Es war vermutlich Aristoteles, der als Erster einen dem Menschen eigentümlichen Sinn entdeckte: den Sinn wahrzunehmen, dass man wahrnimmt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch nun dessen Archäologie: In 25 Kapiteln zeichnet er die verschlungen Wege dieses besonderen Sinns bei Denkern vom antiken Griechenland bis zum 20. Jahrhundert und in Disziplinen von der Philosophie über Psychologie und Literatur bis zu medizinischen Abhandlungen nach. »Der innere Sinn« ist eine originelle, elegante und weitreichende philosophische Untersuchung der Frage, was es bedeutet, dass man sich lebendig fühlt.
»Daniel Heller-Roazens Archäologie eines Gefühls wirft ein völlig neues Licht auf eine Reihe von wesentlichen Momenten in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften. Doch noch wesentlicher für diese außergewöhnliche Arbeit ist, dass sie ein faszinierendes Forschungsfeld entdeckt, das von allergrößte Bedeutung für das zeitgenössische Denken ist: des Gefühls, durchdas wir - vor oder jenseits des Bewusstseins - fühlen, dass wir existieren.«
Giorgio Agamben
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
»Daniel Heller-Roazens Archäologie eines Gefühls wirft ein völlig neues Licht auf eine Reihe von wesentlichen Momenten in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften. Doch noch wesentlicher für diese außergewöhnliche Arbeit ist, dass sie ein faszinierendes Forschungsfeld entdeckt, das von allergrößte Bedeutung für das zeitgenössische Denken ist: des Gefühls, durchdas wir - vor oder jenseits des Bewusstseins - fühlen, dass wir existieren.«
Giorgio Agamben
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den Autor bezeichnet Markus Wild als klugen Stilisten und belesenen philosophischen Kopf. Gute Voraussetzungen, um dem inneren Sinn, dem Gefühl des Daseins nachzuspüren, findet Wild. Daniel Heller-Roazen macht das, den Leser fordernd, ausgehend von Aristoteles und in Form eines Streifzugs durch die Ideengeschichte, durch Stoa, Tausendundeine Nacht, Leibniz, Rousseau. So weit, so gut, meint der Rezensent. Was ihm am Ende jedoch fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem Bewusstseinsbegriff, diese Chance, erklärt Wild, lasse sich der Autor entgehen und damit die Möglichkeit, dem Leser ein wirklich weites Feld zu eröffnen, eines, das über anticartesianische Muster hinausgeht. In seinen Grenzen hält Wild das Buch aber dennoch für anregend und angenehm an unseren Daseinssinn rührend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012Zart ist das Fleisch und sehr gebrechlich der Gedanke
Zuletzt bloß ein Schnörkel: Daniel Heller-Roazen arrangiert die philosophische Tradition, um uns zwischen Denken und Empfinden nicht länger wählen zu lassen.
Von Jürgen Kaube
Daniel Heller-Roazen versucht ein Problem zu lösen. Für einen Literaturwissenschaftler ist das ein erfreuliches Motiv, sich mit überlieferten Texten zu befassen, nämlich nicht einfach nur weil sie da sind oder weil er sie für bedeutend hält. Wodurch, so lautet sein Problem, wissen wir, dass wir empfinden? Für einen Literaturwissenschaftler ist das eine sehr ungewöhnliche Frage. Philosophen haben sie behandelt, Entwicklungspsychologen, auch Neurophysiologen.
Doch über welche Mittel sollte die Philologie oder die Hermeneutik gebieten, um herauszufinden, worin die Einheit der Sinneswahrnehmung besteht oder ob es unterhalb des Bewusstseins ein Vermögen gibt, seiner selbst gewahr zu werden? Heller-Roazen schlägt selbst die naheliegende Antwort aus, dass Literatur die Empfindung anspricht, Emotionen auslöst, Lesen ein Akt der Wahrnehmung ist. Für ihn spielt nicht einmal Literatur, die Emotionen thematisiert, eine Rolle. Vier, fünf Hinweise auf E. T. A. Hoffmann, Kafka und Proust, das ist schon die ganze Rolle, die Dichtung in dieser Studie spielt.
Der Weg, den der Autor einschlägt, führt vielmehr zu Aristoteles. Was ihn an der von diesem Philosophen ausgehenden Denktradition fasziniert, ist der Versuch, jene Einheit der Empfindung, jenes Seiner-selbst-gewahr-Sein ohne einen Begriff von Bewusstsein zu formulieren, die Vertrautheit mit sich also nicht als Erkenntnis zu verstehen. Stattdessen leitet der Begriff der "aisthesis" die Untersuchung. Es gibt, sagt Aristoteles, fünf Sinne, mehr nicht. Allerdings sei der Tastsinn ein besonderer, weil letztlich alles Wahrnehmen als ein Ertasten spezifischer Qualitäten durch Organe, gewissermaßen Fühler, beschrieben werden kann; aber nicht das Sehen beispielsweise als Schmecken. Außerdem folgt das Tasten für Aristoteles keiner klaren Unterscheidung wie hell/dunkel, laut/leise oder bitter/süß, sondern ist für mehrere empfänglich: warm/kalt, trocken/feucht, rauh/glatt.
Schon an dieser Stelle folgt Heller-Roazen dem Klassiker recht treuherzig. Denn das Auge unterscheidet wohl auch farbig/unfarbig oder rund/eckig, die Ohren hoch/tief oder lang/kurz. Oder genauer: In der Wahrnehmung kommen Kategorien zum Einsatz, die sich der Wahrnehmung allein nicht entnehmen lassen, sondern von Sprache abhängen, von einsozialisierten Vokabularen, vielleicht auch von universalgrammatischen Strukturen oder dem, was Kant "Kategorien" und "Verstandesbegriffe" genannt hätte. Endlos beispielsweise ist die Debatte über die Grundlagen der Farbwahrnehmung.
Heller-Roazen aber tritt gewissermaßen unbewaffneten Verstandes an die alten Texte heran und erörtert darum auch nicht, welche optischen, akustischen oder biologischen Vorstellungen die Antike und später auch das Mittelalter pflegten. Er unterstellt vielmehr, man habe damals im Großen und Ganzen dasselbe über Auge und Ohr und Haut gewusst wie heute. Ums Heute kümmert er sich dabei aber auch nicht weiter, obschon es ja naheläge, einfach bei Sinnesphysiologen nachzufragen, wie der Gesichtssinn unterscheidet. Was sagt Aristoteles mit Bezug aufs Auge, was sich bei den Forschern nicht findet? Die Antwort ist leider trivial: Man kann sich am "humanities departement" von Princeton legitimerweise mit Aristoteles, aber nicht mit Sehzäpfchen beschäftigen. Das ist aber ein bisschen so, als müsse jemand durch Platon- oder Rousseau-Lektüre herausfinden, ob die EU ein Demokratiedefizit hat.
Hinzu kommt eine zweite Merkwürdigkeit. Aristoteles fragt sich, wie "gemeinsame Sinnesqualitäten", also Bewegung, Gestalt, Größe und die Anzahl von etwas, wahrgenommen werden? Aber spricht er beispielsweise die Zahl nicht nur deshalb als "gemeinsame Sinnesqualität" an, zu der dann erstaunlicherweise das Zählorgan fehlt, weil er das mit Kategorien ("Zahl", "Menge") ausgestattete Denken nicht als ein solches Organ behandelt? Und auch sein Problem, mit welchem Vermögen etwas als zugleich hell und süß wahrgenommen wird, verlangt nicht, einen sechsten Sinn der "Zugleichwahrnehmung" aufzufinden. Heller-Roazen aber hält daran fest, den Verzicht auf Bewusstsein, Denken, Urteilen oder Wissen als Erklärungselemente für die Identität von Gegenständen gegenüber ihren Eigenschaften irgendwie interessant zu finden. Das führt zu Sätzen wie dem, es sei, "als sperrte sich die gemeinsame Kraft dagegen, mit einem einzigen Namen angesprochen zu werden". Das mag sein, aber wieso überhaupt vermuten, es handele sich bei jener Kraft um ein Empfindungsvermögen. Werden Zahlen empfunden?
Der Grund, aus dem Heller-Roazen am aristotelischen "Verzicht" auf eine kognitive Problemlösung interessiert ist, liegt in einem Misstrauen gegenüber der neuzeitlichen Philosophie. "Und wenn das Bewusstsein doch eine Unterart von Berührung und Kontakt wäre?", fragt er und schlägt vor, das "Cogito ergo sum" durch ein "Sentio ergo sum", "Ich empfinde, also bin ich", zu ersetzen. Man könne Existenz auch fühlen. Recht wohl, aber bei Descartes ging es nicht um irgendeine, sondern um gewisse Existenz. Soll man der Katze, ach was, dem Wechseltierchen Reflexion (senti-o) zumuten? Oder im Vokabular der spätantiken Kommentatoren: Ist die "synaisthesis", die dafür sorgt, dass wir nicht nur sehen, sondern auch wahrnehmen, dass wir sehen, nicht doch das "Ich, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können"?
Es besteht gar kein Zwang, hier einer der vielen erkenntnistheoretischen Positionen recht zu geben. Aber für den Leser ist es doch etwas misslich, dass der Autor auf diese bloße Vermutung, die Neuzeit irre und in der Bewusstseinstheorie seit Descartes und Kant sei irgendwie der Wurm drin, seine Darstellung aufbaut. Sie soll ausreichen, ihm zweihundert Seiten lang vertrauensvoll durch Texte zu folgen, in denen Aristoteles über schlafende Tiere nachdenkt, Priscian von Lydien eine Wahrnehmung vermutet, die noch aktiv ist, wenn gar nichts wahrgenommen wird, und Chrysipp sich über die Symbiose von Schalentieren äußert.
Gewiss, das Motiv der Selbsterhaltung, das die Stoa an solchen Lebewesen exemplifizierte, hängt mit Heller-Roazens Problem dadurch zusammen, dass man gern erführe, was für ein Selbst sich da erhält. Gewiss auch, dass es nicht das Selbst des Selbstbewusstseins sein kann, wenn auch Steckmuscheln sich zu erhalten suchen. Aber möchte der Literaturwissenschaftler das betreffende Geschehen bei den Muscheln wirklich ohne Evolutionstheorie und Genetik klären? Zwei von fünfundzwanzig Kapiteln des Buches behandeln Forschung, solche aus dem neunzehnten Jahrhundert zu Phantomschmerzen und psychiatrische über "Depersonalisation" aus der ersten Hälfte des zwanzigsten.
Hierin liegt aber immerhin eine Antwort auf die Frage nach der Zuständigkeit des Hermeneuten: Er wendet sich der Philosophie als einer Art Literatur zu, der gegenüber es gleichgültig ist, dass es zu ihren Motiven auch Forschung gibt. Auf diese Weise könnte man auch die Befruchtungslehre des Thomas von Aquin oder die Staatstheorie Hegels als anregende Erzählung über denkbare Welten lesen. Die Frage, ob es stimmt, muss dabei selbstverständlich eingeklammert werden. Kollegen Heller-Roazens praktizieren das ganz ähnlich, sein Lehrer Giorgio Agamben etwa entwickelt Bürokratietheorien aus scholastischen Texten über Engel, Judith Butler hat herausgefunden, dass das Geschlecht nichts als ein "Diskurs" ist, und zwar ein verordneter, wieder andere Literaturwissenschaftler denken sich die Wirtschaft anhand von Metaphern aus, die Wirtschaftswissenschaftler benutzen.
Das alles ist nicht ohne Ertrag. Auch die Forschung enthält Unschärfen, Undurchdachtes, Metaphern und Paradoxien. Mitunter, man denke an die Volkswirtschaftslehre, macht sie sogar einen ziemlich schlichten Eindruck. Und selbstverständlich enthalten umgekehrt die philosophische wie literarische Tradition Einsichten und Einreden gegen allzu glatte Deduktionen aus den Welten disziplinärer Erkenntnis. Dass "die Seele immer denkt", wie Leibniz formulierte, um auch für den Schlaf "kleinste" Wahrnehmungen zu postulieren - doch weshalb sagte er dann "denkt"? -, ist eine ebenso poetische Vorstellung, wie Leibnizens Argumente gegen Descartes einleuchten. Das berühmteste Diktum von Leibniz, es sei nichts im Verstand, was zuvor nicht in den Sinnen gewesen wäre, außer dem Verstand selbst, muss Heller-Roazen aber weglassen, denn es macht Leibniz von seinem Kronzeugen zu einem der Gegenpartei.
Doch wie immer es um solche Zeugen bestellt sein mag: Ob Schlaf ein Beispiel für eingeschränkte Wahrnehmung oder für eingeschränktes Bewusstsein ist, was Phantomschmerzen sind und was Synästhesien, dem allem kommt man keinen Schritt näher, wenn poetische Rätselhaftigkeit nicht mehr als Leerstelle der Forschung, sondern als befriedigendes Ergebnis behandelt wird. Denn was liefert nach vierhundert Seiten die Suche nach der Einheit der Wahrnehmung? "Unser Sein ist das gemeinsame Element, zu dem sowohl Perzeption wie Intellektion letztlich führen. Element, doch nicht Objekt: denn weder das Vermögen der Wahrnehmung noch das Denken können die Tatsache, ,dass wir sind' (nos esse), als ein Ding unter anderen erfassen. Diese Tatsache ist unberührbar, obgleich kein ,Transzendentes', sie wird im Bereich von ,Wahrnehmung oder Denken', das sie ermöglicht, fortwährend berührt."
Man muss kein Reduktionist mit der Seelenenge einer Steckmuschel sein, um das - unser Sein ein unberührbares Element, das fortwährend berührt wird - einfach für wolkig, um nicht zu sagen: philosophischen Kitsch zu halten. Wenn Heller-Roazen mit den Worten schließt, nur jenes Unberührbare, also unser Sein, könne mit Lust berührt werden und solche Freude sei nur "Wesen von zartem Fleisch vorbehalten", dann mag das auf internationalen Konferenzen als Einladung zum Seitensprung funktionieren. Die Passion der Literaturwissenschaft für die Philosophie aber wird hier nicht erwidert. Vielleicht ist ihr Gelingen Wesen mit kognitiven Absichten vorbehalten.
Daniel Heller-Roazen: "Der innere Sinn".
Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 512 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zuletzt bloß ein Schnörkel: Daniel Heller-Roazen arrangiert die philosophische Tradition, um uns zwischen Denken und Empfinden nicht länger wählen zu lassen.
Von Jürgen Kaube
Daniel Heller-Roazen versucht ein Problem zu lösen. Für einen Literaturwissenschaftler ist das ein erfreuliches Motiv, sich mit überlieferten Texten zu befassen, nämlich nicht einfach nur weil sie da sind oder weil er sie für bedeutend hält. Wodurch, so lautet sein Problem, wissen wir, dass wir empfinden? Für einen Literaturwissenschaftler ist das eine sehr ungewöhnliche Frage. Philosophen haben sie behandelt, Entwicklungspsychologen, auch Neurophysiologen.
Doch über welche Mittel sollte die Philologie oder die Hermeneutik gebieten, um herauszufinden, worin die Einheit der Sinneswahrnehmung besteht oder ob es unterhalb des Bewusstseins ein Vermögen gibt, seiner selbst gewahr zu werden? Heller-Roazen schlägt selbst die naheliegende Antwort aus, dass Literatur die Empfindung anspricht, Emotionen auslöst, Lesen ein Akt der Wahrnehmung ist. Für ihn spielt nicht einmal Literatur, die Emotionen thematisiert, eine Rolle. Vier, fünf Hinweise auf E. T. A. Hoffmann, Kafka und Proust, das ist schon die ganze Rolle, die Dichtung in dieser Studie spielt.
Der Weg, den der Autor einschlägt, führt vielmehr zu Aristoteles. Was ihn an der von diesem Philosophen ausgehenden Denktradition fasziniert, ist der Versuch, jene Einheit der Empfindung, jenes Seiner-selbst-gewahr-Sein ohne einen Begriff von Bewusstsein zu formulieren, die Vertrautheit mit sich also nicht als Erkenntnis zu verstehen. Stattdessen leitet der Begriff der "aisthesis" die Untersuchung. Es gibt, sagt Aristoteles, fünf Sinne, mehr nicht. Allerdings sei der Tastsinn ein besonderer, weil letztlich alles Wahrnehmen als ein Ertasten spezifischer Qualitäten durch Organe, gewissermaßen Fühler, beschrieben werden kann; aber nicht das Sehen beispielsweise als Schmecken. Außerdem folgt das Tasten für Aristoteles keiner klaren Unterscheidung wie hell/dunkel, laut/leise oder bitter/süß, sondern ist für mehrere empfänglich: warm/kalt, trocken/feucht, rauh/glatt.
Schon an dieser Stelle folgt Heller-Roazen dem Klassiker recht treuherzig. Denn das Auge unterscheidet wohl auch farbig/unfarbig oder rund/eckig, die Ohren hoch/tief oder lang/kurz. Oder genauer: In der Wahrnehmung kommen Kategorien zum Einsatz, die sich der Wahrnehmung allein nicht entnehmen lassen, sondern von Sprache abhängen, von einsozialisierten Vokabularen, vielleicht auch von universalgrammatischen Strukturen oder dem, was Kant "Kategorien" und "Verstandesbegriffe" genannt hätte. Endlos beispielsweise ist die Debatte über die Grundlagen der Farbwahrnehmung.
Heller-Roazen aber tritt gewissermaßen unbewaffneten Verstandes an die alten Texte heran und erörtert darum auch nicht, welche optischen, akustischen oder biologischen Vorstellungen die Antike und später auch das Mittelalter pflegten. Er unterstellt vielmehr, man habe damals im Großen und Ganzen dasselbe über Auge und Ohr und Haut gewusst wie heute. Ums Heute kümmert er sich dabei aber auch nicht weiter, obschon es ja naheläge, einfach bei Sinnesphysiologen nachzufragen, wie der Gesichtssinn unterscheidet. Was sagt Aristoteles mit Bezug aufs Auge, was sich bei den Forschern nicht findet? Die Antwort ist leider trivial: Man kann sich am "humanities departement" von Princeton legitimerweise mit Aristoteles, aber nicht mit Sehzäpfchen beschäftigen. Das ist aber ein bisschen so, als müsse jemand durch Platon- oder Rousseau-Lektüre herausfinden, ob die EU ein Demokratiedefizit hat.
Hinzu kommt eine zweite Merkwürdigkeit. Aristoteles fragt sich, wie "gemeinsame Sinnesqualitäten", also Bewegung, Gestalt, Größe und die Anzahl von etwas, wahrgenommen werden? Aber spricht er beispielsweise die Zahl nicht nur deshalb als "gemeinsame Sinnesqualität" an, zu der dann erstaunlicherweise das Zählorgan fehlt, weil er das mit Kategorien ("Zahl", "Menge") ausgestattete Denken nicht als ein solches Organ behandelt? Und auch sein Problem, mit welchem Vermögen etwas als zugleich hell und süß wahrgenommen wird, verlangt nicht, einen sechsten Sinn der "Zugleichwahrnehmung" aufzufinden. Heller-Roazen aber hält daran fest, den Verzicht auf Bewusstsein, Denken, Urteilen oder Wissen als Erklärungselemente für die Identität von Gegenständen gegenüber ihren Eigenschaften irgendwie interessant zu finden. Das führt zu Sätzen wie dem, es sei, "als sperrte sich die gemeinsame Kraft dagegen, mit einem einzigen Namen angesprochen zu werden". Das mag sein, aber wieso überhaupt vermuten, es handele sich bei jener Kraft um ein Empfindungsvermögen. Werden Zahlen empfunden?
Der Grund, aus dem Heller-Roazen am aristotelischen "Verzicht" auf eine kognitive Problemlösung interessiert ist, liegt in einem Misstrauen gegenüber der neuzeitlichen Philosophie. "Und wenn das Bewusstsein doch eine Unterart von Berührung und Kontakt wäre?", fragt er und schlägt vor, das "Cogito ergo sum" durch ein "Sentio ergo sum", "Ich empfinde, also bin ich", zu ersetzen. Man könne Existenz auch fühlen. Recht wohl, aber bei Descartes ging es nicht um irgendeine, sondern um gewisse Existenz. Soll man der Katze, ach was, dem Wechseltierchen Reflexion (senti-o) zumuten? Oder im Vokabular der spätantiken Kommentatoren: Ist die "synaisthesis", die dafür sorgt, dass wir nicht nur sehen, sondern auch wahrnehmen, dass wir sehen, nicht doch das "Ich, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können"?
Es besteht gar kein Zwang, hier einer der vielen erkenntnistheoretischen Positionen recht zu geben. Aber für den Leser ist es doch etwas misslich, dass der Autor auf diese bloße Vermutung, die Neuzeit irre und in der Bewusstseinstheorie seit Descartes und Kant sei irgendwie der Wurm drin, seine Darstellung aufbaut. Sie soll ausreichen, ihm zweihundert Seiten lang vertrauensvoll durch Texte zu folgen, in denen Aristoteles über schlafende Tiere nachdenkt, Priscian von Lydien eine Wahrnehmung vermutet, die noch aktiv ist, wenn gar nichts wahrgenommen wird, und Chrysipp sich über die Symbiose von Schalentieren äußert.
Gewiss, das Motiv der Selbsterhaltung, das die Stoa an solchen Lebewesen exemplifizierte, hängt mit Heller-Roazens Problem dadurch zusammen, dass man gern erführe, was für ein Selbst sich da erhält. Gewiss auch, dass es nicht das Selbst des Selbstbewusstseins sein kann, wenn auch Steckmuscheln sich zu erhalten suchen. Aber möchte der Literaturwissenschaftler das betreffende Geschehen bei den Muscheln wirklich ohne Evolutionstheorie und Genetik klären? Zwei von fünfundzwanzig Kapiteln des Buches behandeln Forschung, solche aus dem neunzehnten Jahrhundert zu Phantomschmerzen und psychiatrische über "Depersonalisation" aus der ersten Hälfte des zwanzigsten.
Hierin liegt aber immerhin eine Antwort auf die Frage nach der Zuständigkeit des Hermeneuten: Er wendet sich der Philosophie als einer Art Literatur zu, der gegenüber es gleichgültig ist, dass es zu ihren Motiven auch Forschung gibt. Auf diese Weise könnte man auch die Befruchtungslehre des Thomas von Aquin oder die Staatstheorie Hegels als anregende Erzählung über denkbare Welten lesen. Die Frage, ob es stimmt, muss dabei selbstverständlich eingeklammert werden. Kollegen Heller-Roazens praktizieren das ganz ähnlich, sein Lehrer Giorgio Agamben etwa entwickelt Bürokratietheorien aus scholastischen Texten über Engel, Judith Butler hat herausgefunden, dass das Geschlecht nichts als ein "Diskurs" ist, und zwar ein verordneter, wieder andere Literaturwissenschaftler denken sich die Wirtschaft anhand von Metaphern aus, die Wirtschaftswissenschaftler benutzen.
Das alles ist nicht ohne Ertrag. Auch die Forschung enthält Unschärfen, Undurchdachtes, Metaphern und Paradoxien. Mitunter, man denke an die Volkswirtschaftslehre, macht sie sogar einen ziemlich schlichten Eindruck. Und selbstverständlich enthalten umgekehrt die philosophische wie literarische Tradition Einsichten und Einreden gegen allzu glatte Deduktionen aus den Welten disziplinärer Erkenntnis. Dass "die Seele immer denkt", wie Leibniz formulierte, um auch für den Schlaf "kleinste" Wahrnehmungen zu postulieren - doch weshalb sagte er dann "denkt"? -, ist eine ebenso poetische Vorstellung, wie Leibnizens Argumente gegen Descartes einleuchten. Das berühmteste Diktum von Leibniz, es sei nichts im Verstand, was zuvor nicht in den Sinnen gewesen wäre, außer dem Verstand selbst, muss Heller-Roazen aber weglassen, denn es macht Leibniz von seinem Kronzeugen zu einem der Gegenpartei.
Doch wie immer es um solche Zeugen bestellt sein mag: Ob Schlaf ein Beispiel für eingeschränkte Wahrnehmung oder für eingeschränktes Bewusstsein ist, was Phantomschmerzen sind und was Synästhesien, dem allem kommt man keinen Schritt näher, wenn poetische Rätselhaftigkeit nicht mehr als Leerstelle der Forschung, sondern als befriedigendes Ergebnis behandelt wird. Denn was liefert nach vierhundert Seiten die Suche nach der Einheit der Wahrnehmung? "Unser Sein ist das gemeinsame Element, zu dem sowohl Perzeption wie Intellektion letztlich führen. Element, doch nicht Objekt: denn weder das Vermögen der Wahrnehmung noch das Denken können die Tatsache, ,dass wir sind' (nos esse), als ein Ding unter anderen erfassen. Diese Tatsache ist unberührbar, obgleich kein ,Transzendentes', sie wird im Bereich von ,Wahrnehmung oder Denken', das sie ermöglicht, fortwährend berührt."
Man muss kein Reduktionist mit der Seelenenge einer Steckmuschel sein, um das - unser Sein ein unberührbares Element, das fortwährend berührt wird - einfach für wolkig, um nicht zu sagen: philosophischen Kitsch zu halten. Wenn Heller-Roazen mit den Worten schließt, nur jenes Unberührbare, also unser Sein, könne mit Lust berührt werden und solche Freude sei nur "Wesen von zartem Fleisch vorbehalten", dann mag das auf internationalen Konferenzen als Einladung zum Seitensprung funktionieren. Die Passion der Literaturwissenschaft für die Philosophie aber wird hier nicht erwidert. Vielleicht ist ihr Gelingen Wesen mit kognitiven Absichten vorbehalten.
Daniel Heller-Roazen: "Der innere Sinn".
Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 512 S., geb., 24,99 [Euro].
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Heller-Roazen besitzt eine Gelehrsamkeit, welche es mit den Heroen der Geisteswissenschaft, mit [...] Bloch und Michel Foucault, aufnehmen kann und diese manchmal sogar, fast leichtfüßig, überbietet. Hans Ulrich Gumbrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung