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Die Etablierung des Gesundheitswesens und die damit verbundene Umstellung von traditionalen auf naturwissenschaftliche Krankheitskonzepte verlangten der Bevölkerung des ausgehenden Zarenreichs eine Anpassungsleistung ab, die für die muslimische Minderheit einen weiteren Schauplatz im Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Akkulturation aufmachte. Die Fragestellung, wie sich Wolgatataren und Baschkiren mit der Medikalisierung in den Gouvernements Ufa und Kasan arrangiert haben, soll jedoch nicht einfach die Täter-Opfer-Dichotomie von Medikalisierungs- und Kolonialismustheorien fortschreiben…mehr

Produktbeschreibung
Die Etablierung des Gesundheitswesens und die damit verbundene Umstellung von traditionalen auf naturwissenschaftliche Krankheitskonzepte verlangten der Bevölkerung des ausgehenden Zarenreichs eine Anpassungsleistung ab, die für die muslimische Minderheit einen weiteren Schauplatz im Konflikt zwischen Selbstbehauptung und Akkulturation aufmachte. Die Fragestellung, wie sich Wolgatataren und Baschkiren mit der Medikalisierung in den Gouvernements Ufa und Kasan arrangiert haben, soll jedoch nicht einfach die Täter-Opfer-Dichotomie von Medikalisierungs- und Kolonialismustheorien fortschreiben oder die Muslime einmal mehr vor die Weggabelung Anpassung - Abschottung stellen. Vielmehr liegt der Fokus auf ihrem kreativen Umgang mit dem Neuen.
Zunächst wird anhand von Daten der Gesundheitsbehörden dargestellt, wie die Medikalisierung in der Region vonstattenging, auf welche Nachfrage das medikale Angebot stieß und wie es mit der Ausbildung muslimischer Ärzte und Ärztinnen bestellt war. Dabei erweist sich die Gegenüberstellung von Wolgatataren und Baschkiren als hilfreich, denn sie bricht die Einheit "der" Muslime auf und eröffnet Einsichten in die ungleiche Gesundheitspolitik der Behörden gegenüber den beiden Ethnien. Diese wirkte sich auf die Akzeptanz der Medizin höchst unterschiedlich aus und lässt die Klagen der Landärzte über die mangelnde Compliance der muslimischen Bevölkerung in einem anderen Licht erscheinen. Die Krankenstatistiken gewähren dabei Einblick in die Verbreitung von Skorbut als Symptom für die tiefgreifende Verarmung der baschkirischen und tatarischen Landbevölkerung.
Der zweite Teil analysiert gesundheitsrelevante Texte, die sich an muslimische Leser richten. Sie bringen die Vielstimmigkeit der Autoren von Gesundheitsthemen über die theologische Auseinandersetzung mit der medizinischen Forschung bis hin zur Diskussion umstrittener Gesundheitsmaßnahmen wie der Hagg-Quarantäne zum Ausdruck. Wenn Zivilisationskrankheiten wie Neurastheniedabei wesentlich mehr Raum einnehmen als der Skorbut, belegt dies die Kluft der Autoren zur Lebenswelt derer, die sie zu gesundheitsadäquatem Verhalten erziehen wollten, sowie ihre Orientierung an westeuropäischen Diskursen. Hier wie dort tritt die Moderne einerseits als Heilsbringerin in Erscheinung und andererseits als degenerative Gefährderin der Spezies Mensch. Das Charakteristische der russlandmuslimischen Texte besteht in der Verbindung von naturwissenschaftlichen Argumenten mit Versatzstücken aus der Prophetenmedizin zu einer naturwissenschaftlich-religiösen Allianz. Diese Allianz ebnete zum einen der Medikalisierung den Weg und diente zum anderen der Konsolidierung eines modernen islamischen Selbstbewusstseins. Wie dazu die Hygiene beitrug, liegt im Augenmerk der Untersuchung.

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Autorenporträt
Dorothea Biersack (1976) studierte in Tübingen, Baku und Bonn Osteuropäische Geschichte, Islamwissenschaft und Turkologie. Die vorliegende Dissertation hat sie am Zentralasien-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt.