hammerschläge“ einer Vergeltungsstrategie begreift, die zu einer Katastrophe geführt habe, die selbst die Nakba von 1948/49 in den Schatten stelle. Den Terror des 7. Oktober versteht Khalidi als Reaktion auf die israelische Gewaltpolitik, die zur ersten großen Niederlage Israels in der Auseinandersetzung mit dem palästinensischen Widerstand geführt habe. Khalidi spielt den religiösen Ultranationalismus der Hamas zu einem „sozialkonservativen Programm“ herunter und sieht in der Hamas vor allem eine Widerstandsbewegung und eine Bewegung der Unzufriedenen, die nach dem Gewaltverzicht der PLO 1988 das Erbe der antikolonialen Militanz angetreten und sich in Konkurrenz zur PLO weiter radikalisiert habe. Den Terrorismus im palästinensischen Widerstand versteht Khalidi entweder als Reaktion auf Israels militärische Übermacht oder als Handlungsfeld terroristischer Randgruppen.
Dort, wo das Buch einen kritischen Ton anschlägt, geht es um Strategien der politischen Führung der alten nationalen Eliten und später der PLO. Sie hätten immer wieder aus purem Eigeninteresse falsche Entscheidungen getroffen und damit den Widerstand gegen das „siedlerkolonialistische Projekt“ untergraben. Allerdings verzichtet Khalidi auf eine Klärung, was er genau als Siedlerkolonialismus versteht. Im Text spricht er meist von „Siedlern“.
Solche Leerstellen gibt es viele: Antisemitismus ist für Khalidi ein fast ausschließlich europäisches Phänomen. Im palästinensischen Kontext ist es nur die Hamas, die er mit antisemitischen Haltungen in Verbindung bringt. An keiner Stelle gewährt Khalidi dem Publikum Einblick in die Denkwelten des religiösen Nationalismus, der heute eine Deutungshoheit in der palästinensischen Öffentlichkeit beansprucht, nirgendwo wird die Rolle des Kalten Krieges bei der ideologischen Konfiguration des palästinensischen Widerstands angesprochen, die Komplexität der palästinensischen Gesellschaft mit ihren verzweigten Solidaritätsnetzwerken, dem tiefgreifenden Stadt-Land-Konflikt und dem Nord-Süd-Gefälle, die verzwickten sozialen Hierarchien durch die Konservierung der Flüchtlingsbiografien und vor allem die antipolitischen Prozesse, die informelle Kooperationen auch mit israelischen Akteuren ermöglichen, bleiben im ganzen Buch außen vor.
Khalidis selektive Ereignisgeschichte eines Hundertjährigen Krieges um Palästina beziehungsweise gegen die palästinensische Bevölkerung ist keine kritische Revision eines historischen Selbstverständnisses, sondern die Modernisierung eines historischen Mythos. Weder werden Argumente abgewogen, noch werden dem Publikum andere mögliche Sichtweisen angeboten oder neue historische Sachverhalte geschildert, die nicht schon zum Standardrepertoire der Nationalgeschichte gehörten. Das Geschehen wird nicht durch sozial-, ideologie- und religionsgeschichtliche Sichtweisen weitergehend erschlossen, sodass die Schilderungen erstaunlich eindimensional bleiben.
Allein die Verwendung von Quellen aus dem Archiv der notablen Familie Khalidi verleiht dem Buch eine besondere Note. Die Lektüre ist jedoch ermüdend, da jede Wendung und jede Interpretation aufgrund des Erzählschemas vorhersehbar ist und keine Überraschungen bietet. Es ist ein Buch, das ein überkommenes historisches Selbstbild fortschreibt, in dem die palästinensische Politik seit Jahrzehnten gefangen ist. Es ist ein Buch, das deutlich macht, wie wichtig die Revision der palästinensischen Nationalgeschichtsschreibung für eine neue, konstruktive Auslegung eines palästinensischen politischen Selbstverständnisses ist.
Reinhard Schulze wurde 1953 in Berlin geboren und war bis zu seiner Emeritierung 2018 Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern.
Antisemitismus ist für
Khalidi ein vor allem
europäisches Phänomen
Nationalsymbol Al-Aksa-Moschee: Palästinensischer Demonstrant am Tempelberg in Jerusalem.
Foto: Mahmoud Illean / dpa
Rashid Khalidi:
Der Hundertjährige
Krieg um Palästina –
Eine Geschichte von
Siedlerkolonialismus und Widerstand. Aus dem Englischen von Lucien Leitess. Unionsverlag, Zürich 2024. 379 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2024Eine Serie von Kriegserklärungen?
Rashid Khalidi präsentiert eine palästinensische Sicht auf den Konflikt im Nahen Osten
Am 1. März 1899 schrieb Yusuf Diya al-Khalidi, Angehöriger einer der angesehensten Jerusalemer Familien, ehemals Bürgermeister von Jerusalem und Abgeordneter im osmanischen Parlament, einen Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn zur Weiterleitung an Theodor Herzl, den Begründer des politischen Zionismus. Er drückte darin seine Sympathie für die Juden und sogar für den Zionismus aus, warnte aber eindringlich vor dem Versuch, ihn in Palästina zu verwirklichen. Das Land habe bereits eine dichte nichtjüdische Bevölkerung und könne nur unter Blutvergießen von anderen übernommen werden. Er schloss: "Um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen!" Dieser Rat wurde nicht angenommen, erwies sich aber in der Folge als prophetisch. Das hier anzuzeigende Buch des Ururgroßneffen von Yusuf Diya, Rashid al-Khalidi, zeichnet die heftigen Auseinandersetzungen nach, die sich aus der Verwirklichung des Zionismus in Palästina ergaben. Das Buch ist kein trockenes wissenschaftliches Werk, sondern erzählte Geschichte. Es verbindet die Nachzeichnung des Geschichtsverlaufs mit den persönlichen Erfahrungen des Autors, der sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch immer wieder in der palästinensischen Politik engagiert hat.
Khalidi argumentiert, dass die Geschichte Palästinas seit der Zeit, als das zionistische Aufbauwerk dort im Ernst begann, als ein ebenso langer Krieg gegen die arabischen Bewohner des Landes gelesen werden müsse. Vor dem Ersten Weltkrieg war Palästina, ethnisch gesprochen, ein weitgehend arabisches Land. Wenn sie dort einen jüdischen Staat errichten wollte, brauchte die zionistische Bewegung mächtige Bundesgenossen, die ihr intensive jüdische Besiedlung, Übernahme von Ländereien und schließlich den Zugriff auf die politische Macht ermöglichen würden. Khalidi unterscheidet sechs Etappen, die er Kriegserklärungen nennt. Vielleicht kann man auch einfach von sechs "Runden" der großen Auseinandersetzung in Palästina sprechen.
Die erste Schutzmacht der Zionisten war Großbritannien. Es eroberte Palästina gegen Ende des Ersten Weltkriegs und hatte schon 1917 in der "Balfour-Deklaration" aus eigenen strategischen Interessen den Zionisten Unterstützung bei der Gründung eines "jüdischen Nationalheims" in Palästina versprochen. Dazu gehörten: Erleichterung jüdischer Einwanderung und Landerwerb, Begünstigung der Keimform eines jüdischen Staats und Unterdrückung arabischen Widerstands gegen die Besiedlung. Diese Besiedlung, die entscheidende Vorbereitung der Gründung des Staats Israel, war nur möglich durch die Unterstützung der britischen Mandatsmacht. Diese verabschiedete sich allerdings 1939 von ihrer einseitig prozionistischen Politik, woraufhin sich die Zionisten nach einer anderen Schutzmacht umschauten. Das wurden dann mehr und mehr die USA.
In der nächsten größeren Auseinandersetzung, dem UN-Teilungsbeschluss vom November 1947, der Gründung Israels und dem Krieg von 1948, konnte Israel gleich auf mehrere Unterstützer rechnen: Die USA und die Sowjetunion verhalfen der UN-Resolution zur Billigung, die Tschechoslowakei lieferte Waffen an die Haganah und Israel. Israel behielt denn auch im Krieg die Oberhand.
Die dritte Kriegserklärung war für Khalidi dann der Junikrieg von 1967. Bis dahin war die amerikanische Unterstützung für Israel nicht absolut gewesen; die meisten Waffen, ebenso wie die Hilfe bei der Entwicklung von Kernwaffen, kamen aus Frankreich; auch Deutschland spielte eine Rolle. Nun erschien für Israels Präventivkrieg gegen Ägypten, das bei allem Säbelrasseln keinen Angriff auf Israel vorhatte, die Billigung durch die USA essenziell. Sie kam. Aus jener Zeit resultiert das besondere Bündnis beider Länder, das seitdem immer enger geworden ist und sich in beinahe bedingungsloser politischer und militärischer Unterstützung manifestiert.
Die vierte "Runde" war die groß angelegte israelische Intervention im Libanon 1982, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der PLO war. Dieses Kapitel ist besonders anschaulich erzählt, weil der Autor die Ereignisse mit seiner Familie in Beirut hautnah erlebt hat. Die fünfte "Runde" war die (erste) palästinensische Intifada, der Aufstand in der Westbank und im Gazastreifen gegen die Besatzung, unter Verzicht auf tödliche Gewalt und mit einem realistischen Ziel, einem palästinensischen Staat an der Seite Israels. Sie schaffte es, die festgefahrenen Fronten des Konflikts in Bewegung zu bringen, wurde aber unter Einsatz aller Mittel niedergeschlagen. Sie führte aber immerhin zur Madrider Friedenskonferenz 1991 und den folgenden israelisch-palästinensischen Verhandlungen in Washington, die zu Beginn mit großen Hoffnungen verbunden waren. Khalidi fungierte dabei als Berater der palästinensischen Delegation. Die eigentliche Einigung Israels mit der PLO war aber das in Geheimverhandlungen erzielte Vertragswerk von Oslo, das die israelische Besatzung und den Siedlungsbau nicht beendete und das Khalidi in einer genauen Analyse der Texte von Oslo als Kapitulation der palästinensischen Führung bewertet.
Die sechste Runde der Auseinandersetzungen begann mit der Al-Aqsa-Intifada (2000-2005), die durchaus nicht auf Gewalt verzichtete und ein Rückschlag für die Palästinenser war, setzte sich fort mit dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen, der Machtübernahme der Hamas dort und den fortgesetzten großen Militärschlägen Israels gegen Gaza 2006-2014.
In all diesen Auseinandersetzungen waren die Zionisten beziehungsweise war Israel die stärkere Partei, sie waren jeweils proaktiv, denn sie waren es ja, die den Status quo im Land ändern wollten, und sie behielten auch stets die Oberhand. Aber anders als geplant konnten sie die Palästinenser als Faktor nicht ausschalten. Diese blieben und sind so nach wie vor ein Störfaktor bei der Verwirklichung der israelischen Pläne.
Khalidi spart durchaus nicht mit palästinensischer Selbstkritik. Wenn die Palästinenser ihre erklärten Ziele nicht erreicht haben, sagt er, lag das auch an eigenen Fehlern. Das Alles-oder-nichts-Programm der Frühzeit der PLO ("Befreiung ganz Palästinas") und in dem Zusammenhang ihre ausschließliche Orientierung auf den bewaffneten Kampf, terroristische Kampfformen eingeschlossen, half zwar, die palästinensische Sache auf der Tagesordnung der Weltpolitik zu etablieren, erwies sich aber in der Auseinandersetzung mit Israel als hinderlich. Das Programm wurde richtigerweise revidiert. Dann aber ließ sich das Gros der PLO in seiner Gestalt als PA (Palestinian Authority) auf den Deal von Oslo und seine Rolle als "Subunternehmer der israelischen Besatzung" ein. Und auch die alternative palästinensische Führung, Hamas, wiederholt teilweise die Fehler der frühen PLO und hat kein wirklich vorwärtsweisendes Programm zur Beendigung des Konflikts.
Khalidi hat keine Rezepte zur Lösung des Konflikts. Er argumentiert aber, dass jede Lösung zwei Prinzipien beachten muss: Sie muss die Existenz der beiden großen nationalen Gruppen im Land, der arabischen Palästinenser und der jüdischen Israelis, anerkennen und ihre gegenseitige Tolerierung sichern, und sie muss die völlige individuelle und kollektive Gleichheit der Menschen im Land enthalten. ALEXANDER FLORES
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand.
Unionsverlag, Zürich 2024. 384 S., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Rashid Khalidi präsentiert eine palästinensische Sicht auf den Konflikt im Nahen Osten
Am 1. März 1899 schrieb Yusuf Diya al-Khalidi, Angehöriger einer der angesehensten Jerusalemer Familien, ehemals Bürgermeister von Jerusalem und Abgeordneter im osmanischen Parlament, einen Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn zur Weiterleitung an Theodor Herzl, den Begründer des politischen Zionismus. Er drückte darin seine Sympathie für die Juden und sogar für den Zionismus aus, warnte aber eindringlich vor dem Versuch, ihn in Palästina zu verwirklichen. Das Land habe bereits eine dichte nichtjüdische Bevölkerung und könne nur unter Blutvergießen von anderen übernommen werden. Er schloss: "Um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen!" Dieser Rat wurde nicht angenommen, erwies sich aber in der Folge als prophetisch. Das hier anzuzeigende Buch des Ururgroßneffen von Yusuf Diya, Rashid al-Khalidi, zeichnet die heftigen Auseinandersetzungen nach, die sich aus der Verwirklichung des Zionismus in Palästina ergaben. Das Buch ist kein trockenes wissenschaftliches Werk, sondern erzählte Geschichte. Es verbindet die Nachzeichnung des Geschichtsverlaufs mit den persönlichen Erfahrungen des Autors, der sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch immer wieder in der palästinensischen Politik engagiert hat.
Khalidi argumentiert, dass die Geschichte Palästinas seit der Zeit, als das zionistische Aufbauwerk dort im Ernst begann, als ein ebenso langer Krieg gegen die arabischen Bewohner des Landes gelesen werden müsse. Vor dem Ersten Weltkrieg war Palästina, ethnisch gesprochen, ein weitgehend arabisches Land. Wenn sie dort einen jüdischen Staat errichten wollte, brauchte die zionistische Bewegung mächtige Bundesgenossen, die ihr intensive jüdische Besiedlung, Übernahme von Ländereien und schließlich den Zugriff auf die politische Macht ermöglichen würden. Khalidi unterscheidet sechs Etappen, die er Kriegserklärungen nennt. Vielleicht kann man auch einfach von sechs "Runden" der großen Auseinandersetzung in Palästina sprechen.
Die erste Schutzmacht der Zionisten war Großbritannien. Es eroberte Palästina gegen Ende des Ersten Weltkriegs und hatte schon 1917 in der "Balfour-Deklaration" aus eigenen strategischen Interessen den Zionisten Unterstützung bei der Gründung eines "jüdischen Nationalheims" in Palästina versprochen. Dazu gehörten: Erleichterung jüdischer Einwanderung und Landerwerb, Begünstigung der Keimform eines jüdischen Staats und Unterdrückung arabischen Widerstands gegen die Besiedlung. Diese Besiedlung, die entscheidende Vorbereitung der Gründung des Staats Israel, war nur möglich durch die Unterstützung der britischen Mandatsmacht. Diese verabschiedete sich allerdings 1939 von ihrer einseitig prozionistischen Politik, woraufhin sich die Zionisten nach einer anderen Schutzmacht umschauten. Das wurden dann mehr und mehr die USA.
In der nächsten größeren Auseinandersetzung, dem UN-Teilungsbeschluss vom November 1947, der Gründung Israels und dem Krieg von 1948, konnte Israel gleich auf mehrere Unterstützer rechnen: Die USA und die Sowjetunion verhalfen der UN-Resolution zur Billigung, die Tschechoslowakei lieferte Waffen an die Haganah und Israel. Israel behielt denn auch im Krieg die Oberhand.
Die dritte Kriegserklärung war für Khalidi dann der Junikrieg von 1967. Bis dahin war die amerikanische Unterstützung für Israel nicht absolut gewesen; die meisten Waffen, ebenso wie die Hilfe bei der Entwicklung von Kernwaffen, kamen aus Frankreich; auch Deutschland spielte eine Rolle. Nun erschien für Israels Präventivkrieg gegen Ägypten, das bei allem Säbelrasseln keinen Angriff auf Israel vorhatte, die Billigung durch die USA essenziell. Sie kam. Aus jener Zeit resultiert das besondere Bündnis beider Länder, das seitdem immer enger geworden ist und sich in beinahe bedingungsloser politischer und militärischer Unterstützung manifestiert.
Die vierte "Runde" war die groß angelegte israelische Intervention im Libanon 1982, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der PLO war. Dieses Kapitel ist besonders anschaulich erzählt, weil der Autor die Ereignisse mit seiner Familie in Beirut hautnah erlebt hat. Die fünfte "Runde" war die (erste) palästinensische Intifada, der Aufstand in der Westbank und im Gazastreifen gegen die Besatzung, unter Verzicht auf tödliche Gewalt und mit einem realistischen Ziel, einem palästinensischen Staat an der Seite Israels. Sie schaffte es, die festgefahrenen Fronten des Konflikts in Bewegung zu bringen, wurde aber unter Einsatz aller Mittel niedergeschlagen. Sie führte aber immerhin zur Madrider Friedenskonferenz 1991 und den folgenden israelisch-palästinensischen Verhandlungen in Washington, die zu Beginn mit großen Hoffnungen verbunden waren. Khalidi fungierte dabei als Berater der palästinensischen Delegation. Die eigentliche Einigung Israels mit der PLO war aber das in Geheimverhandlungen erzielte Vertragswerk von Oslo, das die israelische Besatzung und den Siedlungsbau nicht beendete und das Khalidi in einer genauen Analyse der Texte von Oslo als Kapitulation der palästinensischen Führung bewertet.
Die sechste Runde der Auseinandersetzungen begann mit der Al-Aqsa-Intifada (2000-2005), die durchaus nicht auf Gewalt verzichtete und ein Rückschlag für die Palästinenser war, setzte sich fort mit dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen, der Machtübernahme der Hamas dort und den fortgesetzten großen Militärschlägen Israels gegen Gaza 2006-2014.
In all diesen Auseinandersetzungen waren die Zionisten beziehungsweise war Israel die stärkere Partei, sie waren jeweils proaktiv, denn sie waren es ja, die den Status quo im Land ändern wollten, und sie behielten auch stets die Oberhand. Aber anders als geplant konnten sie die Palästinenser als Faktor nicht ausschalten. Diese blieben und sind so nach wie vor ein Störfaktor bei der Verwirklichung der israelischen Pläne.
Khalidi spart durchaus nicht mit palästinensischer Selbstkritik. Wenn die Palästinenser ihre erklärten Ziele nicht erreicht haben, sagt er, lag das auch an eigenen Fehlern. Das Alles-oder-nichts-Programm der Frühzeit der PLO ("Befreiung ganz Palästinas") und in dem Zusammenhang ihre ausschließliche Orientierung auf den bewaffneten Kampf, terroristische Kampfformen eingeschlossen, half zwar, die palästinensische Sache auf der Tagesordnung der Weltpolitik zu etablieren, erwies sich aber in der Auseinandersetzung mit Israel als hinderlich. Das Programm wurde richtigerweise revidiert. Dann aber ließ sich das Gros der PLO in seiner Gestalt als PA (Palestinian Authority) auf den Deal von Oslo und seine Rolle als "Subunternehmer der israelischen Besatzung" ein. Und auch die alternative palästinensische Führung, Hamas, wiederholt teilweise die Fehler der frühen PLO und hat kein wirklich vorwärtsweisendes Programm zur Beendigung des Konflikts.
Khalidi hat keine Rezepte zur Lösung des Konflikts. Er argumentiert aber, dass jede Lösung zwei Prinzipien beachten muss: Sie muss die Existenz der beiden großen nationalen Gruppen im Land, der arabischen Palästinenser und der jüdischen Israelis, anerkennen und ihre gegenseitige Tolerierung sichern, und sie muss die völlige individuelle und kollektive Gleichheit der Menschen im Land enthalten. ALEXANDER FLORES
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand.
Unionsverlag, Zürich 2024. 384 S., 26,- Euro.
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»Dass der Schweizer Unionsverlag die gut dreihundert Seiten als Übersetzung herausgebracht hat, ist eine wichtige und lange überfällige Erweiterung des deutschen Diskursraumes. Khalidi schreibt seine Geschichtserzählung aus einer besonderen Beobachterposition als Wissenschaftler, zugleich aber auch als Zeitzeuge mit autobiografischen Einschüben. Die deutsche Ausgabe von Rashid Khalidis Buch ist eine Chance, die verhärteten Blockaden und Perspektivverengungen im Diskurs über den Nahostkonflikt zu lockern und damit die Voraussetzung für einen schwierigen, aber notwendigen Dialog zu schaffen.« Stephan Detjen Deutschlandfunk