"Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?"
Alle zehn Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind drei Millionen Kinder im Jahr. Insgesamt knapp neun Millionen Menschen. Jedes Jahr. Wir wissen das, wir kennen die Zahlen. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Es sieht aber nicht so aus, als würden wir es in absehbarer Zeit lösen. Und das ist eine Schande.
Vier Jahre hat Martín Caparrós den ganzen Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren: Er war in Niger, wo der Hunger so aussieht, wie wir ihn uns vorstellen; in Indien, wo mehr Menschen hungern als in jedem anderen Land; in den USA, wo jeder Sechste Probleme hat, sich ausreichend zu ernähren, während jeder Dritte unter Fettleibigkeit leidet; in Argentinien, wo Nahrungsmittel für 300 Millionen Menschen produziert werden, obwohl sich viele Bürger kein Fleisch mehr leisten können.
Am Ende dieser Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest. Der Hunger, so Caparrós, ist keine Naturkatastrophe, die schicksalhaft über die Menschen hereinbricht. Der Hunger ist der krasseste Ausdruck der gigantischen sozialen Ungleichheit in einer Welt, in der das reichste Prozent mehr besitzt als alle anderen zusammen.
Alle zehn Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind drei Millionen Kinder im Jahr. Insgesamt knapp neun Millionen Menschen. Jedes Jahr. Wir wissen das, wir kennen die Zahlen. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Es sieht aber nicht so aus, als würden wir es in absehbarer Zeit lösen. Und das ist eine Schande.
Vier Jahre hat Martín Caparrós den ganzen Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren: Er war in Niger, wo der Hunger so aussieht, wie wir ihn uns vorstellen; in Indien, wo mehr Menschen hungern als in jedem anderen Land; in den USA, wo jeder Sechste Probleme hat, sich ausreichend zu ernähren, während jeder Dritte unter Fettleibigkeit leidet; in Argentinien, wo Nahrungsmittel für 300 Millionen Menschen produziert werden, obwohl sich viele Bürger kein Fleisch mehr leisten können.
Am Ende dieser Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest. Der Hunger, so Caparrós, ist keine Naturkatastrophe, die schicksalhaft über die Menschen hereinbricht. Der Hunger ist der krasseste Ausdruck der gigantischen sozialen Ungleichheit in einer Welt, in der das reichste Prozent mehr besitzt als alle anderen zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2016Den Marginalisierten eine Stimme geben
Martín Caparrós prangert den Hunger an, geizt aber mit konkreten Antworten
Es ist eine hohe Kunst, das Offensichtliche in etwas zu verwandeln, das Leser mit neuen Augen als etwas Besonderes sehen. Diesen Versuch unternimmt der argentinische Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós mit seinem Buch über den Hunger. Dass es Menschen gibt - mehr als 900 Millionen Menschen, um genau zu sein -, die zu wenig zu essen haben und sich abends mit leerem Magen niederlegen, will er als größten Skandal unserer Zeit in Szene setzen.
Caparrós hat sich für sein mehr als achthundert Seiten starkes Werk auf eine Weltreise in den Mikrokosmos der Ärmsten begeben. Sie beginnt in Niger, mit der Geschichte von Kadi, einer jungen Frau, die er trifft, kurz nachdem ihr Baby an Hunger gestorben ist. Wie betäubt wirkt diese Frau. Für das, was ihr widerfährt, hat sie keine Erklärung. Das wird Caparrós' wiederkehrende Erfahrung sein: Hunger ist nicht nur ein Ergebnis von Machtlosigkeit, er verstärkt diese noch und macht die Betroffenen schicksalsergeben, mit Gott als letzter Zuflucht.
Für die aber, die politisch Einfluss nehmen könnten, etwa westliche Medienkonsumenten, sei das Problem zu weit weg: "Die Hungertoten stehen nicht in der Zeitung", klagt Caparrós an, "in der Zeitung steht nur das Ungewöhnliche, das Nichtalltägliche." Der Autor führt den Leser in anschaulichen Reportagen zu vielen Schauplätzen, nach Indien und Bangladesch, nach Madagaskar, in die Vereinigten Staaten, den Sitz der großen Agrarkonzerne und schließlich zurück in sein Heimatland Argentinien, wo Kleinbauern gigantischem agroindustriellen Sojaanbau weichen müssen.
Er zoomt in das Leben der Ärmsten. Was diese erzählen, ist bewegend und lässt den Hunger vom abstrakten Thema von Hilfskampagnen zum nachvollziehbaren Alltagsgefühl werden. Hier liegt die größte Leistung dieses Buchs, und man würde sich wünschen, dass Zeitungen und Magazine sich ein Vorbild daran nehmen und öfter die marginalisierten Menschen zu Wort kommen ließen statt immer nur die Experten aus Entwicklungshilfe oder Ökonomie.
Das Buch will aber mehr. Es geht Caparrós darum, die ökonomischen und politischen Mechanismen freizulegen, die dazu führen, dass Hunger auch in der Welt von heute, die einen nie dagewesenen materiellen Wohlstand kennt und in der ganze Länder eher an zu vielen als an zu wenigen Kalorien leiden, noch immer Alltag ist. Er rechnet mit allen Denkern seit Malthus ab, die Hunger für etwas Unvermeidliches halten. Caparrós beschreibt den modernen Hunger dagegen als fatale, nonchalant tolerierte Nebenwirkung von Kapitalismus: Der Rausch der Automatisierung und Industrialisierung der Nahrungserzeugung mache Landarbeiter zu "Überflüssigen".
An denen sei nur das Land interessant, das sie bisher besessen hätten, Land, das nötig ist, um Grundstoffe für die Erzeugung von Fleisch und Agro-Kraftstoffen zu erzeugen, also von Gütern im Dienst der Reicheren. Er klagt vor allem die großen Investmentbanken an, die Nahrungsspekulation als Profitquelle entdeckt hätten und gezielt für Preisschwankungen sorgten, weil man nur an diesen verdienen könne.
Der systemkritische Ansatz dominiert das Kapitel über Chicago, in dem der Autor sowohl an der weltweit preisbestimmenden Börse für den Futures- und Derivatehandel mit Lebensmitteln und in einer Suppenküche für die Ärmsten recherchiert. Initiativen westlicher Länder, den Hunger zu bekämpfen, stellt Caparrós als gut getarnte Programme dar, um ultrakapitalistische Praktiken auch noch im letzten Winkel des Planeten durchzusetzen. Weltbank-Kampagnen und selbst viele Entwicklungshilfeprojekte dienten nur "neuen Kolonialherren". Doch auch mit alternativen Ansätzen setzt der Autor sich kritisch auseinander: So porträtiert er etwa Vandana Shiva, in der globalisierungskritischen Bewegung eine Ikone des Widerstands gegen Gentechnik und Agrarkonzerne, als Ideologin, die es mit Tatsachen nicht so genau nimmt. Derart eigenständiges Urteilen gehört zu den Stärken dieses Autors, wenngleich er sich einen Gefallen getan hätte, den Faktenreichtum seines Buchs mit einem ausführlichen Quellenapparat zu unterlegen.
Caparrós mischt Reportage mit feuilletonistischen Betrachtungen, thesenstarke Kommentare mit literarischen Einsprengseln. Diese Collagetechnik funktioniert über weite Strecken gut. Manchmal kippt die Erzähltechnik aber um in einen Moralismus, der Autor und Leser eher entfremdet. Anstatt den Leser heranzuführen an das, was er tun und lassen sollte, und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass konkretes Handeln sinnvoll ist, um etwas zum Verschwinden des Hungers beizutragen, überhöht Caparrós die eigene Erzählperspektive und verzwergt den Leser als kleines Rädchen einer gigantischen, nicht besiegbaren kapitalistischen Maschinerie.
"Da ist immer nur die Frage" (nach dem Hunger), schreibt Caparrós. Es sehe so aus, "als wolle sich niemand mit einer Antwort blamieren". Eine solche wagt er leider selbst auch nicht. Zwischen der Mikrowelt der Hungernden und der Makrowelt der Systemfragen findet Caparrós keinen konstruktiven Zugang zum Thema. Stattdessen versteigt er sich zu gewagten Thesen, etwa der, dass der Hunger von einem Tag auf den anderen verschwinden könnte, wenn nur alle fleischessenden Bewohner der westlichen Welt nicht mehr existierten, oder der, dass eine "bewusste und systematische" Massenvernichtung aller Hungernden durch die Reicheren - "nicht so planlos und unkoordiniert wie heute" - in naher Zukunft durchaus denkbar sei. Derartiger Radikalismus führt ins Nirgendwo. Nötig wäre ein Radikalismus konkreter Lösungen gewesen.
Nur auf wenigen Seiten finden sich konkrete Ideen wie jene, dass die Landwirtschaftsministerien selbst neues, frei verfügbares Saatgut erzeugen und damit Agrarkonzernen wie Monsanto Konkurrenz machen sollten. Trotz dieser Schwäche ist das Buch lesenswert - weil es den Betroffenen eine Stimme gibt und es dem Autor gelingt, eine schreckliche globale Normalität als Skandal erscheinen zu lassen.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Martín Caparrós: "Der Hunger".
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 844 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martín Caparrós prangert den Hunger an, geizt aber mit konkreten Antworten
Es ist eine hohe Kunst, das Offensichtliche in etwas zu verwandeln, das Leser mit neuen Augen als etwas Besonderes sehen. Diesen Versuch unternimmt der argentinische Journalist und Schriftsteller Martín Caparrós mit seinem Buch über den Hunger. Dass es Menschen gibt - mehr als 900 Millionen Menschen, um genau zu sein -, die zu wenig zu essen haben und sich abends mit leerem Magen niederlegen, will er als größten Skandal unserer Zeit in Szene setzen.
Caparrós hat sich für sein mehr als achthundert Seiten starkes Werk auf eine Weltreise in den Mikrokosmos der Ärmsten begeben. Sie beginnt in Niger, mit der Geschichte von Kadi, einer jungen Frau, die er trifft, kurz nachdem ihr Baby an Hunger gestorben ist. Wie betäubt wirkt diese Frau. Für das, was ihr widerfährt, hat sie keine Erklärung. Das wird Caparrós' wiederkehrende Erfahrung sein: Hunger ist nicht nur ein Ergebnis von Machtlosigkeit, er verstärkt diese noch und macht die Betroffenen schicksalsergeben, mit Gott als letzter Zuflucht.
Für die aber, die politisch Einfluss nehmen könnten, etwa westliche Medienkonsumenten, sei das Problem zu weit weg: "Die Hungertoten stehen nicht in der Zeitung", klagt Caparrós an, "in der Zeitung steht nur das Ungewöhnliche, das Nichtalltägliche." Der Autor führt den Leser in anschaulichen Reportagen zu vielen Schauplätzen, nach Indien und Bangladesch, nach Madagaskar, in die Vereinigten Staaten, den Sitz der großen Agrarkonzerne und schließlich zurück in sein Heimatland Argentinien, wo Kleinbauern gigantischem agroindustriellen Sojaanbau weichen müssen.
Er zoomt in das Leben der Ärmsten. Was diese erzählen, ist bewegend und lässt den Hunger vom abstrakten Thema von Hilfskampagnen zum nachvollziehbaren Alltagsgefühl werden. Hier liegt die größte Leistung dieses Buchs, und man würde sich wünschen, dass Zeitungen und Magazine sich ein Vorbild daran nehmen und öfter die marginalisierten Menschen zu Wort kommen ließen statt immer nur die Experten aus Entwicklungshilfe oder Ökonomie.
Das Buch will aber mehr. Es geht Caparrós darum, die ökonomischen und politischen Mechanismen freizulegen, die dazu führen, dass Hunger auch in der Welt von heute, die einen nie dagewesenen materiellen Wohlstand kennt und in der ganze Länder eher an zu vielen als an zu wenigen Kalorien leiden, noch immer Alltag ist. Er rechnet mit allen Denkern seit Malthus ab, die Hunger für etwas Unvermeidliches halten. Caparrós beschreibt den modernen Hunger dagegen als fatale, nonchalant tolerierte Nebenwirkung von Kapitalismus: Der Rausch der Automatisierung und Industrialisierung der Nahrungserzeugung mache Landarbeiter zu "Überflüssigen".
An denen sei nur das Land interessant, das sie bisher besessen hätten, Land, das nötig ist, um Grundstoffe für die Erzeugung von Fleisch und Agro-Kraftstoffen zu erzeugen, also von Gütern im Dienst der Reicheren. Er klagt vor allem die großen Investmentbanken an, die Nahrungsspekulation als Profitquelle entdeckt hätten und gezielt für Preisschwankungen sorgten, weil man nur an diesen verdienen könne.
Der systemkritische Ansatz dominiert das Kapitel über Chicago, in dem der Autor sowohl an der weltweit preisbestimmenden Börse für den Futures- und Derivatehandel mit Lebensmitteln und in einer Suppenküche für die Ärmsten recherchiert. Initiativen westlicher Länder, den Hunger zu bekämpfen, stellt Caparrós als gut getarnte Programme dar, um ultrakapitalistische Praktiken auch noch im letzten Winkel des Planeten durchzusetzen. Weltbank-Kampagnen und selbst viele Entwicklungshilfeprojekte dienten nur "neuen Kolonialherren". Doch auch mit alternativen Ansätzen setzt der Autor sich kritisch auseinander: So porträtiert er etwa Vandana Shiva, in der globalisierungskritischen Bewegung eine Ikone des Widerstands gegen Gentechnik und Agrarkonzerne, als Ideologin, die es mit Tatsachen nicht so genau nimmt. Derart eigenständiges Urteilen gehört zu den Stärken dieses Autors, wenngleich er sich einen Gefallen getan hätte, den Faktenreichtum seines Buchs mit einem ausführlichen Quellenapparat zu unterlegen.
Caparrós mischt Reportage mit feuilletonistischen Betrachtungen, thesenstarke Kommentare mit literarischen Einsprengseln. Diese Collagetechnik funktioniert über weite Strecken gut. Manchmal kippt die Erzähltechnik aber um in einen Moralismus, der Autor und Leser eher entfremdet. Anstatt den Leser heranzuführen an das, was er tun und lassen sollte, und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass konkretes Handeln sinnvoll ist, um etwas zum Verschwinden des Hungers beizutragen, überhöht Caparrós die eigene Erzählperspektive und verzwergt den Leser als kleines Rädchen einer gigantischen, nicht besiegbaren kapitalistischen Maschinerie.
"Da ist immer nur die Frage" (nach dem Hunger), schreibt Caparrós. Es sehe so aus, "als wolle sich niemand mit einer Antwort blamieren". Eine solche wagt er leider selbst auch nicht. Zwischen der Mikrowelt der Hungernden und der Makrowelt der Systemfragen findet Caparrós keinen konstruktiven Zugang zum Thema. Stattdessen versteigt er sich zu gewagten Thesen, etwa der, dass der Hunger von einem Tag auf den anderen verschwinden könnte, wenn nur alle fleischessenden Bewohner der westlichen Welt nicht mehr existierten, oder der, dass eine "bewusste und systematische" Massenvernichtung aller Hungernden durch die Reicheren - "nicht so planlos und unkoordiniert wie heute" - in naher Zukunft durchaus denkbar sei. Derartiger Radikalismus führt ins Nirgendwo. Nötig wäre ein Radikalismus konkreter Lösungen gewesen.
Nur auf wenigen Seiten finden sich konkrete Ideen wie jene, dass die Landwirtschaftsministerien selbst neues, frei verfügbares Saatgut erzeugen und damit Agrarkonzernen wie Monsanto Konkurrenz machen sollten. Trotz dieser Schwäche ist das Buch lesenswert - weil es den Betroffenen eine Stimme gibt und es dem Autor gelingt, eine schreckliche globale Normalität als Skandal erscheinen zu lassen.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Martín Caparrós: "Der Hunger".
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 844 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Christian Schwägerl ist nicht unbedingt ein Freund der Kapitalismuskritik, die Martin Caparros in seinem großen Report über den Hunger bedient, ohne an Moralismus zu sparen, doch kann er dem Buch auch viel Positives abgewinnen. Auf über 800 Seiten widmet sich der argentinische Schriftsteller seinem Thema, reist durch Niger, Indien und Bangladesch und zoomt sich regelrecht in das Leben der Allerärmsten hinein oder hinauf zum Future- und Derivatehandel an der Chicagoer Lebensmittelbörse. In den anschaulichen Passagen sieht der Rezensent das größte Verdienst des Buches, hier komme Caparros seinem Ziel nahe, die Normalität des Hungers als "größten Skandal unserer Zeit" ans Licht zu holen. Doch wenn Caparros systemkritisch wird, steigt Schwägerl aus, vor allem wenn ihm statt konkreter Lösungen nur verbaler Radikalismus geboten wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Beeindruckend, verstörend, faszinierend."
La Vanguardia
La Vanguardia
»Martin Caparrós gelingt es, über das Thema zu schreiben - nicht indem er es be-schreibt, sondern indem er den betroffenen Menschen eine Stimme gibt.« Ina Boesch NZZ am Sonntag 20160131